Sie heißen Asterngrund, Berggeist, Florafreunde, Goldregen, oder Harmonie, An der Avus, Johannisberg, Pank-Terrassen, Samoa oder Paradies. Die über 800 Laubenkolonien in Berlin mit ihren Kleingärten, 78.000 an der Zahl, liegen an den inneren Rändern der Stadt, eingezwängt zwischen Bahngleisen, Kanälen und aufgelassnen Industrien. Eine davon ist Bornholm. Bornholm ist auch in Berlin eine Insel, oder fast, denn die Laubenkolonie liegt zwischen Stadtring, S-Bahnhof und einer Tramschleife. Eine Kolonie also wie jede andere, außer, dass sie einmal direkt an der Mauer lag. Und, dass sie an sieben Abenden im August zur Bühne eines ungewöhnlichen Theaterprojektes wurde.
Wie jede andere Kolonie, die nach dem Ruf des Arztes und Pädagogen Moritz Schreber, den Stadtbewohner zu Natur und Leibesertüchtigung zu führen, seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden ist, erscheint Bornholm dem Außenstehenden als ein hortus conclusus, der vom Kleingeist regiert und im Grunde vor allem von Gartenzwergen bevölkert wird. Am Eingang zur Kolonie lockt eine Speisekarte mit Grillbouletten und Käsesuppe für den kleinen Hunger zum Vereinsheim Bauernstube. Doch herein traut man sich normalerweise nicht, denn wer hat schon Lust, durch sein Eindringen in Erklärungsnöte zu geraten, oder sich der Kläffer zu erwehren, die hinter jeder frisch frisierten Hecke vermutet werden? Es lässt sich daher kaum ein Ort denken, der Öffentlichkeit mehr ausschließt und somit auch das Theater, auch wenn die zuhauf vor deutschen Zivilgerichten ausgetragenen Nachbarschaftsprozesse, dramatisches Potenzial vermuten lassen.
Die Performance Parzelle Paradies wollte hierzu auch keinen Gegenbeweis antreten. Vielmehr ging es dem in Berlin und Argentinien lebenden Autor und Regisseur Roland Brus darum, jenseits der Exhibition des Privaten im TV-Format, einen Einblick in deutsche Befindlichkeiten und Geschichte, persönliche Lebensentwürfe und Träume zu geben und zu reflektieren.
Die abgeschlossene Welt der Parzellen bot die Möglichkeit, wie in einem Brennglas zu verdichten. Brus begreift sie nicht als Kulisse skurriler Anekdoten, sondern als Bühne, auf der die Bewohner der Kolonie in performativen Miniaturen als Darsteller von sich erzählen. Das blieb nicht ohne Reibung: Gleich die erste Figur, die sich der vor dem Eintritt in die verborgene Welt den versammelten Zuschauern als Wegewart vorstellte, schien jedes Vorurteil bestätigen zu wollen, indem er im Kommando-Ton die Regularien der gemeinsamen Begehung vortrug: "Bleiben Sie kompakt!". Dann übergab der Wegewart das Wort an einen Kahlköpfigen, der sich als Conferencier des Abends herausstellen sollte, zunächst einmal aber zur Initiation der versammelten Mannschaft einen Rundgang durch das Dickicht der Tramschleife unternahm, bevor es dann - "Zügig!" - auf die schmalen Gänge und Wege der Kolonie ging, wo sich nun der theatrale Reigen durch die Gärten öffnete. Würde man darstellende Kunst und das Theater allein von seiner mimetischen Seite her begreifen, hätte man spätestens hinter der Parzelle 23 auf dem Röschenweg umdrehen müssen: War die Lektion zur Geschichte der Schrebergärten bieder-sachlich vorgetragen, überraschte der Bewohner der Parzelle 19 mit einer Elvis-Karaoke, an der man sich nur "Zügig!" vorbei zum Vereinsheim retten konnte. Doch bis zum Schluss verließ keiner der 50 Zuschauer die Gruppe, und das war weder dem Voyeurismus noch dem Imperativ des Wegewarts allein geschuldet. Denn wie an der Bauernstube der Chor der Kleingärtner in Strohhut und grüner Schürze den Auftritt des Kollegen kurz zuvor konterkarierte, war der Parcours von Brus und seinen Darstellern, unterstützt von einer Schauspielerin, allesamt Laien, inszenatorisch in jeder Hinsicht stimmig. In den Stationen durch die Gärten, durch schwarze Kisten diskret markiert, vermied es Brus seine Darsteller in dramatisierten Spielszenen zu exhibitionieren. Ebenso wie die Kisten, eine Schaukel, in der Abenddämmerung die mobile Beleuchtung und zum Abschluss eine den Weg magisch erleuchtende Neonlicht-Installation die wenigen, aber darum um so eindrücklicheren Eingriffe in das Vorgefundene waren - die Arbeit seines Ausstatters Rolf Giegold -, gelang es dem Regisseur für jeden der Mitspieler nach dessen Möglichkeiten eine eigene Dramaturgie und "Sprache" zu finden: Zum Beispiel Lotti, die rüstige Dame mit ihrem Faible für die Formel 1, die man in Parzelle 291 auf ihrer Veranda traf, um sie Stationen weiter als Vamp über Botanik philosophieren zu hören. Oder den grinsenden Vorstand im Pool, einst Eisenflechter am Reichstag und nun arbeitslos, wo mit dem Blick über den Zaun die Grenze zwischen eigener Neugier und Scham, Mitleid und Neid auszutarieren war. Die Leistung des Abends lag darin, Wertungen außer Kraft zu setzen und Zeit zum Hinsehen und Zuhören zu lassen. Hinter dem Banalen und Alltäglichen waren so ohne Zeigestock die Abgründe der individuellen Lebensgeschichten auszumalen. Es konnte ebenso von den betont als gut bezeichneten Ost-West-Nachbarschaften in der Kolonie gesprochen werden, wie von den nun verlorenen Vorteilen der Hinterlandmauer, die dank Nachtspeicherwärme den Erdbeeren zur frühzeitigen Reife verhalfen.
Bereits Mitte der neunziger Jahre hatte Roland Brus die Theatergruppe aufBruch in der Justizvollzugsanstalt Tegel gegründet, die damals mit einer Bearbeitung Schillers Räuber herauskam. Die Gruppe arbeitet mit veränderter Besetzung noch heute. Denn wie in der Performance Parzelle Paradies ging es Roland Brus in seiner Arbeit in der JVA nicht darum, dem Theater den frischen Wind des "Authentischen" oder "Realen" in die Segel zu blasen, - das verpufft. Vielmehr sieht Brus im Theater die Möglichkeit, dass sich der Mensch, getragen von einem Kollektiv und einem künstlerischen Rahmen in der Darstellung, entfaltet und Anerkennung erfährt. Den Inszenierungen Roland Brus wohnt wie den Performances des Amerikaners Ping Chong die Idee des Theaters inne, durch die Darstellung einen authentischen Entwurf des Menschen zu ermöglichen. Emphatisch gesprochen stellt das Theater den Menschen nicht dar, sondern es stellt ihn erst her.
In Vorgesprächen zu Parzelle Paradies, zu denen sich über 30 Interessenten meldeten, blieben Brus schließlich neun, aus deren Interviews im Team Spielszenen und Texte entstanden, die in einen dramaturgischen Ablauf gebracht werden mussten. Einer der anrührendsten Momente gelang mit dem großen Auftritt von Gitti, die, es war bereits dunkel geworden, mit ihrem Fiat Punto auf dem ehemaligen Kolonnenweg der Sektorengrenze vorfuhr und gefasst ihre Geschichte von der gescheiterten Republikflucht erzählte. Und vor allem der Wegewart Paule zeigte sich im Verlauf der Abends einer verblüffenden Verwandlung fähig: Im Gegenlicht stand er, mit Angel im Grünen fischend einem Gartenzwerg nicht unähnlich, an einem Rasenstück, um den Versammelten, die plötzlich selbst wie Gartenzwerge auf ihren Stühlchen lauschten, von seinen bodenlosen Träumen zu berichten, die um das Problem kreisten, dass Flugzeuge in Nachbars Garten abstürzten - der Flughafen Tegel ist in Hörweite - aber bisher nicht in seinem. Die Zuschauer waren zu diesem Zeitpunkt längst Teil der Inszenierung geworden.
Waren die Vermessungsleute auf den Wegen nun Teil des Spiels und der Sitz-Nachbar interessierter Zaungast oder neugieriger Bewohner der Kolonie? Unversehens war man zu einer Gemeinschaft geworden, die nach dem Exodus im Vereinsheim über Gitti, Paule und schließlich sich selbst ins Gespräch kommen konnte. Auf absurde Weise kreuzen sich die Intentionen von Schrebergärtner und Theatermacher: Träumt der eine über die Abgründe hinweg vom nicht entfremdeten Leben in der Laube, träumt der andere von einem unverstellten auf der Bühne.
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