Ein gelöster Fall

Schauplatztour Die Auflösung der Fiktion in Realität und Wissen oder: Bundesrepublikanische Erinnerungspolitik auf dem 2. Kommissar-Fan-Treffen in München

Letzten Freitag, abends, Münchner Westend, Gollierplatz, eine Gruppe von fast 50 Menschen. „Und der nächste Schauplatz ist schon da vorne, das ist die Kneipe ‚Alfred Kurre‘. Bekannt zum Beispiel aus der Folge Messer im Rücken. Das ist diese Kneipe hier. Die haben wir mehrfach gesehen. In welchen Folgen noch, Herr Koch?“ – „Der Tod der Karin W., Innenaufnahmen bei der Folge Ratten der Großstadt“. – „Auch Außenaufnahmen. Die Szene fängt an mit der Musik, dann kommt der Schriftzug ‚Der Kommissar‘, und die Kamera schwenkt rum.“ – „Ach ja, Du hast recht.“ – „Ja, das weiß ich, dass ich recht habe.“

Auf einen Uneingeweihten muss die Gruppe der Menschen und ihr Treiben befremdlich wirken. Und der Hinweis, dass es sich um das 2. „Kommissar“-Fan-Treffen handelt, hilft dem Uneingeweihten kaum weiter. Der Kommissar war die „erste deutsche Krimiserie“ (Gerald Grote), zwischen 1969 und 1976 wurden 97 Folgen für das ZDF gedreht. Verantwortlich zeichnete die Neue Münchner Filmproduktion von Helmut Ringelmann, die Drehbücher schrieb Herbert Reinecker, einst Hauptschriftleiter der Hitler-Jugend-Zeitung, der vor allem als Autor des Kommissar-Nachfolgers Derrick Bekanntheit erlangte. Den Kommissar, den seine drei unselbständigen und manchmal etwas ungeschickten Assistenten Robert (Reinhard Glemnitz), Walter (Günther Schramm) und Harry (Fritz Wepper, der in dieser Rolle zu Derrick wechselte und in den letzten Folgen von seinem Bruder Elmar ersetzt wurde) zeitgemäß den „Chef“ nannten, spielte Erik Ode.

Diese Besetzung ist eine Erklärung für die Popularität der Serie bis heute. Ode legte seine Rolle in den von reaktionärer Moral vergifteten Reinecker-Büchern weitaus spielerischer und ironischer an, als das etwa der Derrick-Darsteller Horst Tappert tat, mit dem die Kommissar-Fans zumeist wenig anfangen können – zu unhöflich, zu kühl. Die andere Erklärung für die Beliebtheit des Kommissar ist seine Komplexität: In der Serie bündeln sich teils widerstrebende ästhetische Programme – Herbert Reinecker trifft Donna Hightower –, was zum einen mediale und zum anderen geschichtliche Gründe hat. Der Kommissar war Fernsehen vor der Fragmentierung in Zielgruppen. Und Der Kommissar spielt am Epochenbruch von 1968, er bildet die wenn auch konservative Begleiterzählung zum Modernisierungsschub, der mit sozial-liberalen Koalition Willy Brandts in der Bundesrepublik manifest wurde.

So kommen in der Serie, mitunter widerwillig, die Strömungen einer Zeit zusammen, die man dem klaren Schwarz-Weiß (das Farbfernsehen war bereits erfunden) auf den ersten Blick nicht ansieht: Reineckers reaktionäre Ideologie wird von amerikanischer Popmusik unterlegt, die damals noch kein Musikfernsehen hatte, um populär zu werden; eine als heillos dargestellte Jugend trifft auf die erste Riege von Burgtheater-Schauspielern, die ihre Karrieren noch zur Nazi-Zeit begonnen hatten. Und Randfiguren der deutschen Fernsehgeschichte wie der Tscheche Zbynek Brynych, der vier der herausragenden Kommissar-Folgen inszeniert hat, gingen mit den betulichen Vorlagen sehr frei um.

Ein unscheinbarer Weiher

Das Interessante am Kommissar ist die Politik, die er auf Umwegen betreibt. Aus der Warte eines gehobenen Bürgertums wird der Zerfall bestehender Ordnungen verunsichert zur Kenntnis genommen. Politik ist aber das, was die Fans zuletzt interessiert. Zumindest spielt es beim Treffen keine Rolle. Ein linker, kritischer Aficionado veranschlagt den Großteil seiner Kollegen als konservative Kinder der alten Bundesrepublik. Die Fans sind überwiegend Männer, sie sind überwiegend zwischen 40 und 50 Jahre alt, medienaffin und Computer versiert. Ihre Begeisterung für den Kommissar resultiert nicht selten aus frühen, unscharfen Kindheitsbildern des Aufbleibendürfens beim gruseligen Freitagskrimi, die durch die verdienstvollen Wiederholungen der Serie, die 3sat seit Ende der neunziger Jahre mehrfach unternommen hat, zur Erinnerungsarbeit angespornt worden sind. Monument dieser Bemühungen soll die DVD-Edition der Serie werden, die Universum ab Juni herausgibt.

Diese Erinnerungsarbeit meint nun nicht Kritik, sondern Empirie. Die Fiktion der Serie wird mit wissenschaftlichem Eifer in eine Realität überführt, von der die detaillierte Homepage kommissar-keller.de kündet: Dort werden die Musiktitel aufgeführt, die in jahrelanger Recherche identifiziert und in den Weiten des Internets wiedergefunden wurden, dort findet sich unter „Fuhrpark“ eine Liste, die alle auftauchenden Autotypen versammelt, dort gibt es ein Forum, in dem falsche Autokennzeichen und versteckte Reminiszenzen diskutiert werden. Das Fan-Treffen ist die Bühne dieser Sammelleidenschaft, auf der das erworbene Wissen performativ durchgearbeitet werden kann. Eine ausgedehnte Schauplatztour durch das Münchner Umland am Samstag holt einen von Natur zurückeroberten Tennisplatz am Starnberger See (Folge 50: Der Tennisplatz) zurück in die Gegenwart genauso wie einen unscheinbaren Weiher, an dem Bernd Herzsprung einst aus Griechenland ankam (Folge 53: Mykonos).

Wie bei jeder Schule des Forschens gibt es auch unter Kommissar-Fans ein Zusammenspiel der Nachlassverwalter. Es gibt André, der die Homepage betreibt, es gibt Patrick, Jörg und Roland, die in den letzten acht Jahren und erst mit später Unterstützung durch Google Earth die Schauplätze ausfindig gemacht haben, es gibt Mr. Gore aus dem Forum, der sich bei der Musikrecherche hervorgetan hat und in München leider fehlt. Und es gibt mit Gerald Grote eine Art ersten Exegeten, der in den Zusammenkünften eine Instanz von außen ist, ein heimlicher Star.

Grote hat vor zehn Jahren ein dickes Buch zur Serie geschrieben, das in zwei Auflagen erschienen und heute vergriffen ist. Das Buch, das zahlreiche Teilnehmer trotz seines Umfangs mit sich tragen wie eine Bibel, ist das erste Resultat der Renaissance des Kommissar, Produkt des Wunsches, den Geist der Serie durch Wissensakkumulation weiterzuschreiben. Heute wäre dieses Buch nicht mehr denkbar, weil es im Prinzip ausgedrucktes Internet ist: Seine Funktion hat die Homepage übernommen. Für den Autor Grote, dem laut Selbstauskunft gelegentlich ein „Salto Wortale“ gelingt, ist die Geschichte des Kommissar eine Ansammlung aus Anekdoten, wie sie sich über Herbert Reinecker („der produktivste deutsche Drehbuchautor, der immer Schriftsteller sein wollte“) oder von Helmut Ringelmann („wie ich Curd Jürgens für eine Rolle gewann“) erzählen lassen; auf die Akribie der Realitätserforschung schaut er ein wenig amüsiert.

Das gentrifizierte Westend

Performativ wird das Fantum auf dem Treffen zuerst in der Kommunikation untereinander. Der Kommissar ist die Erzählmaschine, die von allen mühelos bedient werden kann und die es uninteressant macht, woher jemand kommt, was einer gewählt hat oder welchen Beruf er ausübt. Das Reden über die Serie verbindet Menschen, die sich nicht kennen. Es werden Takte von unidentifizierten Schlagzeugsoli angesummt, Schauspielerfilmografien in anderen Serie verfolgt, Kameraeinstellungen rezitiert. Dabei geht es wie bei jeder Form des Nerdismus allein um das Bewegen im Regelsystem, das hier die Fernsehserie bildet: Im Prinzip sind alle Anschlussfehler gefunden, alle Schauplätze entdeckt (bis auf vier beziehungsweise 30, die Angaben schwanken je nach Definition dessen, was als Schauplatz gilt). Alles Wissen über den Kommissar existiert (weswegen auf der Busfahrt auch Abschweifungen möglich sind – die Klinsmann-Villa in Grünwald wird ebenso markiert wie der Ort, an dem Karl Heinz Beckurts von der RAF ermordet wurde). Folglich dient das Treffen nicht der Beantwortung letzter Fragen, sondern der Versicherung der gefundenen Antworten.

Das wird vor allem deutlich beim Gespräch mit den „Schülern“ des Kommissar, als die Zeitzeugen am Samstagabend zur Abschlussveranstaltung ins Hofbräuhaus geladen sind. Michael Verhoeven, der zwei Folgen inszeniert hat, und Harald Vohwinkel, der ehemalige Produktionsleiter, können zwar mit Geschichten über Erik Ode aufwarten. Den Forschungsergebnissen der Fans stehen sie aber ratlos gegenüber: Warum etwa eine Leiche erst auf dem Bauch und in der nächsten Einstellung auf dem Rücken liegt, kann auch Verhoeven nicht erklären. Er kann sich noch nicht einmal an die inkriminierte Stelle erinnern.

In dieser Kluft wird das Projekt der Fans erkennbar: Ihr Wissen über die Serie ist genauer als die Erinnerung der Macher daran. Für die Fans ist Der Kommissar ein Gestern, das es in Gegenwart zu verwandeln gilt. In ihrer Sicht bleibt das mittlerweile gentrifizierte Münchner Westend das Arbeiterviertel, das es vor 40 Jahren war.

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