Man sollte sich als deutscher Leser des Buches Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß von Hiromi Kawakami keinen Illusionen hingeben. Eine Vielzahl der Anspielungen, ein Großteil der Poesie, die den Reiz der darin erzählten Liebesgeschichte vermutlich nicht minderten, wird man nicht verstehen. Daran vermag auch das Glossar am Ende des Buches nichts zu ändern - zum einen erweist es sich in der Auswahl der erklärten Begriffe als recht beliebig, zum anderen wird das Verständnis einer Kultur sowieso nicht durch Definitionen genährt.
Schon eher, das Wort nähren deutet daraufhin, kann man ein fremdes Land über dessen Küche kennen lernen; ein Hinweis, der weltweit Gültigkeit haben mag, aber bei dem man sich vorstellen kann, dass ihn ein Japaner zuerst gegeben hat. Einen anschaulichen Beleg dafür liefert das Buch Der Himmel ist blau, die Erde weiß, das eine Liebesgeschichte erzählt, die sich wie ein Speiseplan liest. Wenn man versuchte sich vorzustellen, eine deutsche Autorin hätte dieselbe Geschichte erzählt, würde sie wohl nur wenige Seiten umfassen: Man muss eine sehr hohe Meinung vom Essen haben, um derart ausdauernd von ihm zu schreiben.
Oder um noch weiter zu gehen: Ohne einen Sinn fürs Kulinarische, könnte die Liebesgeschichte, die die Ich-Erzählerin Tsukiko erlebt, sich gar nicht ereignen. Gleich auf der ersten Seite ist zu lesen: "Er saß kerzengerade an der Theke, ich setzte mich neben ihn: Eine Portion Thunfisch mit fermentierten Sojabohnen, einem gebratene Lotuswurzeln in süßer Sojasoße und eingelegte Perlzwiebeln dazu, bitte!, rief ich dem Wirt zu. Der ältere Mann neben mir bestellte nahezu gleichzeitig eben diese Gerichte."
Der ältere Herr mit dem ähnlichen Geschmack ist, wie sich rasch herausstellt, Harutsuna Matsumoto, der ehemalige Japanischlehrer von Tsukiko, den sie aus diesem Grund nur Sensei nennt, Lehrer. Für den Auftakt zu einer Romanze kann man sich glücklichere Konstellationen vorstellen: Zwar ist die 37-jährige Tsukiko dem Alter und den Verhältnissen lang entwachsen, in denen der Liaison zu einem Erzieher etwas Unmoralisches anhaften könnte. Aber die hierarchische Distanz zwischen Schülerin und Lehrer, zumal in einer Gesellschaft besonderer Höflichkeit wie der japanischen, besteht auch dann noch, wenn die Weisungsbefugnis lange zu Ende ist. Und Kawakami tut wenig, um den Abstand zwischen der Frau und ihrem ehemaligen, 30 Jahre älteren, verwitweten Lehrer zu verringern: "Seit unserer dritten Begegnung beglich jeder seine Rechnung selbst."
Die Begegnungen, die erst gegen Ende des Buches die Bezeichnung "Dates" bekommen, vollziehen sich lange Zeit zufällig (oder schicksalhaft, wie man will). Das Essen verbindet auch dann, wenn ein Dissens über Baseball für kurzfristige Funkstille sorgt, während derer die Mahlzeiten schweigend nebeneinander eingenommen werden. Oder wenn die beiden für einander Bestimmten sich aus den Augen verloren haben. Hiromi Kawakami erzielt durch die Kühle und die Lakonik, mit der sie die sich anbahnende Verbindung schildert, den Effekt einer sich langsam und unausgesprochen ausbreitenden Zuneigung. "Wenn ich es mir recht überlegte, war der Sensei in letzter Zeit der Einzige gewesen, mit dem ich etwas unternommen hatte ... Ich war immer allein. Ich fuhr allein Bus, lief allein durch die Stadt, ging allein einkaufen, trank allein Sake. Eigentlich fühlte ich mich allein auch nicht anders als in seiner Gesellschaft. Demnach war ich nicht auf ihn angewiesen, aber andererseits kam es mir natürlicher vor, wenn der Sensei dabei war." So kann man die Liebe auch erklären.
Als Katalysator der Gefühle tritt Takashi, ein alter Schulfreund von Tsukiko auf. Der wirbt nicht uncharmant um sie, und führt Tsukiko dennoch nur vor Augen, wem eigentlich ihr Herz gehört. Der Unterschied wird am Essen deutlich: Während Takashi Tsukiko mit der Aussicht auf ein erstklassiges Mahl zu einem Ausflug zu überreden versucht, sträubt sich der Sensei, mit dem Tsukiko wiederum gern verreisen würde, gegen einen solchen mit dem Hinweis, dass man, um gut zu speisen, nicht weit fahren müsse. Das Essen in seiner Fülle ist bei Kawakami ein Bild für das Rätsel der Liebe, für den irrationalen Rest in der Gefühlswelt, der in Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß als Geschmacksfrage auftaucht: Während Tsukiko Art und Tempo des Sake-Trinkens beim Sensei aufs Höchste bewundert, bleiben ihr die kulinarischen Bemühungen Takashis immer äußerlich. Liebe ist nicht, dem anderen edelste Köstlichkeiten zu servieren, sondern seinen Geschmack zu kennen: "Der Sensei würde bestimmt als Erstes Bonito und Sauerbohnen bestellen."
Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß ist ein in seiner Anlage filmisches Buch, das bisweilen zum Kitsch neigt, durch seine höfliche Behutsamkeit aber auch vieles unerklärt lässt. Bestes Beispiel dafür ist der Sensei, der in seiner lehrerhaften Besserwisserei durchaus unsympathisch erscheinen kann, dessen Akkuratesse zugleich aber etwas Künstlerisches hat. Sein Geheimnis wird bis zum Ende nicht gelüftet.
Hiromi Kawakami Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß. Eine Liebesgeschichte. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler, 183 S., Hanser, München 2008, 17,90 EUR
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