Im Reich des Löwen

Volksbühne So endet es um 1.06 Uhr: Frank Castorfs letzte große Premiere an diesem Ort
Ausgabe 10/2017

Frank Castorfs Faust-Inszenierung, die am Freitagabend in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Premiere hatte, ist ganz okay. Man muss ein bisschen Zeit mitbringen. Das Bühnenbild ist top, die Schauspieler sind toll und die Zusammenhänge luftig.

So kann man natürlich nicht über diesen Faust schreiben (ein Kritiker im Deutschlandradio Kultur hat grandioserweise „Jein“ geurteilt). Das verbietet der Respekt, das unterbindet das Gefühl, das einen zur Premiere begleitet wie auf die Beerdigung von jemandem, der noch nicht gestorben ist. Eine vorfrühlingshafte Szenerie, weil der Beginn wegen der Länge der Inszenierung (sieben Stunden mit Pause) auf 18 Uhr terminiert ist. Sentimentales Frohlocken; so schön wird’s nicht mehr.

Es geht hier keiner zur Bearbeitung eines Goethe-Stücks, es kommen alle, um beim letzten Mal dabeigewesen zu sein: bei der letzten großen Premiere von Frank Castorf an dem Ort, den er als Intendant geprägt hat für ein Vierteljahrhundert. Um sechs Uhr morgens hat der erste Mensch am Tag des Kartenvorverkaufbeginns sein Warten vor der Volksbühne begonnen; der zweite kam dann stundenlang erst mal nicht, weil Theatertickets doch nicht so begehrt sind wie die als groß erachteten Attraktionen unserer Zeit (iPhone, iPad, Harry Potter und die Heiligtümer des Todes). Aber allein die Vermutung sagt etwas – dass jemand sich ausrechnet, er müsse sechs Stunden vor Kassenöffnung da sein, um die Chance auf eine Karte zu haben.

Den Blick auf die Volksbühne in den Minuten der eintreffenden Premierengäste würde man sich am liebsten einfrieren, um im Herbst, wenn Castorfs Nachfolger Chris Dercon eröffnet, „Finde 7 Unterschiede“ zu spielen. Ein Chor wuselt sich unters Volk und gibt Verse zum Besten, was von fern an die Spektakel der Benno-Besson-Ära erinnert und die Öffnung des Theaterraums ins Außen. Was zugleich aber auch den leicht krustigen Interaktionstheatercharme von Mittelaltermärkten vermittelt, den sich professionelle Sektglashalter und Schnittchenverzehrer wie Fusseln vom Anzug putzen würden.

Souverän selbstironisch

Das Premierenpublikum ist gewohnt unterglamourös. Zu den Verdiensten von Castorfs Volksbühne gehört, dass man hier ins Theater geht wie an den Tresen einer Stammkneipe. Beim superduper Faust-Projekt zur Expo 2000 von Peter Stein (er hatte den Längeren: 22 Stunden) war bestimmt mehr von dem Personal anwesend, das als, wie man in den 1950er Jahren noch gesagt hätte, bessere Gesellschaft gilt. Die Prominenz bleibt überschaubar: 1 Ex-Kulturstaatsministerin (Christina Weiss), 1 Ex-Kultursenator (Thomas Flierl), kein amtierender Kultursenator (Klaus Lederer), Tom Tykwer und Henry Hübchen, wobei Letzterer nicht zählt, weil für den der Volksbühnen-Besuch wie ein Klassentreffen ist (bis kurz nach der Jahrtausendwende Ensemble-Mitglied als best Castorf-Alter-Ego ever).

Am lustigsten ist für den Gossip-Aficionado zu beobachten, wie vier Leute aus dem Büro an der Ostseite des Rosa-Luxemburg-Platzes treten, in dem der neue Volksbühnen-Leiter Dercon seine Intendanz vorbereitet, um an die Fensterscheibe des Ladenlokals gelehnt distanziert auf das Treiben zu schauen in dem Wissen, dass sie das Morgen sind von dem Heute, das gerade wieder ein wenig zum Gestern wird.

Der Augenblick aber gehört noch der alten Volksbühne, und die Kritik weiß, was das bedeutet. „Dieses Theater, man nimmt es mit einer gewissen Wehmut wahr, ist noch immer das coolste der Republik“, schreibt die Theaterkritikerin der Süddeutschen Zeitung, die sich seinerzeit so gefreut hatte, dass mit Matthias Lilienthal ja auch ein Ex-Mitarbeiter dieser so „coolen“ Volksbühne die Münchner Kammerspiele aufmöbeln sollte, und die schon bald darauf so traurig darüber war, was das im echten Leben bedeutet. Aus hiesiger Perspektive würde man am Befund vielleicht ein wenig zweifeln; die Oversize-Mantel-Dichte als Messgröße zeitgemäßen Hipstertums dürfte am Gorki-Theater jedenfalls größer sein.

Was Castorfs Volksbühne keiner nehmen kann, ist Geschichte. Das ist dann wahrscheinlich mit „cool“ gemeint. Und nicht etwa die Dercon-Parodie, die Alexander Scheer dem Theaterdirektor im Prolog aufsetzt, in dem er den Akzent des Belgiers imitiert und dessen merkwürdige Slogans („Think global, fuck local“). Außerdem bekommt er ein Bier über den Kopf gegossen. Die wohlwollende Kritik nennt die Szene, wenn sie ihr nicht eh angenehm ist, kurz, dabei ist sie viel zu lang und kleinmütig, gemessen an den anderen, souveränen Selbstironien des Abends („Einen Sinn muss das Ganze doch haben. Was bedeutet es? Und wenn es nichts bedeutet: Warum ist es so lang?“). Schon immer wieder erstaunlich, wie angefasst Männer (Dercon hatte im Laufe des Streits diesbezüglich auch Auftritte, die betretenes Auf-den-Boden-Gucken hervorriefen) reagieren, wenn sie ihre Bedeutung in Frage gestellt sehen.

Scheer gehört am anderen Ufer des Abends aber auch die vielleicht größte, dringlichste Szene: ein Monolog, der aus der Faust-Version Manfred des Goethe-Bewunderers Lord Byron zusammengestellt ist. Während Daniel Zillmann zuvor Castorf als peitschenden Regisseur gegeben hatte, kann man durch Scheers Text hindurch Castorfs Selbstgespräch hören, seinen inneren Abschied von diesem Theater (das in der Dialoglogik dann von Valery Tscheplanowa verkörpert würde, während man in Martin Wuttke in diesen Momenten eher den ungeliebten Nachfolger vermutete): „Nein! nicht mischen mocht' ich mich zur Herde, selbst als Führer nicht – von Wölfen. Der Löwe ist allein, und so bin ich.“

Drumherum ist dieser Faust vor allem die größtdenkbare deutsche Theaterstückprojektionsfläche, in die hinein munter Ismen (Neoliberal-, Kolonial-, Privat-) assoziiert werden, deren Bezug zum Faust man am ehesten aber im Aufsatz des Dramaturgen Sebastian Kaiser im Programmheft versteht. Denn zuerst strahlt der Abend als mit perfektionierter Videotechnik transportierte Nummernrevue jener schauspielerischen Idiosynkrasien, die Castorfs Ensemble (Hosemann, Tscheplanowa, Rudolph, Stangenberg, Buabeng, Büttner, Guerreiro, Traoré, Sir Henry) nun in dritter oder vierter Generation (Hanna Hilsdorf) sich gönnt. Und die in Sophie Rois’ Kurzauftritt komprimiert sind, wenn sie wie die Königin vons Janze lustvoll Achterbahn fährt in den Modulationsräumen ihrer Stimme.

Das wird es so nicht wieder geben, denkt man sich beim dann auch nicht parteitagslangen Beifall um 1.06 Uhr. Heiter wird’s, wenn die Theatertreffen-Jury ähnliche Kondolenzgefühle kriegt und den Laden im Mai 2018 noch mal wiedervereint im Exil.

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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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