Für das Interview hat Heide Sommer die Lobby vom Hotel Grand Elysée am Hamburger Dammtor vorgeschlagen. Fritz J. Raddatz hat hier auch manchmal Journalisten getroffen, aber wer deshalb glaubt, die langjährige Mitarbeiterin eifere dem bekannteren Chef nach, täuscht sich. Wenn, war es andersrum, das Grand Elysée hat sie vor Raddatz bei einer ihrer zahllosen Tätigkeiten kennengelernt.
der Freitag: Frau Sommer, wir wollen über Ihr Arbeitsleben reden, den Beruf einer Sekretärin. 1963 haben Sie bei der „Zeit“ angefangen. Wie kam das?
Heide Sommer: Früher konnte man sich einfach dort vorstellen, wo man sich gerne als Mitarbeiterin gesehen hätte; auf fünf Bewerbungen kamen sechs Zusagen. Es war himmlisch. Ich hatte Theo Sommer in einer Podiumsdiskussion gehört und fand ihn interessant. Also bin ich zur Zeit. Die damalige Personalchefin hat mich sofort eingestellt. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen.
Aber eine Ausbildung hatten Sie?
Ich habe mit 18 am heutigen Albert-Schweitzer-Gymnasium in Hamburg Abitur gemacht. Schulleiterin war damals Erna Stahl, eine großartige Pädagogin. Nach der Schule habe ich gejobbt, würde man heute sagen, dann sechs Monate Handelsschule, ein Abiturientenkurs. Stenografie, in Deutsch und Englisch, etwas Buchführung, der übliche Kram. Vor allem aber Tippen. Der Vater einer Mitschülerin hatte mir gesagt: Drei Dinge muss eine junge Frau heutzutage können – Tanzen, Tippen und Autofahren. Damit kommen wir heute nicht mehr ganz hin, nicht wahr?
Wo haben Sie dann angefangen?
Bei Reedereien. Dadurch habe ich viel über Hamburg gelernt: die Interieurs der Kontore, wunderbare Mahagoni-Möbel, das hat mich damals beeindruckt. Wir wohnten ja zu sechs Personen in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Und dann bauten meine Eltern ein Haus, und mein Vater sagte zu mir: Ja, bau ich nun das Haus oder willst du studieren? Entweder oder. Ich habe den direkten Weg in die Arbeitswelt gewählt, das entsprach mir. Eine Anstellung zu haben, das hieß, Geld zu verdienen, sich auch mal ein schönes Kleid zu kaufen, schicke Schuhe, Lebensqualität. Vor allem fand ich es grässlich, dass meine Klassenkameraden, wirklich fast alle, Lehrer wurden. Da hab ich gedacht, nee, die gehen erst in die Schule, dann in die Uni und dann wieder in die Schule – das ganze Leben. Das wäre nicht mein Weg gewesen. Ich habe so viel erlebt, was sonst nicht möglich gewesen wäre, und deswegen finde ich, dass ich alles richtig gemacht habe.
Arbeiten, die man nicht sieht
Sekretärin ist keine Berufsbezeichnung, für die Heide Sommer sich schämen würde, im Gegenteil. Aber der Begriff ist zu klein für ihr Wirken.
Geboren 1940 in Berlin, die Eltern Musiker, das Kriegsende erlebt die Familie in Bad Kissingen. 1949 Umzug nach Hamburg, weil der Vater, ein Hindemith-Schüler, dort Solobratschist im Rundfunkorchester wird, die Mutter gibt Klavierstunden. Die Arbeitsbiografie von Heide Sommer liest sich wie ein Who’s Who der Bundesrepublik – schon vor der Anstellung bei der Zeit arbeitet sie bei der IGA 1963 für Staatssekretär Passarge. Aus Liebeskummer verschlägt es sie kurz nach London und Saas-Fee, wo sie für Carl Zuckmayer tätig ist. Nach der Rückkehr nach Hamburg unter anderem: Sekretärin von Rudolf Augstein beim Spiegel und fast 20 Jahre lang Mitarbeiterin von Fritz J. Raddatz, für drei Jahre parallel bei Helmut Schmidt.
Aktuell hilft sie Klaus von Dohnanyi in dessen Büro. Und übersetzt seit langem Bücher aus dem Englischen, die Autobiografie von Vanessa Redgrave etwa, mit der sie durch Deutschland tourt. Aus der Bekanntschaft entsteht 1993 der Abend „Künstler gegen den Hass“ am Thalia Theater. Als Ullstein Requiem für Harlem, den vierten Band der Roman-Tetralogie von Henry Roth, nicht herausbringen will, findet Sommer einen neuen Verlag. Sekretärinnenhaft ist daran neben den organisatorischen Fähigkeiten, dass es sich um unsichtbare Arbeit handelt: hinter den Kulissen, ohne Credit. Man könnte mit all den Vermittlungen Heide Sommers eine eigene Geschichte des Hamburger Kulturlebens schreiben.
Zu sechst in einer Wohnung?
Meine Eltern, die Oma, meine beiden jüngeren Brüder und ich.
Haben die Brüder studiert?
Ja, der eine ist Diplomingenieur geworden und der andere Germanist.
Wie war die Arbeit bei der Presse?
In der Reederei saßen die Chefs hinter Glastüren, man hatte seinen Schreibtisch nicht zu verlassen, und die Bürovorsteherin teilte einem die Arbeit zu. Bei der Zeit war man in den Produktionsprozess eingebunden. Chefredakteur war damals Müller-Marein, seine Stellvertreterin und Chefin der Politik die Gräfin Dönhoff. Und dann gab es diese herrlichen Buben der Gräfin: Gresmann, Sommer, Zundel, Strothmann, als Volontär noch Kai Hermann. Für diese fünf Leute hatte ich zu arbeiten.
Was haben Sie denn getippt?
Hansjakob Stehle zum Beispiel hat jede Woche aus Warschau berichtet. Die Redakteure haben mit Stehle telefoniert: Wann ist die Veranstaltung, über die Sie berichten? Man musste die Gespräche als „dringend“ anmelden, damit man drei Tage später eine Verbindung bekam innerhalb eines Zeitraums von zwölf Stunden und Stehle seinen Artikel durchgeben konnte. Als 1966 der Selbstwähldienst eingerichtet wurde, war das ein Riesenvorteil. Dann musste man Stehles Text aufnehmen, abtippen, dann wurde redigiert, der Artikel ging von Hand zu Hand. Man konnte erst nach Hause gehen, wenn es fertig war. Ich erinnere noch den ersten Leitartikel von Theo Sommer, nachdem er aufgehört hatte zu rauchen – der dauerte bis morgens um fünf Uhr, weil er so nervös war. Da war’s schon hell.
Wie wurde denn aufgenommen?
Mit einem riesigen Uher-Tonbandgerät. Der Adapter wurde ans Telefon gesteckt, ich ließ die Tonbandspulen laufen, und dann fing etwa Professor Eschenburg aus Tübingen an, seinen Artikel vorzulesen. Ich hörte mit und sagte gelegentlich: Herr Professor, nehmen Sie doch mal die Pfeife aus dem Mund, ich kann Sie gar nicht verstehen. So standen wir zu unseren Autoren. Es wurde erst stundenlang aufgenommen, dann stundenlang abgetippt, dann kriegten es die Redakteure zum Redigieren, dann telefonierten die mit dem Autor wegen der Druckfassung.
Wieso haben Sie nicht gleich mitgetippt?
Die mechanischen Schreibmaschinen waren viel zu laut. Die fertigen Manuskripte trugen wir dann auf Pfennigabsätzen durch die Setzerei vorbei an der Mettage zum Linotype-Menschen, der das alles noch einmal abtippte.
Mettage?
Der Umbruch, dort wurden die gesetzten Seiten zusammengebaut, die Überschriften per Handsatz hinzugefügt. Die Metteure waren große Künstler. Für das Korrekturlesen wurden Handabzüge gemacht. Es ist lustig, wenn man das heute erzählt. Einmal in der Woche war Redaktionsschluss, das war der Tag, auf den man hinlebte, die Nacht. Ich konnte mich gut einordnen in diese Abläufe.
Auch über das Tippen hinaus?
Mittwoch früh wurde Korrektur gelesen. Eigentlich Redakteurssache, aber wenn man interessiert war und sich ein bisschen reindrängelte, hat niemand einen rausgeschmissen. Mich jedenfalls nicht. Wenn ein Telefon klingelte, musste ich natürlich laufen. Aber das Witzigste, fällt mir gerade ein, was heute noch auf mich zurückzuführen ist, ist die Käsekonferenz.
Die Käsekonferenz?
Am Freitagnachmittag ist bei der Zeit die große Konferenz, und unsere politischen Redakteure wollten sich davor immer intern absprechen. Das geschah zur Mittagszeit, und da hatten sie immer Hunger. Also habe ich in der Lebensmittelabteilung bei Karstadt gegenüber vom Pressehaus Käse eingekauft. Das fing in den Jahren erst an, dass man hier gute französische und italienische Käsesorten bekam. Dazu Baguettebrot, manchmal Beefhack. Das habe ich denen serviert, und so hieß diese Vorbesprechung Käsekonferenz. Heißt sie heute noch, ein Fachbegriff. Ist das nicht süß?
Aber Sie haben den Käse nicht auch noch spendiert.
Nein, ich habe hinterher abkassiert. Aber die Redakteure waren froh, dass was zu essen da war. Und eine Flasche Mateus brachte ich auch immer mit, diesen leicht moussierenden portugiesischen Rosé im Bochsbeutel.
Haben Sie auch redigiert?
Es gab beim Abtippen immer Stellen, wo ich sagte: Kann man hier nicht das und das sagen? Wäre es hier nicht besser, Sie blieben im Präsens? Einfachste Dinge.
Und wie haben die Herren Redakteure darauf reagiert?
Positiv, immer. Man muss Mut und ein bisschen Ahnung haben. Ohne meine Schulbildung, mein Wissen und meine Liebe zur Sprache hätte ich mich nicht getraut. Aber ich wusste und weiß ja, wenn ich einen Vorschlag mache, dann ist es zum Wohle des Textes.
Hat Raddatz das auch so gesehen? Der galt doch als nicht uneitel.
Für Raddatz habe ich eine Technik entwickelt. Es machte keinen Sinn, ihm nur zu sagen, hier versteht man’s nicht – er hatte ja keine Distanz zu seinen Texten. Ich habe meine Verbesserungsvorschläge beim Abtippen der Manuskripte – Raddatz hat nie einen Computer berührt und bis zum Schluss von Hand geschrieben – gleich mit in die Zeilen reingeschrieben, in Klammern und fett gesetzt, mundgerecht, so dass er das erkennen konnte: „H. So. Vorschlag so und so“. Dann hat er entweder Häkchen gemacht oder das durchgestrichen. Wenn ich es für nötig hielt, habe ich ihn noch mal darauf angesprochen. Manchmal war er unwillig, aber in 99 Prozent der Fälle ist er meinen Vorschlägen gefolgt.
Von Hand schreiben kann nur, wer eine Sekretärin hat.
Die Nähe, die eine gute Sekretärin zu ihrem Chef hat, das Vertrauen, das ist einmalig. Damals waren wir Sekretärinnen bei der Presse mit den Männern zehn Stunden am Tag zusammen, mindestens. Die Ehefrauen hatten ihre Männer nur morgens, wenn sie noch müde waren, und spätabends, wenn sie schon wieder müde waren. Mir ist es nach meiner Hochzeit mit Theo genauso ergangen, ich hab den auch nur noch morgens erlebt und abends leicht beschickert, wenn er von irgendwelchen komischen Feiern oder Essen kam, bei denen man nicht wusste, was da eigentlich los gewesen ist.
Sex spielte am Arbeitsplatz damals noch eine andere Rolle.
Für mich war’s die Liebe, für mich gab’s ja nur den einen. Aber es ging natürlich quer durch die Beete und Betten. Und die verheirateten Männer hatten in ihrem Arbeitsumfeld alle eine Liaison. Als Gruner + Jahr gegründet wurde, haben Stern und Zeit zusammen auf der Hanseatic eine Wochenendfahrt rund um Helgoland gemacht. Was meinen Sie, was da gevögelt wurde! Aber das hat das Gemeinschaftsgefühl und die Arbeitsfreude erhöht. Kinder sind auch entstanden. Mehr sage ich nicht. Ich werde auch kein Buch schreiben. Es gab in den 70er Jahren eine Zeit, da alle Ehefrauen von Journalisten anfingen, Bücher zu schreiben. Ich weiß noch genau, wie die Journaille sich über diese Bücher lustig gemacht hat. Eine Häme! Aber natürlich nur hinter vorgehaltener Hand. Da habe ich mir geschworen: Du nicht, never.
Aber es gibt Bücher von Ihnen: als Übersetzerin.
Vor allem die fünf wahnsinnig guten und wichtigen Bücher von Henry Roth, dem Begründer der jüdisch-amerikanischen Literatur. An denen habe ich mit Unterbrechungen 15 Jahre gearbeitet. Wenn meine Kinder im Bett waren, der Hund schlief, konnte ich mich richtig abschotten und versank in meinen Übersetzungen – das hat mich wirklich sehr erfüllt. Das sind die einzigen Nächte, die ich mal beschreiben könnte.
Sie haben nicht nur übersetzt, sondern auch bei der Veröffentlichung hierzulande geholfen.
Das fand der amerikanische Verlag natürlich toll, dass ich mich dafür so eingesetzt hatte. Sie haben mich 2006 eingeladen, beim 100. Geburtstag von Roth dabei zu sein. Ich durfte in New York eine kleine Rede halten, wie man so ein Werk angeht und übersetzt. Das war ein Highlight, der Lohn der Arbeit.
Wenn Sie heute noch einmal wählen könnten, welchen Beruf würden Sie ergreifen?
Managerin! Das würde mich richtig reizen. Aber es ist dabei etwas ganz Wichtiges: Ich möchte nicht ganz oben stehen, sondern ich brauche einen Partner, der gleichberechtigt oder drüber steht. Ich bin die geniale Zweite.
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