Fliegenfreud und Fliegenleid

Liebe und Liedgut im Labor Christoph Marthaler kehrt mit einem dünnen Abend zum großen Gefühl an die Volksbühne zurück

Nicht enden wollender Beifall. Nach gut einhundertfünfzig Minuten amüsantem Spiel ohne Pause und dem fünften Vorhang nahmen der Regisseur Christoph Marthaler und seine Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock endlich ihren Applaus entgegen. Das Haus am Rosa Luxemburgplatz lag sich in den Armen.

Denn die Volksbühne brauchte nach außen und nach innen hin dringend ein Zeichen. Die erste Hälfte der Saison 2005/06 war bislang mit eher mäßigem Erfolg verlaufen. Der als urwüchsiges Theaterwunder gehypte Ukrainer Andreij Zholdag entpuppte sich in zwei Inszenierungen als geschmacksunsicherer Paranoiker und brachte mit seinem monströs aufgeladenem Bildertheater das Haus an den Rand der Verzweiflung. Von wem also wäre ein solches Zeichen zum Guten zu erwarten gewesen, wenn nicht von Christoph Marthaler, solange der Hausherr Frank Castorf noch in seiner Kreativpause verharrt? War es doch Marthaler, der vor vielen Jahren mit seinem Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! und noch zehn Jahre später 2003 mit seiner Bartleby-Überschreibung den melancholischen Konterpart zu Castorfs aggressiven Dekonstruktionen lieferte und so den Volksbühnenstil mit prägte. Nun also kam der von den Bürden des Direktor-Daseins am Staatsschauspiel Zürich und diversen Festspielverpflichtungen Befreite endlich mit einer Hausinszenierung, Die Fruchtfliege - Ein Forschersingspiel, wieder.

Die Fruchtfliege, schon der komische Titel der neuen Inszenierung lässt den eingefleischten Marthalerfan schmunzelnd frohlocken. Er wird mit dem Abend nicht enttäuscht, er bekommt, was er erwartet: gute Unterhaltung, dazu schmerzfrei und garantiert ohne Nebenwirkungen. Damit es nicht zu kulinarisch und der nötige Tiefgang für Marthalers Narrenschiff hergestellt wird, erfährt man im Verlauf des Abends, dass die dem Stück namengebende Drosophila melanogaster bis heute als geschundener Modellorganismus dem Wissenschaftsbetrieb in Legionen zur Verfügung steht und somit nicht nur für die Ausbeutung der Natur an sich stehen kann, sondern vor allem als Antizipation des menschlichen Schicksals zu deuten sei. Die Engführung von Fliegenleid und Menschenfreud, seines Liebes- und Trieblebens in Zeiten forschender, mithin entfesselter instrumenteller Vernunft verheißt folglich nichts Gutes, wie die sieben Darsteller in Viebrocks Einheitsbühnen-Zwischenreich aus Umkleide, Labor und Backstage-Kabine denn auch singend und tanzend ausagieren.

Apropos Singen. Zum Marthalerhype gehört auch, dass es einige gibt, die keine Marthalerfans sind. Sie ertragen vor allem das Singen nicht, den Puccini zum Beispiel, so leicht daneben gesungen, oder Wagner, nach Marthalers Engagement in Bayreuth natürlich den Tristan, auch der daneben, doch mit Inbrunst, sind es doch Schauspieler, Laien, die sich ins Zeug legen. In der Oper schläft sich´s am besten, weiß der Marthalerfan, und das Dösen ist die geeignetste Rezeptionshaltung für eine Marthalerinszenierung, die Erfahrung einer ausgedehnten Gegenwart - einer schier unendlichen langen Weile.

Das wird auch in der Fruchtfliege noch vor Beginn des Abends klar gemacht: Zwei Herren mit Kassengestell und grauem Anzug stehen sich schon beim Platznehmen des Publikums leise singend gegenüber. Was sie an diesem Ort, den Viebrock mit Bänken und Schänken aus der Opéra Garnier in Paris hierher transformiert hat, zu suchen haben, bleibt erst einmal unbestimmt. Endlich werden sie von einem Korrepetitor angeleitet (den gesamten Abend unermüdlich: Stefan Wirth am Flügel), singen Philipps Arie aus Verdis Don Carlos und brechen dann ab. Applaus. Dunkel. "Viele Jahre später", erscheint über dem Bühnenportal. Erstes Glucksen, Kichern im Publikum. Es weiß, was kommt. Das Licht geht wieder an und die beiden stehen immer noch da und singen: "Sie hat mich nie geliebt." Applaus. Nächste Szene: Olivia Grigolli kämpft sich unter dem roten Vorhang durch. Kassengestell, weißer Laborkittel, Rock signalisiert Wissenschaftsbetrieb und Verklemmtheit, die gestisch unterstrichen wird. Gang an die Rampe, Mitte. Sie doziert über ihre Fruchtfliegen, und darüber, dass sich der Mensch evolutionsgeschichtlich als zweigeschlechtliches Lebewesen, mithin die Liebe als Luxusempfindung, abschaffen werde. Unvermittelt geht sie von ihrer Suade in Mozarts Cherubino-Arie aus der Hochzeit des Figaro über. Applaus. Der Vorhang geht auf: Das Ensemble erscheint als Labormutanten mit Silberkugeln vor den Augen, die aus dem Chor heraus verwandelt zur Pianofortebegleitung ihre Nummern ausführen werden, Paarungskämpfe, scheiternde Begegnungen, die durch das Potpourri der 37 Lieder und Arien von Friedrich Holländer bis Puccini zusammengehalten werden.

Dabei war der thematische Rahmen bereits mit den ersten zwei Nummern ausgeschöpft: Die romantische Liebe ist in Zeiten des szientistischen Blicks längst gestorben - einzig die Musik bewahrt noch das große Gefühl, was Marthaler, ausgebildeter Oboist und Orchestermusiker, irgendwann mit Alexander Kluge im Hinterkopf in der paradoxen Parole am Portal zuspitzt: "Die Musik ist älter als das Gefühl". Auch dem eingefleischtesten Marthalerfan konnte es mulmig werden, denn die behauptete Spannung der Figuren, ihre Begehren, ihre Sehnsüchte und Wünsche - blieb Behauptung. Zwar blitzten in der Fruchtfliege ab und an der anarchische Witz und die Abgründe früherer Inszenierungen auf, aber man setzte auf "Marthalers best of". Steht zu befürchten, dass Marthaler mit seinen 54 Jahren nun auch das kritische Alter erreicht hat, mit dem auch Theatermagier wie Robert Wilson oder Achim Freyer schließlich im gefälligen Mainstream angekommen waren. Zum gelungenen Schluss der Fruchtfliege wurden die Akteure auf eine imaginäre Bühne hinter der realen Bühne gerufen. Unter dem Fanfaren-Bombast des Schlusstableaus von Hector Berlioz La damnation de Faust säuselte eine Inspizientinnenstimme aus dem Off: "Verdammnis, Pandämonium. Vier Wissenschaftler linke Seite, drei Wissenschaftler rechte Seite, bitte." Die Volksbühne hat Marthaler mit seiner Fruchtfliege vorerst vor dem saisonalen Absturz bewahrt. Doch er selbst ist vor der Gefahr, sich im kunstgewerblichen Theater zu verlieren, nicht gerettet. Man hätte man ihn gern mit zum "Pandämonium", zur finalen Läuterung nach hinten rausgeschickt.


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