Der Freitag: Sie sind schuld. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?
Matthias Lilienthal: Nein.
Noch nie Klagen vom Bund Deutscher Zeitungsverleger gehört? Sie sagen ja öffentlich, dass Sie journalistisch arbeiten. Und das HAU lebt von staatlichen Geldern. Da müsste doch ein Branchenvertreter auf die Idee kommen, dass Sie der privatwirtschaftlich organisierten Presse die Arbeitsgrundlage wegnehmen als eine Tagesschau-App auf zwei Beinen.
Warum nehme ich denen die Arbeitsgrundlage weg?
Weil Sie, wie etwa bei Ihrem Vietnamfestival 2010, zum Dong-Xuan-Center im Berliner Stadtteil Lichtenberg gehen und performativ einen interessanten Ort entdecken. Als Lobbyist meiner Ansprüche hätte ich mir das nicht vom Theater erwartet, sondern von einer Reportage.
Aber die Wochenendbeilage der Berliner Zeitung macht dann eineinhalb Seiten Essay daraus, wo eine Edelfeder das Leben dort beobachtet. Ich meine mit „journalistisch arbeiten“, dass ich versuche, Themen zu besetzen. Bei mir hat sich 2002 über „Theater der Welt“ eine Lust an Hyperrealität hergestellt, die sich einerseits über X-Wohnungen und andererseits in der Zusammenarbeit mit Rimini Protokoll formuliert hat.
Vermutlich frage ich so blöd, weil ich bei mir eine Scham verspüre. Über ein Thema zu schreiben, das Sie so besetzt haben wie Dong Xuan, wirkt wie abkupfern.
Die Scham würde ich Ihnen gerne abgewöhnen. Ich freue mich über das eineinhalbseitige Essay, das sich nicht rezensierend zum Theater verhalten, sondern das Ganze als Expedition in eine unbekannte Welt wahrgenommen hat.
Wie finden Sie denn so ein Thema wie Dong Xuan?
Mit offenen Augen durch die Stadt gehen, Zeitung lesen, manchmal ist es nur das Rumgequatsche. Ich hatte irgendwann von Vergleichen zwischen türkischen und vietnamesischen Migranten gelesen. Vietnamesische Schüler sind gut und fleißig in der Schule und türkische nicht. Mir war unangenehm, wie das gegeneinander ausgespielt wurde.
Die Integrationsstreber versus ...
... die Integrationsverweigerer. Diese Klischees gingen mir auf den Wecker, und wenn man anfängt, darüber nachzudenken, dann stößt man auf die beiden Vietnamesen-Gruppen in West- und Ostberlin, Boat People kontra Vertragsarbeiter, in denen sich eine deutsch-deutsche Situation spiegelt. Und wenn man eine halbe Stunde „Vietnamesen“ und „Berlin“ googelt, dann ist man beim Dong-Xuan-Center. Und das ist dann interessant.
Interessiert Sie denn die Psychologie der Presse überhaupt?
Ich weiß, dass „Dong Xuan“ funktioniert, und darüber freue ich mich. Ansonsten halte ich es beim Umgang der Presse mit der Bergpredigt, obwohl ich mit dem Christentum nichts an der Hacke habe: Ich weiß, dass ich über Journalisten nichts Positives und nichts Negatives sage, und wenn sie mir eine pfeffern, dann halte ich die andere Wange hin. Und am nächsten Tag, auch wenn es schwer ist, tue ich immer so, als ob nichts gewesen ist.
Ist das nicht ungerecht?
Theater und Journalismus haben grundverschiedene Ökonomien. Die Performer bei uns fummeln zwei Monate an ihrem Projekt rum. Ein Journalist hat eine Ökonomie von drei mal vier Stunden, der liest sich einen Nachmittag lang ein, geht hin und schreibt was. Diese beiden Ökonomien prallen aufeinander. Trotzdem ist der Journalist Stellvertreter des Publikums, das sich nicht einliest und nichts schreibt. Das hat nur die zwei Stunden, insofern ist das okay.
Ärgert es Sie auch nicht im Stillen, wenn Kritiken am Gegenstand vorbeischimpfen?
Mir macht das inzwischen wenig aus. Mein Freund Schlingensief hat jede negative Kritik Wort für Wort auswendig gelernt, der litt wie eine Sau und war richtig traurig darüber. Und der hat Journalisten angerufen und sie diese Trauer teilen lassen, bis denen peinlich war, was sie geschrieben hatten. Das könnte ich gar nicht.
Theaterintern hatte das HAU unter Ihrer Leitung mit dem großen Durchlauf an Produktionen eher eine journalistische Ökonomie.
Bei einem Stück von She She Pop gehe ich auf den ersten Durchlauf, sehe dann noch zwei weitere, und das ist es dann. Im Theater hat man das Problem, dass zwei Drittel der Sachen nicht so toll werden, wie man sich das erhofft hat. Manchmal ist es andersrum: Dass Testament von She She Pop so gut wurde, hätte ich im Vorfeld nicht gedacht. Ich fand die Idee, König Lear zu machen, eher blöd. Warum eine freie Gruppe mit einem klassischen Stoff? Aber das war in der Generalprobe super, und dann setze ich die nächsten Vorstellungen an. Dass du in Projekte viele Hoffnungen reinbollerst, denkst, das wird gut, und es passiert das Gegenteil – das gehört zum Theater, das ist völlig normal.
Für die Wahrnehmung des HAU mag die pausenlose Bespielung gut gewesen sein. Aber leiden nicht die Künstler und die Kunst, die da durchgejagt wurden?
Das ist der Vorwurf vom Durchlauferhitzer. Ich komme aus der Castorf-Schule, in der Überforderung von Anfang an Prinzip war. Und dann bin ich als Mensch eher ungeduldig, schnell, mir liegt das mehr. Das belgische Kulturzentrum Campo, das Before your very Eyes von Gob Squad produziert hat, bereitet Produktionen über anderthalb, zwei Jahre vor, da gibt es dann vor der Premiere schon mal Tryouts, das finde ich super. Aber ich selber arbeite wenig so.
Das wäre die Schnelligkeit, die einem am Journalismus nerven kann, auch wenn sie dazugehört – dass immer wieder nur die nächste Sau durchs Dorf muss.
Ein zweiter Punkt, wo das Journalistische bei uns zum Zuge kommt, sind die thematisch gebündelten Festivals. Ob das die Prinzessinnengärten waren, also die Frage nach Urban Gardening in einer Stadt mit so vielen Freiflächen. Oder Luna Park in Treptow, Berlin als Entertainmentpark, lebe ich noch oder bin ich nur Vergnügungsausstellungsstück für Touristen?
Wie wichtig ist die Kunst da noch, wenn ein Ort wie das verlassene DDR-Großvergnügungsgelände mit seiner tristen Nachwendegeschichte so attraktiv ist?
Bei solchen Rundgängen interessiere ich mich für die Geschichten, die dahinter stehen. Wenn ich ohne HAU ins Dong-Xuan-Center gehe, dann kapiere ich nicht, dass da der VEB Elektrokohle saß und dass die Leute, die den Markt zuerst betrieben haben, Vertragsarbeiter aus dem VEB waren. Und wenn man mit den Gymnasiastinnen redet, kriegt man mit, dass die jungen Frauen bei dem Kiosk der Eltern mitarbeiten müssen. Dass sie gut sein müssen in der Schule und dass es da eine dreifach höhere Selbstmordquote gibt als im Schnitt. Christoph Gurk hat mit mir geschimpft, als ich gesagt habe, Kunst ist scheiße, aber das sollte doch nur meinen, Kunstkunst ist scheiße. Kunst ist mir vielleicht nicht so wichtig, aber mit einer Liebe zu den Geschichten der Menschen da entlangzugehen, das finde ich super.
Läuft das Theater dann nicht Gefahr, nicht mehr erkannt zu werden? Dass man sich mit avancierten Stadtrundgängen für Touristen überschneidet?
Das ist mir wurscht. Ich glaube, dass das, was wir gemacht haben, spröde ist, dass da immer noch ein Kunstapparat dazugehört, Leute, die eine ästhetische Erziehung haben. Rimini Protokoll hat 2009 Hauptversammlung gemacht, die sind mit 200 Zuschauern, die sich Aktien gekauft hatten, zur Aktionärsversammlung von Daimler gegangen. Nichts war Theater und nichts probiert, und trotzdem wurde das eine aufregende theatralische Veranstaltung, einfach durch die Verschiebung des Blicks. Da kommen ein paar Großaktionäre von den Banken und 12.000 Rentner, die drei Aktien haben und sich bei Kartoffelsalat und Wiener Würstchen durchfuttern. Ich fand‘s schade, dass wir das nicht als Film dokumentieren konnten.
Was ein Theater wie das HAU überdies mit mancher Zeitung verbindet: Es interessiert sich für gesellschaftliche Schieflagen, lebt aber von neoliberaler Selbst-ausbeutung. Wie gehen Sie mit diesem Widerspruch um?
Der Laden an sich hat für mich super Möglichkeiten, aber natürlich gibt es eine neoliberale Ausbeutung von Mitarbeitern und Performern, und die ist mir peinlich, auch wenn ich sonst kein Peinlichkeitsgefühl kenne. Ich versuche daran zu arbeiten, etwa durch die Aufstockung der Mittel beim Senat um 250.000 Euro. Ich bin in einer Kommission in der SPD-Bundestagsfraktion, um dort was an den Rahmenbedingungen zu ändern.
Macht es ein anderer Umgang untereinander als im hierarchisierten Theaterbetrieb besser? Oder ist das nicht noch perfider, weil man da mit Freundlichkeit etwas bemäntelt?
Nein, die Freundlichkeit ist extrem wichtig. Und das andere ist: Hier verhandelt man auf dem gleichen Level. Da kommt eine Gruppe mit ihrem Budget. Als Chefdramaturg an der Volksbühne konnte ich sagen, ich will das Stück nicht. Hier kann ich nur sagen, denkt doch noch mal drüber nach, ob nicht dieses oder jenes interessant wäre. Das ist ein anderer Vorgang.
Wie ist denn die Integration von Kreuzberg bei den Besuchern gelungen, die am Anfang Ihrer Intendanz als Ziel stand?
Kommt darauf an, welche Ansprüche man hat. Bei dem vietnamesischen Festival oder bei den türkischen kommen 30 bis 50 Prozent aus der Szene. Sonst sind es sieben, acht Prozent Migranten. Früher waren es zwei, das ist für mich ein Riesenerfolg, auch wenn es statistisch 30 Prozent sein müssten.
Und Künstler wie Tamer Yigit oder Nurkan Erpulat sind ins permanente Programm übergegangen.
Inwieweit ist das HAU ein Modell geworden?
Meine Vorgängerin am Hebbel-Theater, Nele Hertling, hat immer gesagt, dass das TaT in Frankfurt und das Hebbel-Theater die Zukunft sind. In den letzten Jahren sind die Gelder für solche freien Produktionshäuser aber reduziert worden. Ich finde es skandalös, dass es in Köln, Stuttgart und München kein HAU gibt. Wenn Städte nicht mehr das Geld haben, um eine Stadttheaterstruktur zu halten, es aber eine Aufgeschlossenheit für andere Inhalte und Ästhetiken gibt, sollte man über eine Umwandlung in Richtung Produktionshaus nachdenken. Da herrscht aber eine Riesenangst, dass, wenn man einmal versucht, das umzusetzen, das System als Ganzes gefährdet ist.
Was hat sich für Sie in neun Jahren geändert?
Als ich 2003 am HAU angefangen habe, habe ich auf die Pleite von Argentinien geguckt, als ob das nichts mit mir zu tun gehabt hätte. Jetzt lebe ich in „Argentinien“.
Als nächsten gehen Sie in den Libanon.
Ich arbeite dort zehn Monate lang mit 15 Postgraduate-Studenten und mache mit denen X-Wohnungen in Beirut. 2014 dann Theater der Welt in Mannheim.
Auf die Idee, Sie zum Journalismus zu holen, ist noch niemand gekommen?
Es gibt manchmal so Fragen. Aber ich schreibe langsam und schlecht und bin ein begnadeter Quatscher. Das passt nicht zusammen.
Das Gespräch führte Matthias Dell. Matthias Lilienthal , geboren 1959, war Dramaturg während Frank Baumbauers Intendanz am Theater Basel (1988 – 1991) sowie an Frank Castorfs Volksbühne in Berlin (1991 – 1998) und 2002 Programmdirektor von Theater der Welt in NRW. Dort hat er das globalerfolgreiche Projekt X-Wohnungen initiiert. Von 2003 bis 1. Juli 2012 ist er Leiter des Hebbel am Ufer (HAU), zu dem seinerzeit drei Bühnen in Berlin- Kreuzberg zusammengelegt wurden
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