Wer vor gut einer Woche nach der Tagesschau nicht schnell genug den Fernsehapparat ausgestellt hatte, wurde Zeuge einer skurrilen Szene. Diethard Klantes Dieter-Baumann-Fernsehspiel Ich will laufen begann mit dem Finalrennen der 1994er Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Helsinki. Auf der Pressetribüne spielte der ZDF-Mann Wolf-Dieter Poschmann den Kommentatoren Wolf-Dieter Poschmann, bei dem die Maske sich keinerlei Mühe gemacht hatte, ihn zehn Jahre jünger erscheinen zu lassen, derweil der Schauspieler Hans-Werner Meyer als Dieter Baumann zum Sieg gegen ein Häuflein elendiger Komparsen lief. Das Erschütternste jedoch war der Spielort selbst: Von der Größe wie von der Stimmung her erinnerte er an das Vereinsfest von Salamander Kornwestheim. Dieser Widerspruch zwischen Bild und Behauptung ist zum einen exemplarisch für Klantes Film, der in Dieter Baumanns diffusem Doping-Fall mit den Mitteln der Kunst Täter und Opfer schwarz und weiß ausleuchtete.
Zum anderen künden solche Ungereimtheiten von einem Problem, das das Fernsehen hat, seit es unentwegt nach Echtheit giert: Es verfehlt sie beständig. Während man sich bei den Doku-Soaps und Daily Talks der Privatsender an diesen Umstand gewöhnt haben mag, darf es überraschen, wenn sich der Kulturkanal Arte an dem pseudo-authentischen Mummenschanz beteiligt. Im Vorfeld der Olympischen Spiele präsentierte der deutsch-französische Kultursender neben einem Themenabend und einer Reihe interessanter Beiträge zu den großen Duellen des Sports auch eine neunteilige Serie mit dem Titel Die Helden von Olympia. Beseelt von der Rückkehr der Spiele an ihren antiken Ausgangspunkt hatte Arte ein Projekt initiiert, um zu den Wurzeln des heute größten Sportereignisses der Welt vorzudringen. "Griechenland pur", wie einer der Teilnehmer in jener verbreiteten wie sinnlosen Formel unserer Tage schwärmte.
In den Bergen von Olympia wurde eigens mit Kunststoff die Palaestra, das antike Trainingszentrum, nachgebaut. 30 Athleten aus Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien und Griechenland kamen in einem Zeltdorf unter, um ursprünglich olympische Sportarten wie Speerwurf, Ringen oder beidbeinigen Weitsprung durchzuprobieren.
In einer Dokumentation, die ernsthaft um Erforschung und Rekonstruktion des vormaligen Athletendaseins bemüht gewesen wäre, hätte man die Sportler zwischen zwanzig und sechsundzwanzig Jahren als Statisten engagiert. Im Gefolge von Big Brother, wo der Statist zum Akteur aufgewertet wurde, verzichtet selbst die Zeitreise auf Arte nicht mehr darauf, sein Projekt zugleich als populär-soziologisches Experiment auszustellen.
"Du schnarchst wie e Sau", ist das erste, was der bayrische Athlet seinem Mitstreiter im Nachbarbett am anbrechenden Morgen zwischen den olympischen Hügeln zuruft. Andere Sportler träumen von Zuhause. "Ich hoffe, dass meine Frau mit den Kindern mich vom Flughafen abholt", erzählt einer. Beim stämmigen Detlef herrschen indes pragmatische Bedenken gegenüber einem solchen Empfang, weil das Flugzeug erst um acht Uhr abends landet, was normalerweise Schlafenszeit für die kleine Tochter bedeutet. Detlef hofft auf eine Ausnahme, zu Recht, wie man ihm wünscht, schließlich kehrt Papa nicht jeden Tag aus der Vergangenheit zurück. Das deutsche Zelt gleicht einem Musterhaus hiesiger Dialekte, es findet sich sogar ein Vertreter der - von Feridun Zaimoglu so genannten - "Kanaksprak", der seinen türkischen Akzent mit dem schönsten Schwäbisch mengt.
Nichts mehr ist, wie es einmal war, lautet die Grundannahme der Arte-Unternehmung, und damit das jeder merkt, betont die Serie den Versuchscharakter ihrer selbst. Weil das "archäologische Experiment" immer auch "Abenteuer" sein muss, dürfen die Testpersonen unentwegt in die Kamera plappern, was ihnen durch Kopf und Magen geht. Einem französischen Athleten ist das antike Abendessen nicht bekommen, und für den Waffenlauf mit Speer empfiehlt ein Trainer: "Das ist gefährlich, so ein Ding ist schnell im Bein, da müsst ihr jetzt cool bleiben." Diese Aufforderung richtet sich vor allem an den Zuschauer, der andernfalls womöglich erbost darüber sein könnte, dass das Fernsehen ihn komplett für dumm verkauft. Das Abenteuerliche an Die Helden von Olympia, das banal ist wie das Leben im Käfig von Big Brother, kommt einer Entmündigung jedes nur halbwegs geistig regen Menschen gleich. Was die Serie ihrem Betrachter nämlich aberkennt, ist das Vermögen, die Unterschiede zwischen damals und heute von sich aus zu erkennen. Jede Abweichung des gegenwärtigen Sportlerdaseins vom antiken Vorbild, die nicht als Plattitüde über das eigene Befinden den Athletenmund verlässt, formuliert ein Bescheid wissender Kommentar. Da lernt man dann: "Auch bei Sklaven muss man sich bedanken." "Detlef und Arthur überrascht diese Unannehmlichkeit etwas." Oder: "Damals war es verboten, beim Abendessen über ernste Themen zu reden - das sollte unseren Sportlern nicht schwer fallen." Herrje.
Der unvermeidliche Experte, ohne den heute kein mediales Problem von Christiansen bis Explosiv mehr existieren darf, bleibt dem Zuschauer auch nicht erspart. Das Auge der Wissenschaft heißt Manuel Schoch und ruht beflissen auf den Versuchen eines Athleten, den Speer mit Hilfe einer Schlaufe zu werfen, die in den Aufzeichnungen erwähnt wurde. War man davon ausgegangen, dass die Schlaufe die Hand des Werfers nicht verlässt, so führt das emsige Training diese Annahme ad absurdum. Die Schlaufe bleibt am Speer, und Archäologe Schoch präsentiert sich geläutert: "Ich musste komplett meine Meinung ändern und werde in Zukunft nicht mehr das Gegenteil behaupten."
Solche Lernfähigkeit wäre Arte nur zu wünschen. Wenn "lebendige Geschichte" zwangsläufig so aussehen muss wie Die Helden von Olympia, dann sollte die Historie in Zukunft besser wieder tot präsentiert werden.
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