Wer ist eigentlich Wir?

Stadtkultur (1) Mal auf andere Gedanken kommen: Erfurt sucht abseits der für Touristen groß beschirmten Innenstadtcafés nach den Utopien einer städtischen Subkultur

Die Sonne scheint am Samstagmittag durch die Fensterfronten des Erfurter Kunsthauses. Hier sitzen in einem Stuhlkreis nicht einmal zwei Handvoll Leute zusammen, als Guillaume Paoli, der Hausphilosoph des Leipziger Centraltheaters, kurz vor Ende dieser Panel genannten Gesprächsrunde zum Thema „Kunst und Utopie“ sagt, dass die letzte Utopie vielleicht darin bestehe, sich zu fragen, wie man eigentlich leben will.

Das ist zweifellos eine gute, wenn auch keine leichte Frage. Dass sie in Erfurt gestellt wurde, ist Ausdruck eines Unbehagens, für das es noch keine genaueren Vorstellungen, Begriffe, Bilder gibt. Auch deswegen wurden am vergangenen Wochenende auf einer Konferenz unter dem Titel Utopia now grundsätzlich andere Entwürfe diskutiert: von der Gesellschaft, vom Leben in der Stadt, von den Beziehungen der Menschen untereinander.

Erfurt ist dafür ein exemplarischer Ort. Die Thüringer Landeshauptstadt ist von reizender Durchschnittlichkeit. Die Einwohnerzahl liegt einigermaßen stabil bei 200.000, wenn auch auf Kosten der Figur, die die Stadtgrenze auf Karten macht – der Umriss des Stadtgebiets ist in den letzten 20 Jahren durch stetige Eingemeindungen in die Breite gegangen. Erfurt ist keine Kleinstadt, aber eben auch keine Großstadt, wo sich das kulturelle Leben in voneinander verschiedenen Stadtteilen ausdifferenzieren könnte. Erfurt ist für alle da, was sich daran zeigt, dass es in Erfurt, grob gesagt, von allem immer nur eins gibt.

Zentrum einer Spaßbadlandschaft

Ein Opernhaus, das in einem reaktivierten Stadtviertel hinter dem Dom neu gebaut wurde und in die überregionale Wahrnehmung strebt. Dafür verwittert das ehemalige Schauspielhaus seit sieben Jahren in der Geschichte, die es einmal gehabt hat. Auf einer lange Zeit als Parkplatz genutzten Brache an der zentralen Ringstraße steht ein Multiplexkino, dessen Dienstleistungscharakter schon dadurch offenbar wird, das es sich mit drei Geschossen in einem schmucklosen Klotz begnügt, zu dem noch Discounter, Bowlingbahn und Parkplätze gehören. Derweil steht in Blickweite der ehemalige Panoramapalast leer, einer der wenigen Erfurter Bauten aus der Zeit der Neuen Sachlichkeit. In seinem Rücken befindet sich der Kinoklub, das einzige Programmkino der Stadt. Das Nordbad, ein ebenfalls in den zwanziger Jahren erbautes Kulturdenkmal, ist abgerissen worden, die Wiedereröffnung des Neubaus verzögert sich. Dass die innerstädtischen Badeanstalten weniger geworden sind, hängt auch mit der Förder- und Investitionspraxis der Nachwendezeit zusammen; seither liegt Erfurt inmitten einer beeindruckenden Spaßbadlandschaft.

Die Bemühungen der Stadt um Touristenbusse sind nicht ohne Erfolg, sie bedient etwa mit Domstufen-Festspielen oder Weihnachtsmarkt zeitgemäße Vorstellungen von Event und Attraktion. Die Altstadt, deren Erhalt in den letzten Jahren der DDR zur Disposition stand, ist saniert und generiert Lebendigkeit über eine immense Zahl von großbeschirmten Straßencafés, deren Geschäft durch ein Alkoholverbot im öffentlichen Raum nicht gestört werden soll. In der zentralen Michaelisstraße hinter der Ecke, an der die Haupttouristenströme schon wieder abgebogen sind, liegt das Kunsthaus. Als 2008 die Mittelbewilligung für den Ausstellungsort diskutiert wurde, formierte sich hier eine Form von Widerstand und Aktionismus, die nicht unerheblich den Eindruck bestärkt hat, dass es ein subkulturelles Leben in Erfurt gibt.

Die Zahl der Menschen, die daran interessiert sind, beliefe sich auf 500, schätzte der damalige Beigeordnete für Kultur, Karl-Heinz Kindervater, der in der komfortablen Situation war, zugleich Geschäftsführer des Kaisersaals zu sein, den die Stadt für Veranstaltungen nutzte, von denen sich mehr als 500 Leute angesprochen fühlen. Es gründete sich ein „Klub der 500“, in dem sich Akteure mit Vorstellungen von einer alternativen städtischen Kultur zusammenfanden und der zuletzt im April gegen den geplanten Abriss eines Pavillons auf dem Gelände der Erfurter Gartenbau-Ausstellung (ega) protestierte. Nachdem dieser Protest sich verstärkte, weil sich zahlreiche Einwohner an ihre Besuche des als Café genutzten Rundpavillons in früheren Tagen erinnerten, modifizierten die Stadtwerke ihre Pläne. Das klassische Erfurter Muster – Verfall, Abriss, Neubau (siehe Nordbad) – wurde korrigiert; nun sollen die charakteristischen Stahl- und Betonpfeiler stehen bleiben, das neue Gebäude wird aber eine andere tragende Konstruktion erhalten. Wenn auch diese Idee noch immer nicht davon zeugt, dass die Stadt begriffen hat, was ein Verhältnis zur Baugeschichte ausmachen könnte, die nicht über 100 Jahre zurückliegt, so lässt sich daran doch immerhin ablesen, dass die Einflussnahme der Öffentlichkeit etwas bewirken kann.

Der Raum zwischen privat und öffentlich

Um solche Interventionen kreiste die Konferenz Utopia now, bei der etwa der Berliner Stadtsoziologe Andrej Holm über das Konzept eines Rechts auf Stadt orientierte. Denn die Stadt gehört eben nicht nur denen, die im Rathaus sitzen, den Stadtwerken vorstehen oder, mit Investitionen beziehungsweise Arbeitsplätzen lockend, verzagten Kommunen Stadtplanung diktieren. Wie sich diese Erkenntnis in eine Handlungsanweisung umsetzen lässt, wenn nicht einmal ein Symbol zur Verfügung steht wie der ega-Pavillon, bleibt eine offene Frage. Erfurts kulturelles Leben leidet zudem unter gut zweihundert Jahren, in denen die Stadt keine Universität hatte, sowie unter einer Universität, die, in den neunziger Jahren wieder gegründet, im Norden der Stadt angesiedelt wurde, wo der Anteil am innerstädtische Leben naturgemäß gering bleibt.

Andererseits gibt es auch in Erfurt Initiativen, die ihre Perspektive auf die Stadt in Praxis übersetzen. So staunte das auch eher überschaubar frequentierte Konferenz-Panel „Urban Gardening“ am Ziel der Exkursion zum Gemeinschaftsgarten Lagune im Erfurter Osten über buntes Treiben in der Nachmittagssonne. Seit 2006 bewirtschaftet eine Gruppe von gut 15 Menschen eine Ruderalfläche mit Sand für Kinderspiele, Freilichtbühne und verschiedenen Anpflanzungen. Damit markiert die Lagune einen Raum zwischen dem Dualismus von privat und öffentlich. Gleichzeitig verweist sie auf ein Dilemma, dass der Bremer Sozialwissenschaftler und Politiker Christoph Spehr am Freitagabend benannte: die Aussteuerung von individueller Freiheit und der Verantwortung fürs Ganze.

Spehr, der die Vor- und Nachteile verschiedener alternativer Gesellschaftsentwürfe referierte, wusste aus seiner politischen Praxis als Linkspartei-Mitglied in Bremen von Bestrebungen ihm nahe stehender Menschen zu berichten, eine freie Schule gründen zu wollen. So begrüßenswert Projekt und Initiative sind, so sehr stehen sie in Kontrast zu den Vorstellungen der Partei, die darin – durchaus berechtigt – die Öffnung der Bildungspolitik für eine Privatisierung von Interessen erkennt; am Ende eines solchen Prozesses bleiben all jene staatlichen Einrichtugen überlassen, die weder über das nötige Geld noch das kreative Engagement für eine Lehranstalt ihrer Träume verfügen.

So erweist sich die Herausforderung bei der Frage, wie wir eigentlich leben wollen, an der Definition dieses Wir. Das scheint, nicht nur in Erfurt, auch ein quantitatives Problem zu sein.

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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