Der Gang ins Archiv führt auf die Herrentoilette der Lucca-Bar unweit des Leipziger Festivalkinos. Dort wirbt auf dem Papiertuchspender noch immer ein Aufkleber für Alexander Riedels Film Draußen bleiben, der 2007 im Deutschen Wettbewerb lief, als ich das erste Mal für den Freitag zum Leipziger Dokumentarfilmfestival gefahren bin. Draußen bleiben ist mir im Kopf geblieben, und ich hätte gewettet, dass ich den Film seinerzeit in meinem Bericht erwähnt hatte (was nicht stimmt, wie sich nach einem Blick ins Archiv herausstellte), weil Draußen bleiben bemerkenswert war in der Wahl seines Sujets: von Migration nach Deutschland zu erzählen, von den Heimen, der Residenzpflicht, der stressigen Agonie von sich monateweise verlängernder Duldung, das
eweise verlängernder Duldung, das war besonders in dieser Zeit. In den Nachrichten kamen Menschen wie die fast erwachsene Valentina, ihre Familie aus dem Kosovo und ihre Freundinnen aus aller Welt nicht vor.DamalsSie lebten in der Unsichtbarkeit, an den Rändern der Städte, in Heimen, die nicht zum Wohnen, sondern für Benutzung durchserialisiert waren – die Wäscheständer auf dem Flur, die Küchen mit den vielen Herden, die Waschküchen mit den vielen Waschmaschinen. Zum Wissen um diese Bilder haben Filme wie der von Riedel beigetragen, Migration war etwas, das man durch Dokumentarfilme besser verstehen konnte: Les arrivants von Claudine Bories und Patrice Chagnard etwa, der 2009 in Leipzig lief, und die Herausforderung von Verwaltung orchestrierte, die Einwanderung für eine Pariser Behörde bedeutete. Oder Versatzstücke von Elisa Purfürst aus demselben Jahr, ein kurzer Film, der in vier Kapiteln vorführte, welch großen gemeinsamen Raum ein Begriff wie Migrationshintergrund aufmacht und wie unterschiedlich der eingerichtet ist, indem Geflüchtete vom Ende des Zweiten Weltkriegs, aus der DDR, dem kaputten Jugoslawien und Sierra Leone porträtiert wurden.„Die Wirklichkeit auf der Straße hatte die Leinwand lange überholt“, schrieb Jutta Voigt in ihrem großen Bericht vom Leipziger Festival 1989 im Sonntag. Beim Gang ins Archiv fällt das zuerst auf – wie groß die Berichte waren vom Festival in Zeiten des Umbruchs (vermutlich auch: in Zeiten, in denen nicht jeder Mensch seine eigenen Retrospektiven und Best-ofs auf Videoportalen zusammenstellen konnte), wie intensiv 1989 und 1990 Gegenwart beschrieben werden musste, ehe die Berichte über das Festival in den späteren Jahren routinierter, rubriziabler wurden.Der Satz galt im Dezember 1989 den Demonstrationen auf den Leipziger Straßen, die dumpfer geworden waren, nationalistischer, den Eros des Aufbruchs, der Offenheit, des Sprechentrauens verloren hatten, der etwa in Leipzig im Herbst eingefangen ist, einem im Oktober 1989 gedrehten und für das Festival Anfang September fertiggestellten Protokoll der Ereignisse von Andreas Voigt und Gerd Kroske. Im Jahr 2015 sind die Töne von der Straße noch dumpfer und aggressiver geworden, parallel zur Festivaleröffnung durch die neue Direktorin Leena Pasanen fand der wöchentliche Legida-Marsch statt.„Die Wirklichkeit auf der Straße hatte die Leinwand lange überholt“ – das ließ sich in diesem Jahr über die Filme sagen, die sich dem Migrationsdruck widmeten, der spätestens seit dem Sommer die massenmediale Nachrichtenlage beherrscht, in Meldungen, Tagesschau-Clips, Artikeln, aber auch in Radiosendungen und Fernsehdokumentationen. Der lange, der künstlerische Dokumentarfilm (der ein politisch interessiertes Medium wie den Freitag immer beschäftigt hat), ließe sich daraus lernen, hat mitunter ein schwieriges Verhältnis zur Gegenwart: Er kann vorfühlen, zeigen, was nicht gesehen wird, und er kann bilanzieren, Geschichte schreiben.Schon Leipzig im Herbst ist eigentlich ein Film über etwas, das schon vorbei ist: die große, entscheidende Demonstration vom 9. Oktober, als die DDR-Verantwortlichen die Waffen streckten, statt sie auf das eigene Volk zu richten. In dem Sinne darf man gespannt sein, was nächstes Jahr oder 2035 für Filme zu sehen sein werden über die Ereignisse um Angela Merkels von Zweifeln verwunschenes „Wir schaffen das“.Kann man sich einen Dokumentarfilm über Pegida vorstellen, der mehr wäre als Aufklärungsmaterial für die Jugendbildung? Bilder, in denen von etwas anderem geträumt wird, einer besseren Zukunft – was einem in Filmen, die mit 1989 zu tun haben, unweigerlich begegnet? Andreas Voigt hat auf Leipzig im Herbst drei Filme folgen lassen, die den Weg in die neue Zeit beschreiben (und dieses Jahr alle noch einmal zu sehen waren), der letzte stammte von 1997. In diesem Jahr ist ein vierter dazugekommen, der das Festival eröffnete, Alles andere zeigt die Zeit, in dem die Langzeitbeobachtung ein vorläufiges Ende findet in drei Privatleben.Placeholder infobox-2Sergei Loznitsa, der im letzten Jahr mit seinem Revolutionspanorama Maidan (Freitag 36/2015) die Unordnung in seiner Heimat in lauter statischen Breitwandeinstellungen festzuhalten versuchte, ist nun mit einer Arbeit vertreten, die als komplementäre Erinnerung erscheint. In Sobytie (The Event) kompiliert der Regisseur Leningrader Fernsehmaterial aus dem August 1991, als in Moskau gegen Gorbatschow geputscht und das Ende der Sowjetunion betrieben wird als schwer durchschaubare Intrige; der junge Putin ist hier noch Randfigur einer Macht, auf die er sich heute beruft und die sich um den Leningrader Bürgermeister Anatoli Sobtschak ballt.25 Jahre sind nicht nur eine runde Zahl, sondern auch ein historischer Resonanzraum. So gehörte 1989, einigermaßen rätselhaft, Defilada (The Parade) des polnischen Regisseurs Andrzej Fidyk zu den Preisträgern von Leipzig. Ein Film über Nordkorea und seinen damals noch lebenden Herrscher Kim Il-sung, dem kritiklos gehuldigt wurde. Filme über Nordkorea zu drehen, ohne zu huldigen, ist auch heute, nach dem Tod von Kim il-sung und seinem Nachfolger-Sohn Kim Jong-Il, nicht leicht – aus dem Grund, weil das Drehen in Nordkorea reglementiert wird, die Wirklichkeit, die durch ausländische Teams verbreitet werden soll, inszeniert ist. Vitaly Mansky hat sich in Under the Sun, der im Wettbewerb lief, dieser Vereinnahmung entzogen durch den Kunstgriff, sein eigenes Making-of zu filmen: Die Kamera läuft weiter, wenn die Aufpasser die Essensszene in der Modellfamilie wieder und wieder gespielt sehen wollen; wenn Mutter und Vater zwischendurch in ihren Skripts lesen und selbst der Kriegsveteran, der Schulklassen von den Heldentaten der Geschichte erzählt, Verbesserungsvorschläge für seine Performance erfährt. Es gibt also einen Fortschritt, eine Verfeinerung der Möglichkeiten, Propaganda als solche kenntlich zu machen.HeuteUnd es verändert den Blick, wenn man, in diesem Fall Freitag-jubiläumsbedingt, den Fokus weiter öffnet, um auf Filme, auf das Festival in größerem Zusammenhang zu schauen. Mein schönstes Déjà-vu war ein kleiner Film aus dem Beiprogramm: Valentina, 26 von Alexander Riedel, ein Feature, das resümiert, was nach Draußen bleiben geschehen ist. Dass es sich dabei um eine 45-minütige Fernsehdokumentation handelt, sagt etwas über die Produktionsmöglichkeiten von Dokumentarfilmen (das wäre etwas: der Weg aus dem Heim als dokumentarisches Kinoepos).Riedel ist ein kluges Update seines Films gelungen. Wer will, findet in der Geschichte von Valentina alles beschrieben, was im politischen Diskurs wie eine merkwürdige Technologie klingt und nicht wie ein gewöhnlicher Prozess: Integration. Eine junge Frau, die ihre Energien in die Arbeit als Pflegerin steckt, die, zum Leidwesen der Mutter, aus der gemeinsamen Wohnung auszieht und die als Distanzierte zu den Tanten in den Kosovo reist. Eine Geschichte, die übrigens nicht möglich gewesen wäre, wenn die Mutter, um der Abschiebung aus dem Weg zu gehen, sich nicht ein ums andere Mal die frühen Morgenstunden außerhalb des Heims um die Ohren geschlagen hätte, draußen geblieben wäre.Placeholder infobox-1
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