Frankfurt, oder?

Willkommen in der Wirklichkeit Das deutsche Kino sucht wie Hans-Christian Schmids "Lichter" an der deutsch-polnischen Grenze nach Fragen

Das neue Berlin ist ein Fossil. Das konnte mit aller Deutlichkeit erfahren, wer in diesem Jahr die Berlinale-Nebenreihe Perspektive Deutsches Kino verfolgte. Hier werden Abschlussfilme gezeigt und junge Produktionen, die tendenziell eher unfertig und klein sind als große Würfe. Der auffälligste Beitrag war Martin Gypkens Film Wir, weil er zwischen mehreren interessanten und manchem vielversprechenden Werk hoffnungslos anachronistisch wirkte. Schon der Titel beschreibt präzise, was einen in Wir erwartet - jenes diffuse Lebensgefühl "Prenzlauer Berg", das ernsthaft nur noch Brigitte-Leser in Ostwestfalen zum Staunen bringt: So ist das also mit der Hauptstadt-Jugend. Man kommt aus der Provinz, um in Berliner Altbauwohnungen herumzuhängen, irgendetwas zu studieren und vom ersten eigenen Film zu träumen. Wovon der handeln soll, ist nebensächlich, denn zuerst geht es ja darum, seinen Traum zu leben, und wenn der Traum Film heißt, dann erzählt man einfach von den Belanglosigkeiten, die vom ranzigen WG-Küchentisch fallen: Liebe, Club, und alle sind gut drauf. Was immer die Zukunft des deutschen Kinos sein mag, soviel unreflektiert ausgestellte Selbstbezogenheit ist es mit Sicherheit nicht.

Die Perspektiven des deutschen Films liegen vielmehr jenseits von Berlin. Gleich drei Filme der Reihe wagten den Blick über den hauptstädtischen Tellerrand, wenn auch nicht immer so gelungen wie Norbert Baumgarten in Befreite Zone. Die Geschichte - schwarzer Fußballer schießt den Verein einer trostlosen Lausitzer Kleinstadt ins Pokalfinale - ist verstellt mit den Hürden der political correctness, aber Baumgarten meistert den Parcours mit ungekannter Leichtigkeit. Der Osten wird zum Western-Schauplatz, wo alle Konflikte, private wie gesellschaftliche, in einer Saloon-Schlägerei kulminieren, und das Holzkreuz für den toten Diskobesucher am Alleenrand wirkt als bittersüßer running gag. Der Witz, den Baumgarten den real existierenden Problemen (Arbeitslosigkeit, Ausländerfeindlichkeit, polnische Schwarzarbeiter) entlockt, macht nichts lächerlich, sondern dient als subversives Kontrastmittel.

Milchwald von Christoph Hochhäusler verlagert das Spielfeld des deutschen Films in seiner modernen Hänsel-und-Gretel-Variante endgültig an die deutsch-polnische Grenze. Bei Hochhäusler ist das Wohlstandsgefälle am Ostende der EU nicht Thema, sondern Hintergrund einer Familientragödie, aber gerade daran kann man erkennen, warum sich der dem Ernsthaften zugewandte deutsche Film vermehrt an der deutsch-polnischen Grenze abspielt. Ein Kino, das von wahrhaftigen Konflikten erzählen will, kann es sich schwerlich in den Luftschlössern einer überkommenen Berliner Hipness bequem machen, der das Bewusstsein einer (um)brüchigen Hauptstadt zum Klischee geronnen ist. Vielleicht könnte man die Bewegung, die seit Andreas Dresens Halbe Treppe oder durch die ORB/ZDF-Reihe Ostwind ein Gutteil der Filmproduktion vollzogen hat, als das Prinzip Frankfurt/Oder begreifen. Dahinter verbirgt sich, was Hans-Christian Schmids gerade gestarteter Film Lichter, der Geschichten aus dem Grenzraum erzählt, als Slogan begleitet: Willkommen in der Wirklichkeit.

Der 11. Juli war ein sonniger Freitag. Bei der Stadtverwaltung Frankfurt/Oder zeigte man sich froh darüber, dass das Kino die Grenzstadt neuerdings in die nationale Wahrnehmung rückt. Halbe Treppe sei untrennbar mit der Stadt verbunden, und wenn es auch keine organisierten Führungen gebe, die Touristeninformation erklärt bereitwillig, wo sich der namensstiftende Grill befand und wie man jenen Innenhof im Neubaugebiet Neuberesinchen findet, in dem Axel Prahl und Steffi Kühnert nach ihrem Wellensittich suchten. Gerade sei man dabei, zur Premiere von Lichter eine Vorführung zu organisieren, hieß es auf der Pressestelle der Stadt. Man habe den Film auch schon gesehen, mit Gefallen, aber, so merkte der Mann endlich an, es wäre doch auch wünschenswert, wenn von der Stadt einmal ein anderes Bild, schönere Motive gezeigt würde. Frankfurt/Oder, sagt das Stadtmarketing, sei offen, bunt, freundlich.

Fürwahr. Wenn man an diesem Freitag an der Abfahrt Neuberesinchen vorbei direkt ins Zentrum fuhr, konnte man kaum anders als wohlgelaunt sein. Ein zurückhaltender, transparenter Bau, das Kleist-Forum, versucht den Schmerz des geschlossenen Stadttheaters durch Attraktivität zu bewältigen, die Zuschauerzahlen bei den Gastspielen seien gestiegen, heißt es. Vom Kleist-Forum muss man zwar noch an jenem welkenden Beton-Koloss vorbei, der einst Einkaufszentrum war und wo jener Imbiss stand, der Dresens Film den Namen gab, aber wenn man den Lenné-Park durchschritten hat, beginnt das offizielle Frankfurt/Oder. Bunt, hell, freundlich. An der Oder erstrecken sich frisch sanierte Häuser, den südlichen Teil beherrscht ein Universitätsneubau, in dem sich auch die Mensa befindet. Das Semester geht zu Ende, entspannt sitzen die Studenten auf den Stühlen im Freien, an vielen Tischen spricht man polnisch. Direkt gegenüber liegt auf einer Oderinsel ein neu angelegtes Gartenareal, das wie so vieles in Frankfurt/Oder durch die Namenswahl Europa jenen Assoziationen entkommen will, die sich an die geographische Lage heften: östlichstes Deutschland, Ostgrenze der EU.

Im Europa-Garten stehen Liegestühle bereit, es gibt eine Freilichtbühne, Kunst im Park, Schatten. Eine helle Ruhe, in der nur das Badeverbot im Fluss darin erinnert, dass es an beiden Ufern nicht nur bunt und freundlich zugeht. Man musste an diesem Freitag nicht über die neue Oderbrücke nach Slubice gehen, was einer kleinen Zeitreise gleicht, weil die Neubauten etwas schäbiger wirken, der Busbahnhof zugiger, weil die Baulücken zahlreicher sind und man die Automodelle in den Straßen zuletzt vor zehn Jahren gesehen hat. Und man musste auch nicht in Frankfurter Geschäften gewesen sein, wo meist polnische Frauen hinter der Kasse sitzen. Um zu wissen, dass die Idylle im Europa-Garten etwas Trügerisches hat, reichte es an diesem Freitag die Märkische Oderzeitung aufzuschlagen. Auf der dritten Seite stand ein großer Artikel über den 750. Geburtstag, den Frankfurt/Oder in diesen Tagen beging. Im Lokalteil gratulierte Henry Maske seiner Heimat und wünscht den Oderstädtern, ein wenig bezeichnend, "dass sie Argumente finden, auf sich und ihre Stadt stolz zu sein." Derzeit beträgt in Frankfurt die Arbeitslosigkeit 22 Prozent. "Die neue Chipfabrik muss ein Signal setzen", benennt Maske die Hoffnungen Frankfurts, das sich von dem Milliardenprojekt 1.300 Arbeitsplätze verspricht. Ob es realisiert wird, bleibt offen.

Die Schlagzeile auf Seite eins aber lautete: "19 illegale Einwanderer in verunglücktem Laster". Bei Fürstenwalde war ein Lkw mit Eichen-Rohparkett verunglückt, in dem neun Frauen und zehn Männer aus der Ukraine nach Deutschland geschleust werden sollten. Willkommen in der Wirklichkeit.

Am Anfang von Lichter steigen ukrainische Flüchtlinge in der Dämmerung aus einem Lkw. Der Schleuser versichert, dass sich hinter dem Wald Berlin befände: "Wenn es dunkel wird, geht ihr die Straße runter bis zu den ersten Lichtern." Dieser erste Satz ist eine Art Motto, das subtil die Sehnsucht von Schmids Film formuliert. Lichter scheinen im Traum von hellen, bunten, freundlichen Deutschland, aber das Erwachen, von dem Schmid erzählt, kennt nur unscharfe, milchige Strahler. Der Wald vor Berlin liegt in Polen.

Lichter greift mit seiner episodischen Struktur eine Form auf, die das Kino der neunziger Jahre geprägt hat. Der Film wirkt jedoch nicht epigonal, weil sich Schmid den Maßgaben des zum Panorama gerundeten Personen-Proporzes verweigert. Seine Geschichten sind lose verbunden, manche findet ihr Ende lange vor dem Schluss des Films, andere setzen erst in der Mitte ein, ein Puzzle, das nicht aufgehen will.

"Die fahren einfach so nach Berlin, die haben Glück", schauen die Flüchtlinge im Wald sehnsüchtig auf die Straße. Wenig später sitzt die Kamera im Auto des Matratzenladen-Besitzers Ingo, der ohne Führerschein in eine Polizeikontrolle gerät. So verpuffen alle Träume in Schmids Film. Keiner hat es besser, und im Transfer zwischen den Welten ist Vertrauen ein seltenes Gut. Enttäuscht werden nicht allein die Hoffnungslosen wie Ingo, der keinen neuen Kredit für sein Geschäft bekommt, oder das Flüchtlings-Elternpaar Anna und Dimitri, das für das Ziel Berlin das Leben in der kalten Oder riskieren wollen. Selbst die kleinsten Anzeichen von Glück verblühen rasch. Dem jungen Architekten Philip (August Diehl) wird vom jovialen Investor Wilke (Henry Hübchen) die lang geplante Glasfassade an der neuen Fabrik gestrichen, und bei der Wiederbegegnung mit Beata, seiner polnischen Liebe aus Frankfurter Studienzeiten, zerplatzen für beide die gemachten Illusionen. Sogar die BGS-Dolmetscherin Sonja, die aus Mitleid und gegen den Willen ihres Freundes Christoph den Flüchtling Kolja nach Berlin bringt, sieht sich am Ende betrogen.

Lichter ist ein Film über die Hoffnungslosigkeit, aber kein hoffnungsloser Film. Glück, Träume, kurz: alles, woran man sich aufrichten kann, liegt in den Figuren, in ihrem Mensch-Sein. Damit ist nicht jenes "allzu menschlich" gemeint, mit dem Politiker ihre Affären entschuldigen, sondern ein Korrektiv, das beim Weg auf dem Seil zum erhofften Glück für die Balance sorgt. Viel ist das nicht, aber etwas, auf das man vielleicht stolz sein kann.

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