Vergangenen November fand zum dritten Mal die Konferenz „Non Monogamies and Contemporary Intimacies“ (Nichtmonogamien und zeitgenössische Intimitäten) in Barcelona statt. Die Autorin Brigitte Vasallo hat sie mit organisiert. Im Gespräch erklärt sie, warum nichtexklusive Liebe auch kapitalistisch sein kann und wieso sie keine Feministin sein will.
der Freitag: Frau Vasallo, macht sich unser Wirtschaftssystem wirklich in unseren Liebesbeziehungen bemerkbar?
Brigitte Vasallo: Ja, der Neoliberalismus macht sich in jeder einzelnen unserer Beziehungen bemerkbar. Der Versuch, eine nichtmonogame Beziehung zu führen, birgt die selben Gefahren wie jede andere Liebesbeziehung. Sie alle sind vom Kapitalismus, vom Patriarchat und vom Exklusivitätsgedanken geprägt. So existiert auch in nichtexklusiven Beziehungen die Gefahr des Hyperkonsums von Körpern und Zuneigungen.
Meinen Sie damit die Möglichkeit, Dating-Apps wie Tinder zu nutzen?
Nein, Tinder finde ich super. Tatsächlich glaube ich, dass damit die Verhältnisse umgedreht werden. Nach einem One-Night-Stand ignoriert die Frau jetzt auch mal den Mann. Jetzt werden die mal blockiert (lacht). Mit Hyperkonsum meine ich: Die Exklusivität steht in nichtmonogamen Beziehungen zwar nicht mehr im Mittelpunkt. An ihre Stelle rückt aber der Konsum. Eine Verpflichtung ersetzt die andere. Menschen in nichtmonogamen Beziehungen glauben, möglichst viele Partner*innen haben zu müssen. Vom Paradigma „Man darf nicht mehr als eine*n Partner*in haben“ kommt man zu „Man muss mehr als eine*n Partner*in haben“. Dabei sollte es gar nicht um die Anzahl gehen. An der Stelle einer neuen Pflicht sollte die Freiheit stehen.
Wenn nicht die Verpflichtung zur Exklusivität im Mittelpunkt unserer Liebesbeziehungen steht, was dann?
Ich würde die Verpflichtung durch Verantwortung ersetzen. Die Menschen sollen sich dafür verantwortlich fühlen, wie es den anderen geht. Wir sollten uns bewusst sein, dass unsere Handlungen sich auf unser Umfeld auswirken. Aus diesem Bewusstsein heraus sollten wir Entscheidungen treffen, die individuell und kollektiv gleichzeitig gedacht sind.
Also sollte ich in einer Beziehung zuerst an die anderen denken?
Es ist falsch, überhaupt zu denken, es gäbe Sie und die anderen. Damit implizieren Sie, dass Sie radikal von den anderen getrennt sind.
Dabei setzen Sie bei allen Menschen ein gewisses Maß an Empathie voraus. Kann es nicht sein, dass es manchen Menschen besser geht, wenn sie nicht an die anderen denken?
Es geht mir nicht um einzelne Personen, ich analysiere ein System. Was will das System von uns? Und wie können wir Widerstand dagegen leisten? Bevor beispielsweise das Patriarchat als solches benannt wurde, haben wir individuelle Handlungen von Frauen und Männern als unabhängig voneinander betrachtet. Als wir das System dahinter entdeckt haben, hat das unsere Perspektive vollkommen verändert. Dasselbe gilt für die Liebe. Bisher haben wir Liebesbeziehungen so gedacht, dass Menschen sich zufällig miteinander binden. Ich sage: Dahinter steckt ein System, das über unser Handeln bestimmt. Wir leisten entweder möglichst viel Widerstand dagegen oder passen uns möglichst gut daran an. Allenfalls geht es dabei nicht um einzelne Entscheidungen, sondern um kollektive Bewegungen rund um eine Maschine, die viel größer als das Individuum ist.
Zur Person
Brigitte Vasallo, 46, ist eine Autorin aus Barcelona. Ihre Bücher wurden in El País und El Mundo rezipiert. Zuletzt erschien Pensamiento monógamo. Terror poliamoroso („Monogames Denken. Polyamoröser Terror“), 2018
Einen Faktor, der das existente System stützt, beschreiben Sie als „Disney-Liebe“. Was hat es damit auf sich?
Die Disney-Liebe ist eine konkretere Bezeichnung für das, was wir als romantische Liebe verstehen. Der klassische Disney-Film entspricht in etwa folgendem Muster: Das hübscheste Mädchen wird, meist von einem Prinzen, als Beste auserkoren, ihrem natürlichen Umfeld entzogen und mit ins Schloss geschleppt. In diesem Narrativ gibt es viele Elemente, die ich hochproblematisch finde. Der Wert der Frau wird von der Wahl eines anderen abhängig gemacht. Wohlgemerkt, meistens ist das ein Prinz, also jemand aus einer höheren sozialen Schicht. Um dessen Gunst zu gewinnen, treten die Frauen in Konkurrenz zueinander. Diese Art der Konfrontation steuert viel dazu bei, wie wir Frauen miteinander umgehen. Unsere Freundschaften lassen wir dabei links liegen. Dabei verhindern wir, dass unsere Freund*innen einen kritischen Blick auf unsere Liebesbeziehungen werfen. Dieses Verständnis von romantischer Liebe tut weh. Denn unsere Freund*innen können als Erste erkennen, wenn wir Gewalt erfahren.
Warum erzählen wir unseren Freund*innen nicht alles in Bezug auf Liebesbeziehungen?
Weil wir der Außenwelt das Bild einer idyllischen Beziehung vermitteln wollen. Das hat viel mit dem Idealbild von Prinz und Prinzessin zu tun, unabhängig davon, ob es sich dabei um ein gleichgeschlechtliches Paar handelt. Wenn wir Gewalt erfahren, schämen wir uns dafür, in dieser Beziehung gefangen zu sein und nicht die Kraft zu haben, zu entkommen. Wenn jemand unsere*n Partner*in kritisiert, fühlt es sich außerdem so an, als gelte die Kritik auch uns selbst. Das wollen wir dann verteidigen.
Viele Menschen verstehen sich irgendwann als eins mit dem*der Partner*in und verlieren dabei ihre Individualität.
Unsere Optionen scheinen zu sein: Individualismus oder die Fusion mit einer anderen Person. Meine Arbeit basiert auf dem Wunsch, Femizide zu verhindern. Dabei frage ich: Warum konnten die Frauen nicht aus gewaltvollen Beziehungen fliehen? Was haben wir gemacht, das ihnen diese Flucht erschwert hat? Wenn wir es schaffen, innerhalb einer Gemeinschaft eine individuelle Person zu bleiben, dann können wir das Problem der Gewalt ein wenig lösen.
Würden Sie sich als Feministin bezeichnen?
Nein. Ich habe eine feministische Perspektive, und alles, was ich mache, geht durch einige feministische Filter. Aber Feminismus ist keine Identität. Ich will nicht, dass das zu meiner Essenz gehört. Es heißt dann nicht mehr: „Ich handle feministisch“, sondern: „Ich bin feministisch.“ Meine Handlungen werden dann egal, denn ich bin ja sowieso Feministin. Dabei sind genau die Handlungen das Wichtige. Sobald du feministisch handelst, bist du Feministin.
Sind feministische Handlungen immer antikapitalistisch?
Ja. Unsere Realität ist wie eine Suppe, die sich aus vielen Zutaten zusammensetzt. Wir wollen die Realität von den einzelnen Elementen aus analysieren, aber eigentlich ist keines dieser Elemente unabhängig vom anderen. So gehört etwa die Konkurrenz zwischen Frauen genauso zum Kapitalismus wie die Monogamie. Das sind keine einzelnen Gedanken, sondern verschiedene Aspekte einer Realität.
Sie beschäftigen sich auch viel mit der Islamfeindlichkeit im Feminismus. So ist für viele Feminist*innen das Kopftuch ein klares Symbol von patriarchaler Unterdrückung.
Diese Menschen denken, das Patriarchat funktioniert in jedem Fall gleich. Das ist ein gefährlicher Fehler, denn er fördert den Rassismus. Es gibt keine universellen Wahrheiten und Antworten, sondern alles muss in seinem gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden. Das Kopftuch ist ein Element, um als Muslimin sichtbar zu werden. Dabei nutzen Musliminnen ihr Recht auf Sichtbarkeit. Menschen, die ihnen das absprechen wollen, ignorieren dabei außerdem ein zentrales Konzept des feministischen Denkens, nämlich das Recht der Frau auf den eigenen Körper. Wir können mit unserem Körper machen, worauf auch immer wir Lust haben. Wir können uns tätowieren, nackt rumlaufen oder eben ein Kopftuch tragen. Was Rechte manchmal mit sich bringen, ist, dass andere diese nutzen, obwohl uns das nicht gefällt. Aber das muss man dann aushalten. Denn das Gegenteil davon, nämlich vorzugeben, was die anderen mit ihrem Körper machen sollen, das ist das Patriarchat.
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