"Irréversible" ist ein Fatalismus. Ein Wort, das selbst die Arme über dem Kopf zusammen schlägt, weil es seiner Aussage nicht entkommen kann: Unumkehrbar. Mit der Gewalt, mit der das Wort den Blick stur geradeaus richtet, weil es sich über eine Revision alles Geschehenen keine Illusionen macht, beginnt Gaspar Noés Film Irréversible. Zwei Männer dringen in einen zwielichtigen Schwulenclub ein auf der Suche nach einem Schuldigen. Endlos scheint diese Szene, und die Kamera findet keinen Halt zwischen den nackten Körpern und dem hysterischem Geschrei, bis der aufgestaute Hass sich Bahn bricht: Ein Arm wird gebrochen, ein Kopf wird zertrümmert.
Wegen dieser Szene und einer weiteren, in der eine Vergewaltigung in einer Kameraeinstellung gezeigt wird, sorgte Irréversible bei den Filmfestspielen von Cannes im letzten Jahr für großes Aufsehen. Tatsächlich sind die beiden aufregendsten Szenen des Films seine schwächsten Momente, denn hinter der Form der Gewaltdarstellung ist nur ein diffuses Konzept auszumachen, das mit nicht mehr kalkuliert als Schock und Voyeurismus. Am Anfang, der eigentlich das Ende von Irréversible ist, mag die gezeigte Gewalt sich noch auf den Furor herausreden, mit dem der Film seinen Fatalismus bekräftigt. Spätestens bei der Vergewaltigung aber landet Gaspar Noé in der Falle, die der Glauben stellt, die scheinbare Realität sei schockierender als die filmische Fiktion. Das Gegenteil ist der Fall. Je länger man auf die am Boden liegenden Leiber des Vergewaltigers und seines Opfers schaut, desto abstrakter, lächerlicher, banaler wird die Szene. Wie bei einem Techno-Track, der alles Gegenständliche in der Musik durch repetitive Dauer auslöscht, bewirken das rhythmische Zucken, das durchgehende Winseln und die hohlen Selbstbefeuerungsrufe, dass der Blick des Zuschauers auf Brutalität und Leid verschwimmt und nurmehr Formen sieht, wo Personen sind. Der inszenierte Purismus in Irréversible kann so als Argument dienen für Diedrich Diederichsens Bemerkung, dass Gewaltverherrlichung in Filmen schlicht unmöglich sei, weil das Medium immer sublimiert.
Gaspar Noé will sein fatalistisches Menschenbild verzeitlichen. Dazu hat er die Erzählrichtung verkehrt und berichtet vom Ende her, wo das Feuer brennt, dessen Schwelbrand immer schon gelegt ist. Alex (Monica Bellucci) und der zärtliche-grobe Marcus (Vincent Cassel) sind ein Paar, das gemeinsam mit dem verkopften Freund Pierre (Albert Dupontel), der einmal Alex´ Liebhaber war, auf eine Party geht. Von dort entschwindet Alex im Streit in die Hände ihres Peinigers, was Marcus zu seinem besinnungslosen Rachefeldzug treibt.
Noés Konzept des umgekehrten Films scheitert schon daran, dass Irréversible nicht gänzlich rückwärts laufen kann wie eine falsch eingelegte Filmrolle, sondern nach dem Prinzip des Nähens nach links funktioniert: zwei zurück, eins vor. So entwirft der Film zwölf Szenen in umgekehrter Reihenfolge, in der manche Psychologie im Holzschnitt verbleibt. Der Hass des Vergewaltigers auf die Schönheit von Alex etwa kann sich aus der Figur nicht erklären, weil ihr kein Vorleben gestattet ist: Um die Wahrnehmung des Zuschauers nicht zu sehr zu strapazieren, folgt der Film allein seinen Protagonisten in die vergangene Idylle.
Alle Zeichen stehen auf Rückwärts. Der Schwulenclub heißt "Rectum", und ein alter Mann, der im Prolog/Epilog mit "Die Zeit zerstört alles" das Menetekel ausmalt, dessen Erfüllung Irréversible beglaubigt, erinnert sich einzig an seine Tochter, die er vergewaltigt hat. In diesem monströsen Bild wird sichtbar, was der Tenor von Noés Film ist. Der Versuch, die Vergangenheit einzuholen, führt in die Schuld. In der Idylle ist ihre Zerstörung schon vorgezeichnet.
Und hierin liegt das Reizvolle des Films - dass alle nachgereichten Motive im Resultat schon zu erkennen sind, so wie in irréversible das französische Wort für träumen eingeschrieben ist: rêver. Die Träume nämlich sind nichts als die Vorhersagen einer Zukunft, die schon fest steht, hat Alex in einem Buch gelesen. In diesem Bewusstsein ist der Film von doppeldeutiger Sexualität durchzogen. Der Griff, mit dem Marcus seine Liebe in der Metro umklammert, strahlt ebenso Schutz wie Gewalt aus. Das subtile Spiel um sexuelle Dominanz zwischen Alex und Marcus wirkt im Nachhinein wie die Fantasie auf einen Ernstfall. Die Farbe der Ambivalenz ist die des Blutes, das Leben erhält und aus seiner Zerstörung fließt. Sein Ausbleiben verheißt Alex´ Schwangerschaft, sein Auftauchen ihr mögliches Ende. Rot schimmern der Schwulenclub und die Unterführung, in der Alex vergewaltigt wird.
In der kürzesten Rückblende liegt Alex auf ihrem Bett und streichelt ihren Bauch. Über ihr ist ein Poster von Stanley Kubricks Film 2001 angebracht, auf dem das Sternenkind zu sehen ist, das am Ende von Kubricks Entwurf eines negativen Fortschrittsglaubens am Ausgang des "Lichttunnels" erscheint. Es gibt Berichte, nach denen Frauen beim Sehen des "Lichttunnels" von Assoziationen an Geburt sprachen. Vor diesem Hintergrund gewinnt Noés Film an Dimension: Das utopischste Moment bei Kubrick wird in die Gegenständlichkeit herabgeholt, um in einer trostlosen Unterführung beerdigt zu werden.
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