Die Idee der literarischen Gattung ist auf den Hund gekommen. Was einst als Setzkasten zur Klassifikation gedacht war, in den man die verschiedenen Textarten wie Schmetterlinge säuberlich voneinander scheiden konnte, spielt bei der Bewertung von Literatur heute keine Rolle mehr. Roman ist, was auf dem Schutzumschlag so heißt. Damit wird allenfalls noch müde der Erwartungshaltung des Lesers Rechnung getragen, der bei Literatur nur an "Roman" denken kann und beim Kauf eines Buches womöglich mehr Wert auf Einbandgestaltung und Autorenportrait legt als auf eine präzise Gattungsbezeichnung.
Daran muss denken, wer Thomas Langs schmales Buch Am Seil zur Hand nimmt. Es heißt Roman, wäre unter der philologisch strengen Brille vergangener Tage wohl aber treffender als Novelle beschrieben. Lang konzentriert sich auf das erzählerische Kerngeschäft einer Begebenheit, die sich in einem überschaubaren räumlichen wie zeitlichen Rahmen ereignet. Der Zierrat des Romans - Nebenfiguren, Nebenhandlungen, Nebenschauplätze - bleibt ausgespart. Der 1967 geborene und in München lebende Lang ist ein asketischer Erzähler. Einen Effekt dieses Habitus könnte man Salami-Taktik nennen. Nur allmählich drückt der Autor mit der Sprache aus, was es mit seinen Figuren auf sich hat. Das bekommt der Geschichte gut, insofern sie frühzeitig einen kriminologischen Verdacht auf jegliches Handeln wirft.
"Ist da wirklich ein Geräusch, als die Grasnarbe platzt, oder ergänzt er das in seinem Kopf? Selbst darüber kann er nachdenken, während er zusieht, wie der Seitenständer widerstandslos im feuchten Boden verschwindet, das Motorrad sich neigt", beginnt das Buch umstandslos mit einer Innensicht. Sie gehört zu Gert, den man da - das Motorrad ist geklaut! - noch für ein abenteuerliches Crash-Kid halten kann. Die Wahrheit ist aber viel schlimmer. Gert ist 45 und ein gewesener Fernsehkomiker. Seine Sendung hat er verloren durch zwei Skandale, die - wie der Roman durch Äußerungen von Unbeteiligten reportiert - von der Boulevardpresse weidlich ausgeschlachtet wurden. Dass er einer Assistentin zwischen die Beine gegriffen hat, ist noch das kleinere Übel. Schwerer wiegt die Liaison mit einer Minderjährigen, die unpassenderweise den Namen Felicitas trug und auf seinem Beifahrersitz zu Tode kam. Beschädigt ist seitdem nicht nur das Image von Gert, beschädigt ist auch sein linker Arm. Beschädigt ist schließlich seine Seele, das heißt, sie war es immer schon. Durch den streng-besserwisserischen Lehrervater und eine Mutter, die seine Flausen (Malerei, Schauspielschule) nur unterstützt hat, um sie ihm auszutreiben.
Damit wären wir im Zentrum des Romans, einer Vater-Sohn-Geschichte, die sich bald als Lauf eines sich ankündigenden Todes herausstellt. Das geklaute Motorrad von Gert parkt vor dem Altersheim von Bert. Thomas Lang macht sich über das Altern keine Illusionen. "Erschreckend, aber er fühlt so", heißt es über Gert, fast so, als wollte sich Lang für seine Unbarmherzigkeit gegenüber dem Verlust von Schönheit, dem Verfall der Menschenhüllen entschuldigen. Unter dem Blick des kaputten Zynikers öffnet sich eine in stiller Reibungslosigkeit funktionierende Wartehalle auf den Tod, die - eine der besten Passagen des Buches - nach der abstrakten Grausamkeit eines Farbensystems geordnet ist. "Vier Farben, vier Schritte auf dem Weg ins Grab." Orange, Grün, Rot, Blau, in der Reihenfolge. "Der grüne ist noch ein Wohnbereich. Manche halten sich an dieser Grenze jahrelang, sie glauben häufig, die Endstufe schon erreicht zu haben. Dann kommt ein verschneiter Tag, sie geben nicht Acht und schlagen beim Spazierengehen hin. Oberschenkelhalsbruch, das bedeutet Klinik. Von dort geht es auf die rote zurück. Rot und Blau sind Pflegestationen. Fast niemand kehrt ins Wohnen zurück."
Bert liegt an der Grenze, ein vormaliger Sport- und Englischlehrer, ein tätiger Mann, nun angewiesen auf Hilfe bei allem, auf den Gehbock, auf Schwester Bubi, die er heimlich liebt. Das Beispiel eines Mitinsassen, mit Namen Vornegger, der von einem Tag auf den anderen die Grenze übertrat, ist ihm Abschreckung, das Wort Vorneggers, der sich eine Pistole kaufen wollte, um wenigstens eine letzte Entscheidung in der Hand zu behalten, Anhaltspunkt eines möglichen Auswegs.
Lang wechselt munter die Perspektiven von Vater und Sohn, von Bert und Gert, und offenbart so zweifach Einsicht in zerstörtes Leben. Der geschiedene Bert leidet aus Stärke, die er nicht mehr besitzt, der einsame Gert aus Schwäche, die ihn früh befallen hat ("In der Summe sind es die Kleinigkeiten, die einen zerrütten.") Die Begegnung der beiden ist ein stummes Endspiel, sie haben sich nichts zu sagen, alte Vorwürfe und ewig unterdrückte Rechtfertigungen, und sind doch aneinander gebunden. Der Alte braucht die körperliche Unterstützung des Jüngeren für seinen Plan vom selbst gewählten Ende, der Jüngere das Geld des Alten ("Wenn er so überlegt, hatte es doch immer was mit Geld zu tun, wenn Gert ihn besuchte"), das seinen inneren Bankrott aber nicht mehr abwenden kann. Verdichtet wird dieses fatale Aneinanderhängen in der Schlussszene, der Rückkehr auf den heimatlichen Hof, auf den Zwischenboden der Scheune, von dem der Alte in den Tod springen will. Ein Geziehe, Geschiebe, Gewuchte, das Vater und Sohn so nah bringt wie nie zuvor, unweigerlich verbunden durch das Titel gebende Seil, das aus zwei Schicksalen eins macht.
Dieses, das letzte Kapitel, das sich eine überraschende Wendung ins Offene vorbehält, hat Thomas Lang im letzten Jahr in Klagenfurt gelesen, und damit, denkbar knapp, den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. Der nun vorgelegte Roman leidet unter akribischer Verdichtung des Finales, weil er sie sich vorher kaum gönnt. Lang ist ein Beschreiber, der dem sachlichen Blick eines filmisch anmutenden Kameraauges mehr traut als der raffenden Kraft der Metapher. Seine Subtilität hat den Vorteil, das sie sich nur selten ("Junge Mädchen wirken nur in der Vorstellung anziehend. In Wirklichkeit sind sie psychische und soziale Ich-AGs") vertut in der Wahl ihrer sprachlichen Mittel. Andererseits verleihen die um Zurückhaltung bemühten Schilderungen Am Seil eine Blässe, die durch Psychologie kaum grundiert ist. Der Verfall der Alten und die Kaputtheit der Noch-nicht-so-Alten sind letztlich Klischees, an deren Plattheit Lang nicht kratzt, wiewohl ihm durch die beiden Ich-Perspektiven die Möglichkeit zum Tiefgang offen steht. Deutlich wird das etwa an der Figur des Vaters, der Lehrer und Hofbesitzer gewesen sein soll, ohne dass ein spezifisches Milieu dahinter sichtbar würde. Und Besserwisserei, wie sie Bert auszeichnet, ist keine ausschließliche Qualität von Lehrern. Journalisten, zum Beispiel, verfügen auch darüber.
Thomas Lang: Am Seil. Roman. C.H.Beck, München 2006, 174 S., 16,90 EUR
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.