Cooler oder kalter Pop

Vorweihnachtstheater Die Autoren-Regisseure der Berliner Schaubühne und der Volksbühne Falk Richter und René Pollesch läuten das Jahr 2005 aus

Es ist kalt im Berliner Theaterwinter. In der Schaubühne am Lehniner Platz werden virtuell -38° C gemessen. Im Prater, der Außenstelle der Volksbühne, ist es etwas wärmer. Die Autoren-Regisseure und Gegenspieler Falk Richter und René Pollesch nehmen in ihren Uraufführungen vor Jahresende der Gesellschaft noch einmal die Temperatur ab.

Die Thermometer: Falk Richters Weihnachtsreigen Die Verstörung und Polleschs neuste Textschleife Notti senza cuore - Live is the new hard. Richter bespielt Saal C im großen Haus, Pollesch Bert Neumanns kleine Rumpelbühne, zwei ein Viertel Stunden absurde Mittelstands-Komödie hier, siebzig Minuten Trash-Farce im akademisch gebildeten Unterschichtmilieu dort. Dabei gibt Pollesch den Takt vor. "Man kann heute", so Falk Richter vor kurzem im Interview, "von der Welt in aller Schärfe und Brutalität erzählen und die Leute dabei unterhalten. René Pollesch ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Seine Stücke sind intellektuelle systemkritische Orgien."

Falk Richter, der im vergangenen Jahr in seinem vierteiligen Zyklus Das System, darunter Unter Eis, nichts weniger als eine Analyse der postindustriellen Machtverhältnisse vorzulegen suchte, wendet sich mit seinem jüngsten Stück der privaten Sphäre, nach den Makro- also den Mikrostrukturen bundesrepublikanischer Verhältnisse zu. Weihnachtszeit, Terrorzeit. Bei Richter gibt es nur zu Anfang ein trautes Beieinander. Um das Pianoforte, Weihnachtsbaum und Geschenke daraufdrapiert, gruppiert sich das Ensemble zum Gemeinschaftsbild, das sich in den folgenden Stunden gründlich auflösen wird. Man ahnt es bereits, denn oben in einer Glastür der betongrauen Apsis der Schaubühne sitzt eine Alte alleine am Tisch, eine, deren Einsamkeit die Beziehungsunfähigkeit der Jungen vorwegnimmt. Zerrüttete Verhältnisse, zerrüttete Ehen und Beziehungen. Unbarmherzig führt Richter seine Figuren ihren Abgründen und Katastrophen zu, der unreife Vater, der wieder mal seinen Sohn in der Flughafenlounge sitzen lässt, der daueronanierende Manager, die in den Therapeuten verliebte Hausfrau, der schwule Theaterautor-Regisseur auf Schneller-Sex-Tour. Er, gespielt von Bruno Cathomas, bleibt das geheime Zentrum der Aufführung, bei dem ein Teil der Figuren auch noch zu Heiligabend zur Theaterprobe zusammenkommt, weil er nicht allein sein kann.

Richters Figuren, Borderliner, zerfallen allesamt, unfähig mit sich und den anderen zurechtzukommen. Und das bei Eiseskälte. Wie so oft in den Phantasien der Hausautoren - zuletzt in Meyenburgs Eldorado (siehe Freitag 52/2004) - agiert man vor apokalyptischen Hintergründen, die hier durch die Videoprojektionen zweier Radiomoderatoren für Wirklichkeitssimulation, Rhythmus und Sound sorgen sollen. Da wird verkündet, was draußen wirklich los ist. Man entwirft das Winter-Weihnachts-Szenario aus Tim Staffels Roman Terrordrom, in dem Berlin allein durch die Kälte kollabiert. Am Ende werden nicht nur etliche wegen der -38°C gegen Wände gefahren sein, sondern annähernd 300 Tote gezählt werden. Die da drinnen bekommen allerdings von dem wenig mit und zerbrechen an ihren egomanen Ansprüchen und Selbstzweifeln.

Den selbst gestellten Ansprüchen aber wird Falk Richter damit nicht gerecht: "Man kann der TV-Mainstreamästhetik etwas entgegensetzen. Statt schneller Schnitte und coolem Pop plötzlich Konzentration und Emotionen, die nicht abgegriffen oder gesampelt wirken." Zwar gibt es konzentrierte, auch anrührende Momente in der Inszenierung, zum Beispiel wenn Judith Engel in einer Heirat-Haus-Kinder-Improvisation auf der Theaterprobe monologisiert, aber Richters Dramaturgie kommt nur schwer über die Schnitttechnik einer Vorabendserie hinaus und auch das nur dank einer düster dräuenden Licht-Soundinstallation à la Olafur Eliasson, die einem klarmacht, dass es doch so etwas wie eine höhere, ausgleichende Macht im Himmel gibt und hieße sie nur Falk Richter, der uns da was vormacht.

Die düstere Macht bei Pollesch ist wiedereinmal die Pornoindustrie, an deren Versprechen sich zwei Damen und ein Herr, Astrid Meyerfeld, Mira Partecke und Bernhard Schütz abarbeiten. Also auch hier Introspektion, Rückzug ins Intime und wie bei Richter eine Truppe, der "Entfremdung" längst nicht mehr aus der Arbeit, sondern allenfalls aus dem Blick in den Spiegel entsteht. Offensichtlich haben sie sich in ihrer ALG II-Existenz gut eingerichtet: Während die drei - wie es sich für Unterschichtphänomene gehört - in einer scheinbar überheizten Wohnung zwischen Weihnachtsblinkgirlande, Plaste-Nippes und nach Aldiweichspüler riechenden Hundemotivfrotteedecken agieren, friert das Publikum auf den neuen Praterplastikstühlen. Pollesch unternimmt nun keinen Versuch Figuren oder gar eine Geschichte zu entwerfen. Vielmehr schickt er seine drei Akteure in ein schwindelerregenden medialen Loop zusammenhangloser Szenen zwischen Krimiserienprobe, Seminarsitzung und Beziehungsdrama. Dabei überschneiden sich zusehends Spielsituationen und Perspektiven, verdoppelt durch Videomitschnitte. Pollesch bietet einiges auf. Aber nicht darin liegt sein "cooler Pop", sondern, dass am Ende des Exerzitiums die vorher noch um ihre Figuren ringenden Darsteller selber als gestandene Persönlichkeiten erscheinen. Darin zumindest macht uns Pollesch nichts vor.


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