Vor zwei Wochen ist Disneys Schmonzette Zeit zu leben in die deutschen Kinos gekommen. Der Film ist der Rede kaum wert, eine simple Weltheilungsgeschichte, in der nichts „ich“ sagt und alles aus dem Baukasten sentimentalen Mutzusprechens stammt: routinierte Dramaturgie, klischeehafte Antagonismen, vorhersehbares Happy End.
Bemerkenswert ist der Film als Sedativum eines Kinos, das den von „Sorgen“ geplagten Zuschauer im Kinosaal mit sich und der Welt auf einfachste Weise versöhnen will. Es geht um das Leiden an den Vätern, selbst wenn sie gerade gestorben sind. Sohn Sam, bei dem es beruflich nicht so läuft, soll der unehelichen Tochter Frankie, seiner ungeahnten Schwester, Geld überbringen, das er selbst gebrauchen könnte, damit die ihr Leben als Barkeeperin und Mutter auf die Reihe kriegt.
Es ist nicht leicht, in Zeit zu leben Spuren zu finden, die man mit so etwas wie Aktualität in Bezug setzen könnte. Heutig ist der Film in den Charakterisierungen: Sam arbeitet in einer dieser international operierenden Vertickerbuden, in denen die Jobanforderungen mit den Fähigkeiten des Spielers im Casino deckungsgleich sind. Frankie figuriert als hart arbeitende, ungelernte Prekärbeschäftigte in den Weiten des amerikanischen Dienstleistungssektors, auf die sich Politiker in Wahlkampfreden beziehen, wenn sie Volksnähe demonstrieren wollen. Und der verstorbene Vater war ein Musikproduzent, dessen Vinylsammlung wie das Mausoleum eines nicht mehr funktionierenden Geschäftsmodells wirkt.
Das Tollste an Kurtzmans Film ist der Originaltitel People like us, der durch sein gnadenloses Wir unverschämt Gefangene macht unter den sogenannten einfachen Menschen, die in den Umverteilungsprozessen gesellschaftlichen Reichtums zuerst Verluste schreiben. Wenn der Hollywoodfilm, der sich aufs Träumen versteht, vom Ende des amerikanischen Traums, also einer trostloser gewordenen Realität erzählen muss, bleibt kaum etwas anderes, als Ermutigungskitsch in hohen Dosen auszugeben.
Die Tatkraft des Mee
Der fehlende Glaube an eine bessere Zukunft verträgt sich schlecht mit dem Positivismus dieses Kinos, was schon den Filmen anzumerken war, die nach der Finanzkrise 2008 zuerst darauf reagieren wollten: Larry Crowne, ein Tom-Hanks-Julia-Roberts-Vehikel, und The Company Men mit Kevin Costner und Ben Affleck, beide aus dem Sommer 2011, beschworen das Wiederaufstehen der Entlassenen, was überzeugter klingt, als es in beiden Fällen ausfiel.
In Cameron Crowes Film Wir kaufen einen Zoo, der in diesem Frühjahr im Kino zu sehen war, geht es einen Schritt weiter. Zwar setzt der Film ebenfalls auf dieses Superbürgersubjekt, das sich durch Wille und richtiges Anstellen sein gutes Leben wiedererkämpft. Das Krisenhafte für die people like us, die sich vom „Wir“ im Titel wiederum gemeint fühlen sollen, wird hier aber geschickterweise auf symbolischer Distanz gehalten und mit politischen Invektiven versehen. Der Film restauriert den Kitsch, indem er eine „wahre Begebenheit“ zur Wiederauferstehungsgeschichte biblischen Ausmaßes aufbläst.
Benjamin Mee (Matt Damon) ist die Frau gestorben, aber weil in jeder Krise auch eine Chance steckt, kauft Mee einen runtergerockten Zoo. Das Umzugsunternehmen heißt „Mayflower“ wie die Siedlerbarke von 1620, und die autochthonen Angestellten warten anders als die Native Americans seinerzeit freudig auf den Kolonialisator: „Welcome to the brave new Owners“.
Die Wiedereröffnung des Zoos wird als Brücke zu den Kindheitserinnerungen von lokalen Supermarktkassiererinnen dringend herbeigesehnt – im Wege scheint ihr nur der Staat zu stehen, der durch die Entsendung eines fiesen Kontrolleurs Mees totalpositivem Entrepreneurship mit pingeligen Vorschriften kommen will.
Die Tatkraft des Mee, also des privaten Unternehmertums, kann davon nicht aufgehalten werden. Im Tod des alten Tigers stirbt die Frau noch einmal, was aber den Vorteil hat, dass damit aktiv Abschied vom alten Leben genommen werden kann. Wir kaufen einen Zoo ist derart Durchhalteparole und Einübung auf eine ungewisse Zukunft zugleich: Es wird Verluste geben, aber wenn das „Ich“ im „Wir“ sich auf die „Founding Fathers“ besinnt, geht das Leben weiter.
Dystopie als Zukunftsbild der USA
In anderen Genres als den Rührstücken sind die politischen Bezüge im Kino leichter zu finden. In Die Tribute von Panem – The Hunger Games (im Sommer gestartet) – der Verfilmung eines düsteren Kinderbuchs, das die Hausse von Zurück-zur-Natur-Fantasy mit einem recht elaborierten Entwurf von politischer Science-Fiction verbindet – werden zur Protesteindämmung jedes Jahr Spiele auf Leben und Tod veranstaltet. Panem ist eine Dystopie auf die Bewegungen der Gegenwart; das Fantasieland ist als künftige USA lesbar, in der eine Kapitol genannte Zentralregierung den Aufstand domestiziert hat als darwinistischen Wettkampf unter ausgelosten Teenagern aus allen Landesteilen.
Der perverse Unterhaltungsapparat wird hier nicht als Selbstzweck eines zu allem Unsinn fähigen Subsystems (die Medien!) erzählt, sondern ist in die Politik des Kapitol integriert. Präsident Snow (Donald Sutherland) erklärt dem Moderator der „Hunger Games“, dass Angst allein zur Unterdrückung nicht reiche, Hoffnung sei zur Stillstellung der Massen genauso wichtig.
Panem muss man sich also als ein Dschungelcamp fürs Große Ganze vorstellen, in dem die Kandidaten aus den der Macht nahestehenden Distrikten besser präpariert (also privilegiert) sind als die aus den abgehängten. Und Solidarisierung ist eine Option, auch wenn sie in der Streichholzschachtel stattfindet: Ein Pärchen macht auf Liebe und darf deshalb am Ende gemeinsam gewinnen.
Weil man mit Liebe zwar die Bedürfnisse des Boulevards befriedigen kann, nicht aber einen Aufstand vom Zaun brechen, bleibt das Interessanteste an dem Film der Staat-Land-Gegensatz. Dem Kapitol geht es gut, hier herrscht das zynische Wohlstandsglitzern von Manhattan, von dem sich die ärmliche Ehrlichkeit der Provinz nicht verführen lassen soll – aus dieser Perspektive ließe sich Panem eben auch als Tea-Party-Schreckensbild lesen, in dem man schon sieht, was man von zu viel Wall-Street-Washington haben wird.
Panem nimmt bei der Suche nach einem Großkino, das sich von politischen Dauerkrisen der Gegenwart beeindruckt zeigt, eine immerhin ambivalente Position ein. Jay Roaches Komödie Die Qual der Wahl (Anfang Oktober gestartet) ist dezidierter, insofern die Inhaltsleere der Politik, deren einziges Programm Populismus ist und die abhängt von einem Industriellenbrüderpaar (das auf die konservativ-marktradikalen Lobbyisten David und Charles Koch anspielt), am Beispiel eines Senatoren-Wahlkampfs in North Carolina vergnügt durchgespielt wird. Roaches Film ist klug genug, die beiden Kandidaten nicht in „gut“ und „böse“ zu scheiden, was am Ende zwangsläufig keine Hoffnung stiftet.
Das Wolfblitzertum
Irritierend sind in Die Qual der Wahl die medialen Bezüge: Weil die Medienberichte über das Duell im Film von Cameo-Auftritten realer Nachrichtenmoderatoren besorgt werden, verschwindet die Grenze zwischen Fiktion und Realität völlig. Eine hochproblematische Figur wie Wolf Blitzer von CNN (der auch einen Auftritt als er selbst im neuen James-Bond-Film Skyfall hat) leiht Roaches Komödie jene dauererregte Ernsthaftigkeit, mit der er sich im echten Leben durch die wirkliche Nachrichtenlage moderiert. Und deshalb ist es nur konsequent, bei einem deutschen Essayfilm zu landen, in dem einer der kompilierten Tonschnipsel weiß: „First rule in this World: Don‘t pay attention to anything you see in the News.“
Mocracy. Neverland in me, der bei seiner Uraufführung in Hamburg den Klaus-Wildenhahn-Preis auf der dortigen Dokumentarfilmwoche gewonnen hat, strukturiert den weltweit kursierenden Bilderstrom und seine gebauten Äquivalente in den Wirtschaftsdiktaturen wie Dubai oder Kasachstan. Der Berliner Komponist und Musiker Christian von Borries hat einen Film gemacht, der den „Sinn“ des kurzatmigen Wolfblitzertums als Teil eines größeren Zusammenhangs erst hervortreten lässt. Mocracy ist etwas, dass es eigentlich nicht gibt in Deutschland, wo bei ARD und ZDF nur Nachinszenierer à la Guido Knopp arbeiten und nicht, wie bei der BBC, ein Adam Curtis (adamcurtisfilms.blogspot.de), der aus Archivmaterial konsequent thetisch und überfordernd Erzählungen über das Politische generiert, von dem die Tagesschau keine Vorstellung hat.
Natürlich lässt sich einwenden, dass ein solches Verfahren selbst manipulativ ist. In diesem Wissen aber schaut man Mocracy und ist unmittelbar angeregt von den Verbindungen, die der Film herstellt. So verfolgt er etwa die Michael-Jackson-Geste des Moonwalk durch Zeit und Welt, um in der militärisch-märchenprinzhaften Selbstinszenierung des King of Pop das Vorbild für Nursultan Nasarbajews Kasachstan zu entdecken, für das „Democracy“, laut Selbstauskunft, am Ende des Weges steht. Eine moderne Demokratie, in der zuerst die Wirtschaft kommt, dann die Politik.
So gesehen müssen wir uns das demokratische Subjekt nicht als toughes „Ich“ vorstellen, sondern als eine weiterentwickelte Menschmaschine, die Michael Jackson erfunden hat.
Mocracy. Neverland in me wird am 1. November im Berliner Arsenal gezeigt, in Anwesenheit des Regisseurs und zusammen mit dessen Film The Dubai in me (der im Netz frei zugänglich ist unter the-dubai-in-me.com)
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