FAZit - Ein Professor gibt auf

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Die FAZ folgt der GEO und möchte Brücken bauen. Brücken, deren Konstrukteure auf physikalische Gesetze pfeifen und deren Enden im dichten Nebel liegen.

Auf dem Europäischen Kongress für integrative Medizin plädierte Volker Diehl für ein Medizin, "die das Leiden nicht abstrahiert, sondern 'dem Patienten sein individuelles Gesicht wieder gibt', eine, die den Patienten 'lehrt zu schwimmen' statt 'den Ertrinkenden bloß zu retten versucht', eine auch, 'die nicht nur fragt, ob der Mensch noch am Leben ist, sondern wie dieser im Leben steht'" . Diese Art von Medizin, nein, "Heilkunst möge ein 'substantieller Teil der Krebsmedizin von morgen werden'".

Die Brücke wird so beschrieben:

"Die Rede des Hämatologen war nicht einfach ein Dialogversuch, keine neue Friedensinitiative zwischen den Lagern(...). Was da sichtbar wurde, war vielmehr der beeindruckende Versuch zu erklären, warum es geradezu geboten ist, die positiven Effekte des nachweislich wirksamen Teils der Erfahrungsmedizin im Praxisalltag zu nutzen."

Worum es sich bei den positiven Effekten handelt, wird im Text nur ungenügend geklärt, allenfalls Anhaltspunkte lassen sich finden:

"Aber unsere Patienten suchen vor allem nach Gesundheit, der Berührung des Doktors und der komplementären Medizin."

"Objektivieren wir nicht nur die Leiden, sondern hören wir auf unsere Patienten"

"Eine Arbeit für mehr Lebensqualität statt nur für mehr Lebenstage."

Nun stellt sich die Frage, wo der Herr Diehl die letzten Jahre verbracht hat, denn das oben beschriebene stellt Prinzipien des ("schulmedizinsch") ärztlichen Handelns dar.

"Volker Diehl (...) ist die Schizophrenie des modernen Medizinbetriebs leid."

Aha, dann war er doch vor Ort, in der Klinik oder der Praxis. Diese Aussage kann ich gut verstehe. Ich frage mich allerdings, ob die Antwort auf "die Schizophrenie des modernen Medizinbetriebs", die Schizophrenie der Alternativmedizin ist.

Die strukturellen Probleme der Gesundheitsversorgung in Deutschland verschwinden nicht einfach, wenn die Alternativmedizin in die Kliniken Einzug hält. Sie würden nur denselben Bedingungen unterworfen und zur Kenntlichkeit entstellt.

Alternativmedizin ist für viele Menschen unter anderem so attraktiv, weil sie sich dort ernster genommen fühlen, als bei einem Arzt, der zwischen 2 und 7 Minuten für ihre Symptome hat und dann ein Rezept ausstellt. Egal, wieviel Mühe sich Pflegende, Physiotherapeuten und Ärzte geben, so können sie sich nur in den Grenzen des Systems bewegen. Das verändert sich aber nicht, indem man einfach noch mehr hineinpresst.

Der Spiegel mit dem Titelthema "Überdosis Medizin" hinterließ vielmehr den Eindruck, dass eine Reduktion an Medizin uns allen eher zugute kommt, als weitere Therapien und seien sie noch so sanft. Wie es um deren Wirksamkeit bestellt ist, ist ein ganz anderes Thema.

Das Prinzip der Evidenzbasierten Medizin ist noch nicht sehr alt und hat bereits in vielen Bereichen der Medizin Spuren hinterlassen. Ein Problem dabei ist die menschliche Eigenschaft von Einzelfall auf die Gesamtheit zu schließen. Wenn ich die Erfahrung gemacht habe diese oder jene Therapie steht im Zusammenhang mit der Verbesserung oder Verschlechterung eines Zustandes, so werde ich sie entwede öfter benutzen oder die Finger davon lassen.

Doch unsere Wahrnehmung ist trügerisch und leitet uns schnell auf eine falsche Fährte. Die Instrumente der Evidenzbasierten Medizin können uns davor bewahren mehr falsche Wege zu beschreiten, als unbedingt notwendig. Dazu muss man allerdings ein Stück weit seine eigene Erfahrung hinterfragen.

Die integrative Medizin oder wie immer man sie nennen mag, wird nicht die Probleme lösen, die es im deutschen Gesundheitssystem gibt, sie wird es nicht heilen. Das müssen wir schon selber machen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

merdeister

Ein guter Charakter erzieht sich selbst. - Indigokind - Blogtherapeut

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