Damit der Leser weiß, wie Journalistinnen arbeiten, gibt es zu jedem Spiegel-Interview ein Foto. Klein, am Rande, versehen mit einer Bildunterschrift, die ein Zitat aus dem Text wählt, sich bei der Aufzählung der abgebildeten Personen nicht einmal mit einem „und“ aufhält und die Namen der beteiligten Spiegel-Mitarbeiter noch durch ein Sternchen mit einer bescheiden anderswo platzierten Fußnote verbindet. Da steht dann etwa: „Ehepaar Harpprecht, SPIEGEL-Redakteure* – ,Die Deutschen wurden gerne geführt’“. Zu sehen sind auf dem Foto („Benjamin Bechet/Der Spiegel“), das im Haus der Harpprechts aufgenommen wurde, die Redakteure Martin Doerry und Jan Fleischhauer: Doerry links, sitzend; rechts daneben Renate Harpprecht, sitzend; dann Klaus Harpprecht, stehend, auf einen Stock gestützt; schließlich Fleischhauer, ebenfalls stehend. Die Journalisten lächeln in die Kamera, Frau Harpprecht guckt herausfordernd ungerührt, während ihr Gatte sich leicht gütig in das Bild hineinlehnt.
Die Inszenierung auf dem Bild entspricht dem arbeitsethisch demütigen Gestus seiner Erklärung: Das Zentrum der Aufmerksamkeit gehört natürlich den Gesprächspartnern, die nicht um die Gunst der Kamera buhlen müssen. Das Lächeln der Journalisten stellt dagegen einen Link zu deren Arbeit her, indem es ein routiniertes Signal des Entgegenkommens an den Fotografen als Verbündeten sendet. Das Foto bezeugt: dass ein Treffen stattgefunden hat. Das Bild sagt aber auch und mit gewissem Stolz, dass Spiegel-Redakteure Zugang haben zu einer bekannten Figur wie Klaus Harpprecht, der Fischer-Verlagsleiter, ZDF-Korrespondent, Willy-Brandt-Mitarbeiter und Zeit-Journalist war. Dennoch würde das Bild lange nur als Beiwerk der eigentlichen Geschichte gegolten haben – eines dreiseitigen Interviews mit Harpprecht aus Anlass des Erscheinens seiner Memoiren („der Lebensbericht eines vielgereisten Journalisten, aber auch eine Liebeserklärung an seine Frau“).
Nach Lektüre des Gesprächs am Ende des Jahres 2014 ließe sich dagegen sagen: Das Foto, das Journalisten bei der Arbeit bezeugen soll, ist tatsächlich der einzige Grund dafür, dass diese getan wird. So wie das Selfie mit dem Star die Autogrammkarte ersetzt hat, tritt hier die – die technischen Möglichkeiten lassen Delegation noch zu – gemeinsame Aufnahme von Besuchern mit Besuchten an die Stelle von Erkenntnisinteresse.
Es mag anmaßend oder pfennigfuchserisch klingen, sich die Gedanken zu machen, für die eines Tages eine Beratungsfirma dem Spiegel womöglich ansprechende Honorare in Rechnung stellen wird. Aber wenn die Schwierigkeiten des Erlösmodells Printjournalismus, die an keinem Gegenstand so exponiert diskutiert werden wie an der Entwicklung des bedeutenden Nachrichtenmagazins, einen positiven Nebeneffekt haben, dann ist das die Frage nach dem Selbstverständnis, dem Warum von Journalismus – zumindest wenn man ihn so hehr und aufklärerisch denkt, wie das in den Hamburger Corporate Bonmots geschieht („Sturmgeschütz der Demokratie“, „Sagen, was ist“). Wenn man also das Geld und das Personal, das der Spiegel zur Produktion von Neuigkeiten aufwenden kann, tatsächlich als größere Verantwortung für so etwas wie „vierte Gewalt“ betrachtet.
Aus dieser Perspektive erschöpft sich der größere Dienst des Besuchs bei Harpprechts in einer schönen Reise („eine kleine Villa am Hang hoch über dem Mittelmeer bei Saint-Tropez“) für zwei herausgehobene Mitarbeiter (Ex-Stellvertreter Doerry, Kolumnist Fleischhauer). Eine am Rechner in der Redaktion verfasste Besprechung hätte die schönsten Stellen aus Harpprechts Leben genauso referieren können, wie es die Inszenierung des Redens tut. Und wenn Harpprecht schon unbedingt live das Gespräch abgenommen werden musste und nicht etwa per Telefon, warum nicht durch die Pariser Korrespondentin? Oder wenigstens nur durch einen aus Deutschland angereisten Spezialisten?
Im Fahrstuhlschacht
Man kann, und darin ist das Harpprecht-Interview paradigmatisch für eine Form von Journalismus heute, lange Kosten rausrechnen, ohne Einbußen an der Qualität des Textes befürchten zu müssen. Die eigens eingeflogene Spiegel-Journalistenprominenz macht ihrem Namen nämlich keineswegs dadurch Ehre, dass besonders kritisch oder auch nur klug gefragt würde. Helmut Schmidt kriegt einen mit (die Information, Schmidt habe eine Geliebte gehabt, wird mit einem anderen Text im Heft über eine kritische Biografie im Hinblick auf die Überzeugungen des gewesenen Bundeskanzlers in den Nazi-Jahren assoziiert – mittlerweile hat Schmidt eine neue Buchveröffentlichung mit der Indiskretion promotet); Brigitte Seebacher und Günter Grass sind eh leichte Ziele von Spott (wobei Harpprecht letzteren sehr kalkuliert als Deppen hinstellt). Ansonsten machen die beiden Journalisten dem Gastgeber den Hof, so dass der Brandt-Redenschreiber zwischen 1972 und 1974 sich als einen der engsten Freunde entwerfen und das Bild des beliebten Kanzlers nach seinen Vorstellungen ausmalen kann. Ach, so, und 1968 hätte es im Grunde nicht gebraucht, weil Klaus Harpprecht schon in den fünfziger Jahren viel freier drauf war als alle Studenten nach ihm zusammen.
Natürlich ist es legitim, sich die Gesprächspartner zu suchen, die eigene politische Ansichten in ihren Worten wiedergeben. Und natürlich erfüllt dieser Spiegel-Text Zwecke, die man journalistisch nennen kann, wenn darunter die Ermöglichung von Kommunikation verstanden wird, wie sie Buzzfeed oder Whatsapp mit weniger Aufwand und mehr Likes herstellen. Über den mäßig interessanten Polit-Gossip hinaus bewirkt das Interview der Spiegel-Redakteure nur: Distinktion.
Und deshalb ist es das Selfie mit dem Star, für dessen Inszenierung der Spiegel-Text Geld ausgibt. Mit „früher“ kann man dieser Form von Bedeutungsjournalismus als Kritik nicht kommen; der Austausch von Wichtigkeitsgesten ist alt. Vielmehr ist es so, dass die Exklusion, auf die der Text sich etwas einbildet, heute besser sichtbar wird, weil sich das mediale Feld durch die Möglichkeiten des Internets unendlich erweitert hat. Nüchtern betrachtet ist der Spiegel-Text dann nur ein Angebot unter vielen, schrumpft die Exklusivität der Information beträchtlich, die ein publizistisch präsenter Mann wie Harpprecht am Rande seiner Memoiren noch zu bieten hat. Sie droht immer schon in dem Fahrstuhlschacht zu verhallen, als den man sich die fragmentierte mediale Öffentlichkeit vorstellen muss, seit fünf wesentliche Printerzeugnisse nicht mehr den einzigen Zugang zu Information weisen.
So gesehen ist das Pimpen des Arrangements durch Entsendung namhafter Fragesteller in die schöne Ferne des Mittelmeers bei Saint-Tropez auf eine Weise nur konsequent – am Telefon eingeholt und ohne das atmosphärisch-beflügelnde Setting aufbereitet ("Kaffee und Kuchen kommen auf den Tisch, man ist schnell im Gespräch, über den feuchten Sommer an der Côte d'Azur, über die Freunde, die zurück in die Heimat gezogen sind"), hätte der Gehalt der Geschichte noch dürftiger gewirkt. Mathias Mertens hatte im Freitag 2009 für die Musik am Beispiel der mp3 erkannt: „Was der digitale Code in Form von MP3 und Peer-to-Peer-Netzwerken nämlich offenbarte, war, dass Musik völlig immateriell ist. Eine Tatsache, die in Schulaufsätzen beschrieben und in philosophischen Kneipengesprächen behauptet wurde, die man bis vor zehn Jahren aber kaum spürte. Musik ist nicht der Datenträger, auf dem sie sich befindet: Diese Aussage musste man nicht machen, solange es keine andere Möglichkeit gab, als Musik von Datenträgern zu holen, um sie zu hören. Schallplatte, Tonband und CD waren die natürliche Erscheinungsform von Musik.“
Analog dazu ließe sich sagen: Das Spiegel-Gespräch war die natürliche Erscheinungsform von Bedeutung und Information, solange es keine andere Möglichkeit gab, Bedeutung und Information zu finden. Mertens hat in seinem Rekurs auf den immateriellen Kern von Musik das Bild vom Luftgitarre-Spiel aktualisiert, das eben nicht, wie in journalistischen Texten häufig insinuiert, für den Fake eines Als-ob steht, für Schaumschlägerei, sondern das Wesentliche ausmacht, indem es unmittelbarer Resonanz auf die immaterielle Musik einen persönlichen Ausdruck verleiht. Anders gesagt: Für Musik, die einen kalt lässt, würde man die Luftgitarre nicht extra rausholen.
Vor diesem Hintergrund erscheint der Bedeutungsjournalismus als Entsprechung zu den laufend neu veröffentlichten, aufwändig gestalteten CD- und DVD-Editionen popmusikhistorisch durchgesetzter Stars, die treue Fans erfreuen. Ein Highlight dieses Genres stellt der 25.000 Zeichen lange Text dar, den das Zeit-Magazin im Sommer 2013 veröffentlichte – ein Portrait von Anke Engelke. In anderen Zeiten wäre ein Artikel, der buchhalterisch mehrere Treffen im Laufe eines halben Jahres anführt, um ein Bild von einer medial gut ausgeleuchteten Figur zu liefern, als große Ironie auf eine kommende Mediengesellschaft lesbar gewesen ist. Diese Sichtweise ist dem Artikel allerdings verbaut; gerade weil er sich und sein residuales Erkenntnisinteresse ("Lustigste Frau im Fernsehen, hochgelobte Moderatorin, jetzt noch eine Sendung: Aber was weiß man eigentlich über Anke Engelke?") ernst nimmt, illustriert er präzise die Verschiebungen einer einst stolzen Branche in Zeiten ihres gebrochenen Monopols.
Das Mittel der Langzeitbeobachtung, das doch dazu dienen könnte, Entwicklungen sichtbar zu machen, die der tagesaktuelle, ereignishoppende Neuigkeiten-Journalismus nicht erzählt bekommt, taugt hier zur redundanten Beschreibung von Prominenz. Die Recherchezeit, die für den Beitrag zur Verfügung stand, wird nicht in Wirklichkeiten investiert, die kaum Beachtung finden durch mediale Berichterstattung, sondern ermöglicht mehrere Dates mit einer beliebten Figur. Ähnlich wie beim autobiografischen Gespräch mit Harpprecht aus Anlass seiner Autobiografie hätte sich der journalistische Reiz einer halbjährigen Anke-Engelke-Begleitung schon vor dem ersten Treffen ("Zwei Monate zuvor, Mitte Dezember 2012. Anke Engelke schaut aus einer großen bunten Fensterwand und unterhält sich dabei mit einem Kind") durch Nachdenken erledigen können: Aufregend wäre die Suche nach der Person, die Anke Engelke "eigentlich" ist, ja nur, wenn sich die lustige, geschätzte Moderatorin hinter der Fassade ihres Images als übellaunige Unsympathin entpuppte, die Nächte in zwielichtigen Kneipen durchsäuft und anschließend ihre Kinder schlägt.
Zugleich könnte dieses "eigentliche" Bild schon deshalb nicht zustande kommen, weil ein halbes Jahr Nähe zu einer Prominenten von keiner PR-Abteilung gewährt würde, um sich am Ende einen Ruf ruinieren zu lassen im Interesse irgendeiner Aufklärung. Ganz abgesehen davon, dass professionelle Distanz in einer solchen Anlage überhaupt nicht vorgesehen ist – die halbjährige Langzeitbeobachtung täuscht zwar alle Gesten vor, die Journalismus charakterisieren ("Andererseits: Was weiß man tatsächlich von ihr? Das Alter? Anke Engelke wird in diesem Jahr 48"), ist aber "eigentlich" nichts anderes als eine massenmedial formulierte und durch die Größe der Zeit alimentierte Freundschaftsanfrage ihres Autors (des stellvertretenden Chefredakteurs Matthias Kalle) an den Star.
Der ökonomische Erfolg der Zeit gibt solchen Unternehmungen, die den Geist der Gala dem Gedöns der Sonntagsreden über heldenhafte Publizistik vorziehen, anscheinend recht. Das Kalkül dahinter ist einfach: Wenn ein Star beliebt ist und geschätzt wird, dann wird etwas von dieser Popularität und Wertschätzung auch auf den Text abstrahlen, der ihn mit großer Geste gut findet. Die Verunsicherung über den eigenen Status bekämpft solch ein Journalismus durch den bewundernden Blick nach oben. Es ist kein Widerspruch, dass die Sehnsucht nach "Haltung", die seit den Erfahrungen der ersten gravierenden Printkrise zu Beginn des Jahrtausends das Reden über den gegenwärtigen Journalismus flankiert, dort am größten ist, wo sich ausschließlich an großen, durchgesetzten Namen orientiert wird.
Seit gut zehn Jahren sorgt das Online der Informationsdistribution für Irritationen beim Selbstverständnis des herkömmlichen Journalismus. Die Erschütterungen haben im vergangenen Jahr stark zugenommen. Im Januar 2014 setzte eine gewöhnliche Fernsehzuschauerin namens Maren Müller aus Ärger über die parteiische Gesprächsführung des ZDF-Moderators Lanz eine Online-Petition auf, die binnen kurzer Zeit erstaunliche Resonanz erfuhr. Die Zahl der Unterschriften erhöhte sich auch, weil die traditionellen Medien anfangs vergnügt-neugierig berichteten. Das Wohlwollen der Journalisten schlug ins Gegenteil um, als die Zahl der Unterzeichner auf 100.000 zulief und die professionelle Kritik plötzlich fürchtete, die Deutungshoheit zu verlieren, wenn künftig jede Bürgerin ihrer Meinung Gehör verschaffen kann und nicht nur festangestellte Redakteure.
Corporate Publishing
Das grobe Missverständnis, die Gefahr der Lanz-Petition bestünde darin, dass sich nun bei jeder denkbaren Gelegenheit per Online-Petition ein gewaltiger Shitstorm entfachen lasse, sagt viel über die Statusangst der Journalisten. Denn die Lanz-Petition wurde nicht aufgesetzt, um der Fernsehkritik ihre Moderatorenverrisse streitig zu machen. Der Ärger der Petentin und ihrer Zustimmer bezog sich vielmehr auf den unfair-exklusiven Umgang medialer Macht, wie sie Lanz als Gastgeber seiner Fernsehsendung ausübt (etwa durch die Einladung des Sidekicks Hans-Ulrich Jörges), mit der von einer Mehrheitsmeinung dissidenten, aber keineswegs verfassungsfeindlichen politischen Position der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht.
Wie in einer filmischen Einstellung, die von der Nahaufnahme in die Totale wechselt, wurde in der doch widersprüchlichen Verteidigung Lanzens durch seine professionellen Kritiker sichtbar, welch kleinen Realitätsausschnitt der Journalismus bearbeitet – dass Lanz dem Medienjournalisten des Spiegel bei allem Geschimpfe nähersteht als allen, die sich von dieser Bedeutungsballung nicht beeindrucken lassen, also etwa der unbekannten Frau mit der Petition; dass überregional erscheinende Medien allem Universalismus zum Trotz nichts anderes als „Special Interest“-Magazine einer homogenen Schicht sind.
Ökonomisch mag es sinnvoll erscheinen, die Sorgen von Leuten zu vernachlässigen, die eh nie eine Zeitung kaufen. Für den Anspruch, den Journalismus jenseits von Corporate Publishing hat, ist es das nicht. Was in der Lanz-Petition angelegt war, hat über den hochtourigen Streit um die Einseitigkeit der Berichterstattung im Russland-Ukraine-Konflikt oder über Griechenland einen Begriff wie „Medienverdrossenheit“ denkbar gemacht.
Zu dem Symptom mögen auch äußerst dumpfe und krude Ventilierungen von Nicht-einverstanden-Sein beitragen. Aber es ist für diese Demokratie bemerkenswert, wenn Kritik an der Verbindung von Politik, Wirtschaft und Medien (wie im Falle der Zeit-Journalisten Bittner und Joffe) in der ZDF-Sendung Die Anstalt, also einem Kabarett geäußert wird – das letzte Mal, dass ein solcher Ort als Medium kritischer Öffentlichkeit fungieren konnte, dürfte vor dem Herbst 1989 in der DDR gewesen sein.
Genauso wie zu denken geben könnte, wenn sich ein Politiker – und dann noch ein wohl temperierter wie Frank-Walter Steinmeier – auf einer Journalistenpreisverleihungsveranstaltung in einer gut gelaunten Rede, die auch darüber informierte, wie das Auswärtige Amt gegen die Printkrise ankämpft (bezahlte Abos: 45 mal Spiegel, 29 mal die Zeit, 30 mal SZ, 60 mal FAZ) weniger ähnliche Meinungen wünscht: "Vielfalt ist einer der Schlüssel für die Akzeptanz von Medien."
Ob die Medien das nach einem für sie turbulenten Jahr auch so sehen, ist ungewiss. So präsentierte die "Süddeutsche Zeitung" in ihrer mit einigem Aplomb entworfenen, wochenzeitungsdicken Samstagsausgabe als neue Kolumnistin mit Carolin Emcke eine Meinungshaberin, die man kennt als Reporterin der Wochenzeitung, der die neue SZ doch ein bisschen Konkurrenz machen will. Und der Deutschlandfunk schafft es, in seinem Medienquartett zu einem brisanten Thema wie den manipulierten "Bestenlisten"-Sendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens eine Runde aus dem Herzen des Apparats, um den es geht, zu versammeln – Hans Janke, Ex-ZDF; Frauke Gerlach, Grimme-Chefin; Claudia Nothelle, RBB-Chefredakteurin –, so dass ein Adabei wie Hajo Schumacher schon als Außenposition oder gar kritischer Kopf auffällt.
Vor einem Monat hat Cordt Schnibben im Spiegel die Verunsicherung des letzten Jahres („Lügenpresse“) zu beschreiben versucht („Wo kommt es her, dieses Misstrauen?“). Gefragt hat er dafür lauter – andere Journalisten, Leute, die er eh kennt (Wolf Schneider, Claus Kleber, Richard Gutjahr). Herausgekommen sind Sätze, die sich in Powerpoint-Präsentationen von Journalismusberatern finden lassen (die Online-Version des Textes sieht schon so aus). Zusammengehalten werden soll die mit großer Geste inszenierte Story von einem szenischen Reisejournalismus („Wolf Schneider hat mich in seinem Auftreten immer an Curd Jürgens erinnert“). In solch einer Form wird Recherche nur gespielt.
Für die Blindheit des Journalismus, seine eigenen Limitierungen betreffend, spricht am besten ein O-Ton, den der Harpprecht-Interviewer Fleischhauer im Bayerischen Fernsehen geäußert hat. In einem kleinen, erkennbar voreingenommenen Beitrag zur Rolle von Online-Petitionen nach der Lanz-Geschichte wird der Spiegel-Kolumnist als Experte eingeführt, dessen Expertise nicht erklärt werden muss. Sein beschränktes Urteil über die Gefahr, die von Online-Petenten ausgeht, fasst Fleischhauer mit leichter Häme schließlich in folgende Worte: „Für mich ist nicht demokratisch, dass diejenigen, die sich durchsetzen, entweder über bestimmte technische Möglichkeiten verfügen, über die andere nicht verfügen; über eine besondere Lautstärke oder aber – und das ist übrigens ein, hehe, Kriterium, über das sehr wenig geredet wird – auch über viel Zeit.“ – Eigentlich ist das nämlich eine, hehe, ziemlich treffende Beschreibung der Arbeitsbedingungen eines Spiegel-Autors mit sechsstelligem Jahresgehalt.
Info
Leicht überarbeitete und aktualisierte Version der Medien-Kolumne aus dem Merkur Nr. 789, Februar 2015
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