Als Bundeskanzlerin Angela Merkel am Sonntagabend Joachim Gauck als Kandidaten für die Christian-Wulff-Nachfolge vorstellte, kam sie nicht umhin, von der „Idee der Freiheit“ zu sprechen, für die er stehe. Gauck selbst war es bei seiner unmittelbaren Reaktion vor der Presse wichtig zu sagen, „dass die Menschen in diesem Land lernen, dass sie in einem guten Land leben, dass sie lieben können, weil es die wunderbaren Möglichkeiten gibt, in einem erfüllten Leben Freiheit für etwas und zu etwas zu leben, und diese Haltung nennen wir Verantwortung.“ Und der ehemalige Fernsehmoderator Ulrich Wickert machte sich später in der Günther-Jauch-Sendung die Mühe, Gaucks Freiheitsbegriff zu erklären und vor allem, dass der an die Verantwortung für andere gebunden sei.
Wo Gauck auftaucht, ist von der Freiheit die Rede. Und wie zum Beleg dieser Verbindung zog der Kösel-Verlag in München die Veröffentlichung des Büchleins Freiheit. Ein Plädoyer des einstigen evangelischen Pastors auf den Tag nach seiner Nominierung vor. Was also bedeutet die Freiheit nach Joachim Gauck?
Auf einer ersten Ebene ist die DIN A6 große, 64 Seiten starke, großzügig layoutete Publikation eine symbolische Veröffentlichung. Der Text basiert auf einer Rede, die Gauck bei einem Neujahrsempfang in der Evangelischen Akademie Tutzing 2011 gehalten hat. Das Buch erweckt schon ob seines Umfangs den Eindruck, dass es ihm weniger um eine sorgsam ausgearbeitete Grundlegung der Gauck’schen Gedankenwelt geht als vielmehr um die rasche Befriedigung eines öffentlichen Interesses an der Person.
Scharfe Braut
Auf einer zweiten Ebene ist die Veröffentlichung programmatisch. Sie schließt an das vorletzte Kapitel von Gaucks Lebenserinnerungen Winter im Sommer. Frühling im Herbst aus dem Jahre 2009 an. Dort wie hier sticht einem zuerst die emotionale, wenn nicht libidinöse Verbindung Gaucks zu seinem Lieblingsbegriff ins Auge: als „Liebhaber der Freiheit“ stellt Gauck sich selbst den Lesern seiner Schrift vor, und den Gedanken einer innig-verwandtschaftlichen Beziehung zur Freiheit führt er noch in der Auswahl eines Heine-Zitats aus: „Der Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmäßiges Weib... Der Franzose liebt die Freiheit wie seine erwählte Braut... Der Deutsche liebt die Freiheit wie seine Großmutter.“ Was die Freiheitsliebe betrifft, muss man sich Joachim Gauck als „Franzosen“ vorstellen.
Die Erklärung für die liaison amoureuse findet sich in den Memoiren: „Doch ich wollte und will mir jene warme und tiefe Zuneigung zur Freiheit erhalten, die wohl nur versteht, wer sich lange und intensiv nach ihr gesehnt hat und in ihr magnetisches Feld geraten ist.“ An dieser Stelle sind zwei Punkte interessant.
Zum einen der jahrelange bangende Mangel, der im Moment der Erfüllung die ungemeine Innigkeit der Verbindung Gauck-Freiheit gestiftet hat. Diese Verbindung hat etwas Missionarisches (auf der Pressekonferenz mit Merkel sprach er von „wieder lernen“). Gaucks Freiheitsprojekt besteht darin, die Deutschen, die seine Erfahrung von 1989 ff. nicht teilen, von der Liebe zu einer scheinbaren Selbstverständlichkeit zu überzeugen, indem er diese als für ihn, den Dazugekommenen, noch immer exquisit schildert. Das christliche Stellvertreterprinzip wird erkennbar: Gauck hat etwas erfahren, das der Westdeutsche so nicht erfahren haben kann, weshalb Gauck dem Westdeutschen dankenswerterweise die Härte der Erfahrung erspart, ohne ihm das darin zu findende Glück vorzuenthalten.
In den nicht ganz unproblematischen Auseinandersetzungen, unter denen das vereinte Deutschland in den letzten 20 Jahren mitunter wahrgenommen werden konnte („Jammerossi“, „Besserwessi“), ist diese Positionierung von Gauck zweifelsohne geschickt, ja avanciert. Er integriert sich in die Mehrheitsgesellschaft, indem er seine Vergangenheit nicht zurücklässt wie ungewollten Ballast. Er leugnet den Mangel, die Zurückgesetztheit nicht, sondern entfaltet gerade daraus die Geschichte einer belehrenden Überflügelung. In den Erinnerungen wird ein Erweckungserlebnis zitiert, bei dem Gauck seinem westdeutschen Gegenüber dessen Geschichte, die seit kurzem erst Gaucks Geschichte war, mit totaler Begeisterung erzählte, und der Westdeutsche schließlich nur noch strahlen konnte: „Ich habe eben immerfort ja, gesagt, ja, ja.“ Vielleicht ist in dieser Szene Gaucks Funktion und Erfolg seit 1990 beschrieben: Was der Westdeutsche nur als Sonntagsrede kennt, lädt Gauck ihm mit seinem eigenen Lebenslauf emotional auf.
Beziehungsarbeit leisten
Nun könnte man gegen Gaucks Schwärmerei ins Feld führen, dass die Liebe zwar ein attraktives Gefühl ist, aber vielleicht nicht das langlebigste. Insofern ist es bewunderswert, dass Gauck sich seine Freiheitsliebe 20 Jahre lang erhalten hat. Wenn man will, steckt in dem Wollen zum Freiheitsgefühl („will mir jene Zuneigung ... erhalten“) das Wissen, dass Beziehungen scheitern können. Kann man, verliebt in die Freiheit, Beziehungsarbeit leisten? Muss man gar?
Der Freiheitsliebhaber Gauck ist sich der Flüchtigkeit des Gefühls durchaus bewusst, weshalb er bei der „Verantwortung“ an eine stabilere Bindung appelliert wie die zwischen Mutter und Kind. Die „Verantwortung“ gehört mit der „Toleranz“ zu dem, was neben der Freiheit laut Gauck unsere Gesellschaft ausmacht. Leider lässt sich nicht sagen, wie diese Begriffe zusammenhängen, Gauck argumentiert nicht nur hier unscharf. Einerseits scheint die Verantwortung das zu sein, worin die Freiheit zwangsläufig mündet („Wie willst du Freiheit gestalten?“), andererseits braucht die Verantwortung die Freiheit überhaupt nicht, weil sie sich dem Glück der „Bezogenheit“ verdankt („Selbst die Nutzer von Facebook wünschen sich ja Bezogenheit, letztlich Gemeinschaft“).
Bei der Toleranz überrascht der sonst so positivistische Gauck mit der Volte, den Begriff nur ex negativo zu gebrauchen: „Wir sollten daher nicht der irrigen Meinung sein, dass wir der Toleranz etwas Böses antun, wenn wir noch einmal unsere christlich-jüdische Dogmatik anschauen, fragen, welche Werte für unsere Gesellschaft heilsam und wichtig sind, und sie neu zu schätzen lernen.“ Das ist ein ungewöhnlicher Zug, der sich mitunter auch ungewöhnlich liest: „In der Tradition unserer antikapitalistischen Selbstgeißelung kann es tatsächlich so weit kommen, dass nicht wenige sagen: ‚Wir wollen ja andere nicht überfremden.‘“
Abwesende DDR
Abgesehen davon, dass man noch niemanden einen solchen Satz hat sagen hören, drängt sich gegen Ende der Freiheit-Schrift der unangenehme Eindruck auf, dass Gauck diffus von Sachen redet, die er direkter nicht sagen kann oder will. Wenn er von Toleranz spricht, meint er sie nie. Toleranz ist hier eine Art Mixed-Zone, in der man auf kulturell oder religiös „Andere“ trifft, und weil diese Begegnung für den eigentlich so furchtlosen Gauck angstbesetzt zu sein scheint, spricht er dem Leser Mut zu, dort nur mit durchgedrücktem Rücken aufzulaufen: „Es ist wichtig zu begreifen, dass wir der Toleranz nicht dienen, wenn wir unser Profil verwässern.“ Was Gauck hier „Profil“ nennt, würden andere vielleicht als „(Leit-)Kultur“ bezeichnen. Vielleicht auch nicht, denn Gauck driftet ins Erratische, wenn er, wie bei „Verantwortung“ und „Toleranz“, sich Gedanken über Dinge macht, die er nicht sentimental mit seiner Biografie belegen kann. Ein Intellektueller ist Gauck also vermutlich nicht.
Dafür spricht auch, dass sein Lieblingsbegriff Freiheit keiner genaueren Definition unterliegt. Freiheit ist bei Gauck vor allem als die Abwesenheit von DDR zu verstehen. Diese Bestimmung leuchtet auf gewisse Weise ein (Mauer), steht aber als Konzept vor dem Problem, dass die DDR seit 20 Jahren abwesend, Freiheit in diesem Sinne also ein altmodischer Begriff ist. Heutige Unfreiheiten kriegt man mit solch einer ideologisch aufgeladenen Idee schwer zu fassen.
So ist Freiheit im Gauck’schen Pathos nicht mehr als ein Label, das auf einer abgeschlossenen Erfolgsgeschichte pappt, die er für sich privatisiert hat. Wo Gauck auftaucht, ist die Freiheit – ein Markenzeichen des Umbruchs von 1989. Der kommende Bundespräsident ist ein One-Trick-Pony, der David Hasselhoff des „politischen Raums“ (Gauck). Hasselhoff hatte als Sänger auch nur einen Hit, ungefähr zur selben Zeit, zu der sich Gaucks Freiheit ereignete: I’ve been looking for Freedom/I’ve been looking so long.
Kommentare 17
Ach, es jammert nicht nur einen Hund, dass man sich heute mal wieder die Kommentarfunktionen geradezu erkämpfen muss. Aber ich habs geschafft und danke Ihnen -das ist ja eine herrliche Analyse. Er wird Sie dafür aber nicht segnen.
Das Ding mit Gaucks Freiheit habe ich auch gerade beim Wickel für die nächste Blog-Runde. Da werden Sie wohl als Link getarnt plagiiert werden.
Das mit dem Hasselhoff ist schon mal der Superknaller.
Mein Gefühl ist, dass der Gauck der echteste aller DDR-Nostalgiker ist. Der braucht die DDR ständig, um Freiheit zu fühlen.
Gauck erscheint mir dem Gruselkabinett streng religioeser Patriarchen entsprungen. Eine Figur, die eigentlich in die Vergangenheit gehoert. Diese Menschen haben etwas gnadenloses an sich. Sie sind getrieben vom Ruf und der Mission, den Menschen ihren Glauben, ihre Sichtweise der Dinge erklaeren und beibringen zu muessen. Toleranz gegenueber anderen Sichtweisen, anderen Glauben oder gar gegenueber Nicht-Glauben ist eher hinderlich als foederlich fuer ihre Mission. Deswegen spielt Toleranz, wenn ueberhaupt eine, nur eine untergeordnete Rolle.
Filbinger, ehemals Ministerpraesident in Baden-Wuerttemberg, galt aus guten Gruenden als "schrecklicher Jurist". Gauck waere in der Tat ein "schrecklicher Praesident".
Gauck erscheint mir dem Gruselkabinett streng religioeser Patriarchen entsprungen. Eine Figur, die eigentlich in die Vergangenheit gehoert. Diese Menschen haben etwas gnadenloses an sich. Sie sind getrieben vom Ruf und der Mission, den Menschen ihren Glauben, ihre Sichtweise der Dinge erklaeren und beibringen zu muessen. Toleranz gegenueber anderen Sichtweisen, anderen Glauben oder gar gegenueber Nicht-Glauben ist eher hinderlich als foederlich fuer ihre Mission. Deswegen spielt Toleranz, wenn ueberhaupt eine, nur eine untergeordnete Rolle.
Filbinger, ehemals Ministerpraesident in Baden-Wuerttemberg, galt aus guten Gruenden als "schrecklicher Jurist". Nun bekommt die Bundesrepublik noch einen "schrecklichen Praesidenten".
Gauck ist ein ewig Gestriger und bewusstseinsmäßig 1989 stehen geblieben.
Das Wort "Freiheit" hat bei ihm einen mehr als fahlen Beigeschmack. Er hat bis heute nicht verstanden, warum die Geschichte so gelaufen ist und warm Kapitalismus nicht wirklich identisch mit "echter Freiheit" ist, sondern einfach Ausdruck dessen, dass die Freiräume (z.B. gegenüber dem Realsozialismus sind er DDR) auf etwas völlig anderem basieren: Gleichgültigkeit (nämlich gegenüber dem Kapital als gesellschaftlichem Gesamtverhältnis).
Deshalb argumentiert Gauck auch so naiv und unbekümmert pro- Neoliberalismus, pro-Finanzkapital, pro-Sarrazin usw. Ein klarer Ausdruck von fehlendem Bewusstsein und falschen Grundüberzeugungen.
...das ausgerechnet so einer nun Bundespräsident werden soll - also sarkastisch gesagt - das passt schon zu diesem System.
Chapeau Monsieur Dell. Schon 2010 hatte ich, bei aller Abneigung gegen die IM Erika-Marionette Wulff den kurzen Gedanken, daß es doch nicht angehen könne, statt seiner einen Hutterer oder Amish (nix gegen diese braven Leute, bewahre) eine Industrienation des 21. Jahrhunderts repräsentieren zu lassen ...
hübsch geschrieben :-)
und ja ... ich finde es WIRKLICH noch immer unerfreulicher, von einem in meiner auffassung ziemlich bekloppten opportunisten gauck vertreten werden zu sollen als von einem ziemlich bekloppten opportunisten wulff vertreten worden zu sein.
aber das ist vielleicht nur eine kurze regung, die alsbald der von dem obigen artikel großartig beförderten einsicht weicht, daß es vollkommen egal ist, ob oder ob nicht der eine oder andere oder auch keiner bundespräsident heißt. :-)
vielleicht könnte man solche SEHR bekloppten aber auch schon - ein bißchen papstmäßig - vom amt ausschließen, wenn man von ihnen verlangte, ihren amtsvorgängern nicht zu widersprechen ... dann sollte man jetzt an den doch recht großen herrn heinemann erinnern: "ich liebe nicht den staat, ich liebe meine frau ... "
es gilt als selbstverständlich, daß eine solche anspielung auf das privatleben eines beamten (hm ... ist es allgemeingut, daß der bundespräsident schlicht der beamte mit der höchsten grundbesoldungsstufe ist?) sich nicht gehört. aber hey, anders als durch solche anspielungen auf den doofen wulff würde es die debatte um den gauck nie mehr gegeben haben ;-)
ach, noch ein abschweif: viel lese ich im letzten freitag darüber, daß herr gauck noch viel lernen müsse als bundespräsident. ich entsinne mich auch, daß man herrn wulff - durchaus zu recht - vorhielt, die nummer mit dem staatsoberhaupt sei eben kein lehrberuf.
tatsache ist doch wohl, daß der herr gauck schon jetzt mehr richtig dumme sachen auf dem buckel hat, die für einen präsidenten völlig unerträglich sind, als dem wulff in den nächsten fünf jahren einfallen würden - und ausgerechnet seine unglaubliche dummheit soll ihn zum höchsten staatsamt qualifizieren ... nur, weil er sie mit einer bissigen bambihaftigkeit verkauft?
auch nicht uninteressant ist vielleicht die frage, welches institut sich als erstes für nachweisbare fälschungen hergibt, wenn es irgendwer mal wirklich wissen will: wieso ist da auch im freitag vom "kandidaten des volkes" die rede, wenn es um herrn gauck geht ;-)
Chapeau Monsieur Dell,
Das ist perfekt gelungen. Mehr muss man dazu auch nicht sagen.
Interessant, dass sich so ein Freiheitsliebender wie Gauck jahrelang in einer Behörde eingräbt. Wie man jahrelange Arbeit in muffigen Archiven in einer staatlichen Behörde mit den Begriff Freiheit verbinden kann, ist mir schleierhaft. Andererseit braucht man für die kapitalistische Version der Freiheit jede Menge Geld, so dass das Vorgehen von Gauck dann wiederum verständlich wird.
Und so richtig genießen kann Hochwürgen die vielgeliebte Freiheit dann nach fünf Jahren: ohne Amt und B ... – pardon: Würden, dafür mit einer satten Apanage. Wenn das der Erich Mielke wüßte ...
marvinius
der gustav-heinemann-hinweis ist richtig. zu wulff: da muss man die sachen auseinanderhalten, auch wenn sie immer nur vermengt wurden: gauck konnte 2010 auch so überirdisch richtig erscheinen, weil wulff die blasseste und ödeste inkarnation des politikbetriebs war. man kann äpfel nicht mit birnen vergleichen, ist daraus zu lernen. interessant an der gauck-kritik ist aber, selbst wenn mediale reflexe und berechtigte zweifel, wie der text glaubt, sie formulieren zu können, zeigt am ende in jedem fall, dass nach wulff alle bundespräsidenten immer nur anders betrachtet werden können. insofern wird wulffs historisches verdienst dereinst darin bestanden haben, die modernisierung der staatlichen institutionen vorangetrieben zu haben und ein überflüssiges amt runtergerockt zu haben. das, worum es beim bundespräsidenten geht, kann norbert lammert aka der bundestagspräsident problemlos übernehmen
Suhlt Euch doch in Eurer primitiven Abneigung gegen alles, was nicht in Eure verkümmerte linke Hirnhälfte passt.
Bedingungsloses Grundeinkommen auf Lebenszeit: Der Bundespräsident bekommt es. Aber Ihr nicht.
Das wäre ja alles recht lustig, wenn der Alptraum nicht in Kürze wahr werden, und der Mann für viele Jahre ins Amt gewählt würde. Wo man ihn dann, zusätzlich zu Merkel und Co., ertragen muss.
Für mich fühlt es sich an als ob man entweder resignieren muss, oder den Kampf erst recht aufnehmen.
Dieses mit selbstgefälligem Grinsen und in geduldigem Patriarchen-Ton vorgetragene Geschwalle, servil applaudiert vom Establishment und vergreisten Ex-Progressiven... das kann und soll zermürben. Vielleicht mobilsiert es aber auch Wiederstandkräfte.
Das Problem ist nur dass das gesellschaftliche Momentum das zwei Bankenkrisen erzeugten, verpufft sein kann bis wird den Gauck wieder los sind. Darauf spekulieren die Strippenzieher dieses Coups natürlich.
Jeder Bundespräsident hatte ein Thema, das ihm in seiner Amtszeit besonders wichtig war.
Roman Herzog sprach in seiner berühmten Ruck-Rede die Stagnation in Deutschland an und rief dazu auf, diese zu überwinden.
Christian Wulffs Thema war die Integration. In der einzigen bedeutenden Rede seiner 20-monatigen Amtszeit äußerte er, dass der Islam inzwischen zu Deutschland gehört. Das brachte ihm auch viel Kritik ein.
Es scheint sicher, dass Joachim Gauch die Freiheit zum bestimmenden Thema seiner Präsidentschaft wählen wird. Und hier wird es problematisch. Gauck hat in den letzten 22 Jahren eine Deutungshoheit des Freiheitsbegriffes für sich beansprucht, die untrennbar mit seiner eigenen Biographie verbunden ist. Dadurch verkürzt er Freiheit auf die Abwesenheit der DDR. Nach seiner Nominierung erklärte er vor der Presse, dass
"die Menschen in diesem Land lernen, dass sie in einem guten Land leben, das sie lieben können, weil es die wunderbaren Möglichkeiten gibt, in einem erfüllten Leben Freiheit für etwas und zu etwas zu leben, und diese Haltung nennen wir Verantwortung."
Nun ist erlebte Freiheit etwas sehr individuelles und jeder Mensch versteht etwas anderes darunter. Wer in einer herausgehobenen politischen Funktion die Definition von Freiheit nur aus seiner eigenen Biographie ableitet, verkürzt sie auf die eigene Individualität und nimmt ihr das Universelle. Umgekehrt gilt, wer Unfreiheit nur auf das eigene vergangene Leben reduziert, nimmt sich die Möglichkeit, heutige Unfreiheit zu erkennen. So sind die Äußerungen des Joachim Gauck zur Occupy Bewegung erklärbar.
Was aber ist mit den heutigen Unfreiheiten? Vor wenigen Tagen hat das Bundesverfassungsgericht die bestehenden gesetzlichen Regelungen bezüglich des Zugriffs von Sicherheitsbehörden auf Pin-s und Passwörter im Internet als verfassungswidrig gerügt. Es verletze das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, so war aus Karlsruhe zu vernehmen, wenn Internetnutzer nicht darauf vertrauen können, dass ihre passwortgeschützten Daten geheim bleiben. Der Gesetzgeber wurde aufgefordert, bis 2013 neue und verfassungskonforme Regelungen zu beschließen. Ein solches Gesetz muss von Gauck unterzeichnet und im Bundesanzeiger veröffentlicht werden, ehe es in Kraft treten kann. Wie positioniert sich Gauck zu diesen heutigen Unfreiheiten? Wo beginnt und wo endet Freiheit in einer Zeit, in der Facebook, Google Co scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten im World Wide Web offerieren? Wie bewertet Gauck die praktizierte Freiheit des internationalen Finanzkapitals, selbst ökonomisch stabile Nationalstaaten wie Irland an den Rand der Zahlungsunfähigkeit zu treiben? Wird er diese Entwicklungen ignorieren oder wie sein Vor-Vorgänger Köhler dazu klare Worte finden? Eigentum ist dem Gemeinwohl verpflichtet, heißt es nicht ohne Grund in der Verfassung unseres Landes.
Mit seiner nur aus der eigenen Biographie rührenden Definition des Freiheitsbegriffs ist Gauck nicht in der Lage, auf diese aktuellen Fragen Antworten zu finden.
Die Bedeutung von Freiheit wird immer auch von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt. Gaucks Freiheitsdefinition beruht auf Erlebnissen in einem Staat, der seit 22 Jahren nicht mehr existiert. Wenn er schreibt:
" doch ich wollte und will mir jene warme und tiefe Zuneigung zur Freiheit erhalten, die wohl nur versteht, wer sich lange und intensiv nach ihr gesehnt hat und in ihr magnetisches Feld geraten ist",
so beschreibt dies sein eigenes und ganz persönliches Freiheitsgefühl.
Und Matthias Dell schreibt im aktuellen Freitag: " So ist Freiheit im Gauck`schen Pathos nicht mehr als ein Label, das auf einer abgeschlossenen Erfolgsgeschichte pappt, die er erfolgreich für sich privatisiert hat. Wo Gauck auftaucht, ist Freiheit -- ein Markenzeichen des Umbruchs von 1989."
Nur stellt sich jetzt die Frage, ob jemand wie Gauck, der seinen eigenen Horizont nicht erweitern kann oder will, weil er ein Gefangener seiner Biographie ist, über sie geistige Weite eines für alle Bürger wirkenden Bundespräsidenten verfügt.
Von Rosa Luxemburg stammt der Satz, dass Freiheit immer auch die Freiheit der Andersdenkenden bedeutet. Wenn die verkürzte, aus dem Persönlichen abgeleitete Freiheitsdefinition des Joachim Gauck, die er mit Vehemenz verteidigt, sein Thema als Präsident wird, so bedeutet das auch von Beginn an eine Ausgrenzung aller Menschen, die Freiheit anders verstehen und leben als er.
Das wäre allerdings kein gutes Omen für die Gauck`sche Präsidentschaft.
Loving for Freedom
Super Artikel, der dem Autor, schätze ich, das gesamt Wissen der Logik und des Denkens abverlangt hat, was bei der verquasten Sprache Gaucks sicher nicht einfach war. Eine intellektuelle Herausforderung.
Manchen Satz musste ich mehrmals lesen.
Hier ist so einer:
"Bei der Toleranz überrascht der sonst so positivistische Gauck mit der Volte, den Begriff nur ex negativo zu gebrauchen: „Wir sollten daher nicht der irrigen Meinung sein, dass wir der Toleranz etwas Böses antun, wenn wir noch einmal unsere christlich-jüdische Dogmatik anschauen, fragen, welche Werte für unsere Gesellschaft heilsam und wichtig sind, und sie neu zu schätzen lernen.
Toleranz ist bei Gauck ein Begriff, den er nur "ex negativo" gebraucht, d.h. im Klartext: Null Toleranz. Er schließt sie aus. In seinem Freiheitsdenken gibt es diese nicht.
Im Klartext:
Menschen die sich doch der Tolerenz verpflichtet fühlen, haben eine irrige Meinung. Sie glauben, sie täten der Toleranz Böses. Das tun sie aber nicht, denn unsere christlich-jüdische Tradition zeigt alle Werte die wichtig und heilsam für eine Gesellschaft sind.
Wenn sich also alle danach richten, laufen sie im Gleichschritt marsch - dann gibt es keine Bummler und aus der Reihe tanzenden - und wenn es die nicht gibt braucht man auch keine Toleranz. So kann man Toleranz abschaffen.
Gauck - der so von Freiheit schwadroniert (sage ich mit Absicht) und Gleichheit bzw. Konformität für alle will, hat Angst vor der Freiheit.
: Ein Intellektueller ist Gauck also vermutlich nicht.
Das vermute ich auch. Aber da Freiheit ja auch die Freiheit des Andersdenkenden ist, nehme ich die Gauck´sche Interpretation erst mal so hin. Ich habe mal ein tolles Buch von Peter Bieri gelesen: Das Handwerk der Freiheit. Es ging da um den freien Willen. Jedenfalls blieb da nach langem hin und herphilosophieren über die Freiheit im Grunde eine einzige mir sehr einleuchtende Definition übrig:
Freiheit ist der Umstand ohne innere und äußere Zwänge zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen/ entscheiden zu können
Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen
Gauck selbst müsste theoretisch jetzt schon merken, wie abstrakt der Freiheitsbegriff ist. Noch vor seiner Wahl wird ihm öffentlich gesagt, dass er sich doch bitte nicht die Freiheit nehmen solle, mit einer Frau zusammenzuleben und mit einer anderen verheiratet zu sein. Und sein Vorgänger musste ja letztlich auch begreifen, dass er in diesem Job weniger Freiheiten hat als ein durchschnittlicher Provinzpolitiker.
Ohne eine genauere Definition ist "Freiheit" eine hohle Phrase. Gerade deshalb gehen ja diverse rechtspopulistische Parteien Europas bis hin zur Stadtkewitz-Zelle unter dieser Flagge bei geistig schwach Bemittelten hausieren.