DVD Lange war es schwierig, Zugang zu Filmen des Dokumentarfilmemachers Joris Ivens zu finden. Nun liegt mit "Weltenfilmer. Filme von 1912 bis 1988“ eine Auswahl auf DVD vor
Man kann auf verschiedene Weise einen Eindruck von der Arbeit bekommen, die in der jüngst erschienenen DVD-Box Joris Ivens – Weltenfilmer steckt. Indem man etwa die Angaben über die Herkunft der Archivkopien betrachtet, die für die Digitalisierung benutzt worden sind; indem man den verschiedenen Sprachen lauscht, in denen die Dokumentarfilme gedreht wurden; indem auf die Logos der beteiligten Partner schaut, zu denen neben der in Nimwegen ansässigen Europäischen Stiftung Joris Ivens auch das Dokumentarfilmfest Leipzig gehört, das seine eigene Geschichte mit dem Filmemacher hat, eine Geschichte von Aufs und Abs, die sich in diesem Herbst durch eine Retrospektive zur DVD-Veröffentlichung auf eine versöhnliche Weise geschlossen hat.
Joris Ivens
t.Joris Ivens – Weltenfilmer heißt die DVD-Box, die erstmals das Werk des globalen Dokumentarfilmregisseur zugänglich macht. 15 Stunden Film zeigen die 5 DVDs, inklusive zahlreicher Extras, dazu ein dickes Begleitbuch, in dem André Stufkens, der Direktor der Ivens-Stiftung, Informationen über die Filme, ihre Ästhetik, Kritik zusammengetragen hat. Wenn man bedenkt, dass es bis vor Kurzem von disparaten VHS-Veröffentlichungen abgesehen, nahezu unmöglich war, Spuren von Ivens‘ Werk zu finden, ist die Kollektion nicht hoch genug zu würdigen.Die Box umfasst beileibe nicht alle Filme, die der Regisseur in über 60 Jahren gedreht hat. Aber die Auswahl extrahiert das Wesentliche von Ivens‘ Werk, und es empfiehlt sich gerade, die nach Jahren geordneten Filme chronologisch zu schauen, weil sich dadurch die Bewegung eines Künstlers erschließt, für den Bewegung maßgebliches Kriterium war. Ausgehend von dem legendären Film Regen (1927), der in mehreren Fassungen mit unterschiedlicher Musik (u.a. der von Hanns Eisler) vorliegt, macht man etwa die Beobachtung, wie viele Filme von Ivens auf dem Wasser beginnen.Dabei ist dieses wiederkehrende Bild keineswegs nur Grille eines Regisseurs, der seine Herkunft nicht vergessen will. Das leitmotivische Wasser taugt vielmehr als Beispiel für Ivens’ Universalismus, der gerade durch die Verschiedenheit, in der das scheinbar Immergleiche inszeniert ist, anschaulich wird. In Rotterdam-Europoort (1966) ist das Wasser vor dem Hafen anders als in Regen ökonomisch definiert, wenn bald nach dem Beginn die Raffinerien, die Industrie, die sich an dieser Meeröffnung angesiedelt hat, ins Bild kommt. Und in visionärer Weise auch politisch: Der Rotterdamer Hafen ist für den Film der Ort, an dem Europa beginnt, wie es im Kommentar heißt, was, wenn man bedenkt, was einem heute zu dem Namen des Flusses Maas zuerst einfällt, eine treffende Aussage darstellt. In Der 17. Breitengrad (1968) – Ivens’ kraft der Mitwirkung seiner Frau Marceline Loridan vom Cinema verité beeinflusste Recherche über den Vietnamkrieg aus Sicht der Menschen, gegen die er geführt wird – verläuft durch den Ben-Hai-Fluss, der kein friedliches Gewässer, sondern politische Demarkationslinie, militärische Zone ist.Dass Ivens zuerst als politischer Filmemacher wahrgenommen wurde, ist keine falsche, aber eine verkürzte Annahme. Ivens ist nicht über die Politik zum Film, sondern durch den Film zur Politik gekommen. Im Berlin der zwanziger Jahre hat er, neben den technischen Grundlagen des Filmemachens, wie er in einem Fernsehinterview erklärt, vor allem die widerstreitenden Weltanschauungen kennengelernt: Anarchismus, Kommunismus, Sozialismus, die Vorläufer des Faschismus. Man muss sich den Blick des jungen Ivens darauf vorstellen wie den Blick vom Seine-Kahn auf das vorbeiziehende Paris in Die Seine trifft Paris (1957): als den eines Ausstehenden, der ein totales Bild der städtischen Gesellschaft sucht. Eine Parteinahme als Lagerdenken, die ihm nach dem Zweiten Weltkrieg das Arbeiten in der DDR zunehmend verhagelte, musste dem engagierten Weltenfilmer, der in den dreißiger Jahren aus der Sowjetunion in die Vereinigten Staat ging, um dort unter anderem den leninistischen Film Elektrizität auf dem Lande (1940) zu machen, die Verengung dieses Blicks bedeuten.Politik meint bei Ivens Zivilisation im emphatischen Sinne. Den Anfang bildet die Begeisterung für Technik und Fortschritt, die in frühen Filmen wie Die Brücke (1928), der ihn international bekannt macht, in Kunst übersetzt wird. Vielleicht ist der Schlüsselfilm für Ivens‘ Werk die weniger renommierte Industriereportage Philips Radio (1931): Die Begeisterung für die Modernität der industriellen Massenproduktion ist hier schon an die Hoffnung auf Emanzipation des Menschen durch dieselbe gekoppelt. Die Abläufe in den Fabriken bilden den Auftakt zu der Frage, die ein chinesischer Angestellter in Wie Yü Gung Berge versetzt: Die Apotheke Nr. 3 in Shanghai (1976) später stellen wird: „Für wen arbeiten wir eigentlich?“Von der Fortschrittsgläubigkeit führt Ivens’ Weg zwangsläufig zu den Befreiungsbewegungen der zweiten Jahrhunderthälfte: Es geht um die Verlängerung des Empowerments, den Zusammenhang von Produktions- und Herrschaftsverhältnissen. Technik ist bei Ivens ein Mittel zur Selbstbestimmung: Wer Strommasten errichten kann, wo Meer war (Neue Erde, 1933), muss sich nicht ausbeuten lassen.Vor diesem Hintergrund erkennt man in politischen Filmen wie der berühmten Dokumentation Spanische Erde (1937) über den Spanischen Bürgerkrieg, von der hier auch eine Version mit dem von Orson Welles gesprochenen Kommentar Hemingways vorliegt, genauso wie in dem poetischen Stadtportrait Valparaiso (1963), mit dem Kommentar von Chris Marker, dass es Ivens immer um den sozialen Gegensatz zwischen Peripherie und Zentrum geht.Und man begreift, dass sein frühester Film, der von Kindheitskinobesuchen geprägte und 1912 unter Mitwirkung der Familie entstandene „Indianerfilm“ Der Wigwam, keinen Widerspruch bildet zum Gesamtwerk: Zwar entspricht die Darstellung von bösen Indianern und gemeinen, aber identifikatorischen Weißen der kolonialistischen Erzählung. Aber es geht Ivens um Bewegung, um Vermittlung durch Zivilisation. Die gewalttätige Seite der Naturbeherrschung durch den Menschen wird bei ihm von der steten Frage nach dem Warum begleitet.
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