Als Heiner Müller zu Beginn dieses Jahres seinen 80. Geburtstag gefeiert hätte, wollte die Gedenkfolklore auf ihr scheinbar triftigstes Argument zur Selbstlegitimation nicht verzichten. Müller sei vergessen, wurde in einigen Erinnerungen an den 1995 verstorbenen Dichter behauptet. Eine Behauptung, die nicht wahrer wird, weil sie beinahe jedes Kalenderblatt ziert, mit dem der Journalismus Zeitgeschichte bearbeitet; und die mehr als über die wechselnden Gegenstände der medialen Erinnerung über die routinierten Funktionsweisen des Journalismus selbst sagt.
Interessanter als die billige Klage über das Fehlen eines Namens auf aktuellen Spielplänen wäre zweifellos eine weiter blickende Reflexion über die Konjunkturen von Künstlerruhm –
m – alles andere reduzierte einen Dichter auf die Moden einer promisken Gegenwart und damit auf das Gegenteil der ihm unterstellten Substanz. So musste Heiner Müller, der einer, wenn nicht der maßgebliche Dramatiker der achtziger und neunziger Jahre in Deutschland gewesen ist, nach seinem Tod schon deshalb auch einmal „vergessen“ werden, also weniger präsent sein, damit man sich an ihn überhaupt wieder erinnern kann.Es bedarf also keines Propheten, um zu wissen, dass Heiner Müller uns nicht abhanden kommen wird. Dafür kann man aktuelle Belege finden. Der Dokumentarfilm Material, in dem der Müller-Schüler Thomas Heise die Vielschichtigkeit der Umwälzungen von 1989 gleichsam konkret erfasst, weist bereits durch seinen Titel, einen Müllerismus, auf die Spur des Dichters und seines Denkens. Außerdem liegt im Suhrkamp-Verlag nun die zwölfbändige Werkausgabe vor.Anders verhält es sich mit dem Schriftsteller und Filmemacher Thomas Brasch (1945 bis 2001), den der ebenfalls bei Suhrkamp erschienene Interviewband Ich merke mich nur im Chaos aus größerer Tiefe als aus zeitgenössischer Latenz in Erinnerung ruft. Gründe dafür nennt Brasch selbst, der in den versammelten Gesprächen – gut die Hälfte der über 50 Interviews, die er seit seiner Ausreise aus der DDR 1976 bis zu seinem Tod 2001 gegeben hat – immer wieder nach Müller gefragt wird. „Müller begann zu schreiben, als die heutige DDR ein Trümmerfeld war – und ich begann zu schreiben, als die DDR ein funktionierender Staat war, um den eine Mauer stand. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied.“Suche nach dem politischen Schriftsteller in beiden deutschen StaatenDass Brasch die Bedingungen seines Schreibens reflektiert, ist ein Versuch der Selbstverortung, der in den Gesprächen deutlich hervortritt: „Ein anderer Punkt“, erwidert er 1982 auf eine andere Müller-Frage, „ein ganz entscheidender, der hat nicht viel mit Kunst zu tun ist, daß dieses Land es sehr schwer macht, einen Stoff als einen dramatischen zu begreifen, weil, und das ist ein politischer Grund, jeder Widerspruch, der für ein Stück nötig ist..., hier sehr schwer zu haben ist, weil der Staat, und ein Stück ist auch immer eine Staatsaktion, sich ständig zurückzieht und so tut, als gäbe es ihn nicht, weil die Bundesrepublik 1945 da weitergemacht hat, wo 1933 aufgehört wurde, und eine allgemeine Lüge weiterbetrieben hat, nämlich die der Demokratie.“Braschs Insistieren auf künstlerischen Konflikten ist auch Widerstand gegen den Versuch, als DDR-Flüchtling politisch in Anspruch genommen zu werden. Gerade nach der Ankunft im Westen sieht Brasch sich mit Angeboten und Forderungen an den „Dissidenten“ in ihm konfrontiert. Dem Spiegel erklärt er trotzig, dass das Suchen nach dem „politischen“ Schriftsteller sich in beiden deutschen Staaten eigentlich kaum unterscheidet: „Sie zwingen mir ein Gespräch auf, das ich in der DDR abgelehnt habe“.Den Verlockungen des schnellen Erfolgs (Suhrkamp bot Brasch 100.000 Mark für eine Art Tagebuch über die Wochen der Übersiedlung) widersteht er: „Ich hatte keine Lust, noch mal das gleiche zu spielen, was Biermann schon einmal gespielt hatte und mir nicht unbedingt produktiv für seine Arbeit zu sein schien.“ Brasch windet sich (am spürbarsten im Übrigen in den Gesprächen mit dem Jahre früher gegangenen Fritz J. Raddatz), und wenn sein Verhältnis zur DDR auch widersprüchlich erscheinen mag: Deutlich wird zuerst der Gestus des Überführens, der sich in den wohlfeilen Erwartungen des Westens an ihn fortsetzt.Braschs Außenseitertum (nicht zufällig nennt er immer wieder den solipsistischen Arno Schmidt als Vorbild) lehrt, dass es für einen Künstler keinen festen Ort geben kann. Das betrifft nicht nur das Verhältnis zwischen Ost und West, wo bis heute die Reflexe regieren, deren Schematismus Brasch vor 30 Jahren schon kritisiert hat. Sondern auch die Arbeit am Theater als einem Betrieb, der ständig nach Publicity giert statt sich für die herausfordernden Fragen an ihn zu interessieren. Einen Betrieb, der Preise aus den Händen von Franz Josef Strauß anbietet, für deren Annahme sich der Künstler dann vor einem erbosten linken Milieu verteidigen muss. Aus den Selbstauskünften von Brasch zu dem Eklat, den er mit und bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises 1982 für Engel aus Eisen (er dankte der Filmhochschule der DDR) könnte Navid Kermani Rüstzeug für den schwelenden Streit um solcherart Repräsentationspolitik beziehen.Geistvolle KürzeBraschs Gespräche sind auch deshalb so erhellend, weil sie Beiträge zu einer Biografie, Berichte aus der Werkstatt des Übersetzers (Tschechow, Shakespeare) liefern. Auf einer Entwicklungsgeschichte des Interviews als literarischer Form siedeln sie aber noch unterhalb dessen, was Heiner Müller in seinen späten Jahren der Gattung abgewonnen hat. Den Abschluss der Werkausgabe bei Suhrkamp bilden nun jene drei Bände, in denen 175 Interviews mit Müller abgebildet sind, die er ab Mitte der sechziger Jahre gegeben hat. Sie schreiben eine epische Geschichte (3.000 Seiten) der Formvollendung, die mit eher braven Sachinterviews beginnt und schon bald jene philosophische Erratik und geistvolle Kürze erreichen, die zu Müllers gesamtdeutscher Popularität beigetragen hat. Die drei Gesprächsbände formulieren, womöglich noch mehr als Müllers Stücke, Einspruch gegen die Sorge, der Dichter könne vergessen sein: Heiner Müller wird gerade durch seine Interviews bleiben als zeitloser Zeitgenosse.Souverän weigert sich Müller, sich aus dem Horst seines kühlen Realismus zu erklären. „Ich muss ja nicht konsequent sein in meinem Verhalten“, hält er den Spiegel-Journalisten entgegen, und antwortet auf deren echauffierte Frage („Ist es nicht ein ästhetisch fragwürdiger Standpunkt zu sagen, ich liebe Tragödien, auch wenn sie auf dem Rücken anderer Leute ausgetragen werden“) lässig mit einer Gegenfrage: „Wovon lebt der Spiegel?“Die Kunst des Gesprächs hat Müller auf Höhen getrieben, die tatsächlich den Übergang markieren zwischen Informationsvermittlung und Literatur: Das Schweigen des Müller, von Frank M . Raddatz während der Rekonvaleszenz im Februar in 1995 in Kalifornien geführt, liest sich wie ein Stück, das irgendwann dem postdramatischen Theater in die Hände fallen wird – Heiner Müller schläft zwischenzeitlich ein, rezitiert unvermittelt Ezra Pound und dementiert lakonisch jede Stigmatisierung: „Ich bin nicht Walter Jens.“Zur Frage des künstlerischen Überlebens findet sich übrigens bei Brasch eine Anmerkung, die man den Kulturpessimisten der Nachrufindustrie widmen könnte: „Es kann sich herausstellen, aus einer Sicht, hundert oder fünfhundert Jahre nach uns, und das meine ich gar nicht ironisch, daß ein großer Chronist dieser Zeit Simmel war und all die hochintelligenten Leute, die vieles erzählt haben, werden über die Zeit, in der wir sind, gar nichts gesagt haben. Sondern plötzlich wird etwas, was wir tief verachten, ich hoffe, es wird nicht Ulla Hahn sein, etwas haben, was wir heute nicht sehen. Ein Schwimmer ist schwer imstande, seine Position im Meer zu lokalisieren.“
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.