Nichts wie zuvor und alles beim Alten

Angst Katharina Hacker zeichnet in ihrem Roman "Die Habenichtse" das verstörende Porträt einer gefühlsblockierten Generation

Wenn sich der Protagonist eines Romans auf den ersten Seiten zum ersten Rendezvous im Kreuzberger Szenelokal Würgeengel verabredet und dazu auch noch einen Golf fährt, um als junger Anwalt unauffällig im brandenburgischen Umland offene Vermögensfragen zu klären, darf man davon ausgehen, dass hier zum wiederholten Mal ein Vertreter der um 1970 geborenen Generation Golf die Erzählbühne betritt.

Katharina Hacker, Jahrgang 1967, aufgewachsen in Frankfurt am Main und einige Jahre in Berlin zuhause, lässt in ihrem dritten Roman Die Habenichtse kaum einen Zweifel daran, wen sie mit dem Titel ihrer Geschichte meint, und was sie von ihnen, von den wenig nach ihr Geborenen, den Anpassern, Konformisten, Habenichtsen hält: wenig. Und doch teilt sie mit ihnen wenn nicht Mitleid, so doch Sympathie. Sonst wäre es nicht zu erklären, warum dieser dreihundertseitige Roman den Leser so in seinen Bann zieht.

Da sind zuerst Katharina Hackers ruhige, in großen Satzbögen ausgelegte Erzählsprache, ihre Beobachtungsgabe, ihr Ernst. Wo ein Florian Illies im großen WIR schwadroniert, legt Katharina Hacker als distanzierte Erzählerin erst einmal Sorgenfalten auf. Humor ist ihre Sache nicht. Dem spaßversessenen Geschwafel wird Differenzierungsvermögen und Haltung entgegengesetzt. Wer mit den großen Scheinen wedelt, muss Kleingeld herausgeben können, scheint Katharina Hacker sagen zu wollen und wägt, prüft in den Habenichtsen diese mit Bildung, Auskommen, Wohnung komfortabel ausgestatteten Metropolenkinder. Und sie kommt zu einer bitteren Bilanz, auch wenn sie sich jeder direkten Wertung enthält und - bis in den offenen Schluss des Romans - das Urteil dem Leser überlässt.

Das Kunststück des Erzählens gelingt Katharina Hacker jedoch nur durch eine Reihe nicht immer unproblematischer Kunstgriffe. Ohne sie wäre die Welt der im Würgeengel verabredeten und golffahrenden Habenichtse zu farblos und fade. Wie es über Jakob, den Anwalt, im Roman einmal gesagt wird: nur durch einen flüchtigen Blick einer Fremden auf der Straße ist er gewogen und für zu leicht befunden worden. Mit diesem Helden und seinem Umfeld allein wäre Katharina Hacker die Waagschale und dem Leser das Buch längst aus der Hand gefallen. Daher entwirft sie parallel zur Welt der Latte-macchiato-Szenerie eine Gegenwelt: eine Welt am untern Ende der sozialen Skala, von der man sagen würde, sie sei die Welt der Habenichtse im wörtlichen Sinn. Damit die Begegnung zustande kommt, bedarf es bei Katharina Hacker glücklicher, aber immer schuldbehafteter Umstände. Kairos sagten die Griechen dazu: Situationen in denen man etwas ergreifen kann oder nicht, Entscheidungen fällen muss, gewinnt oder versagt.

Der Kairos der Habenichtse ist der 9. September 2001. Weil er an diesem Tag seine Studentenliebe Isabelle nach langen Jahren zu einer Party wieder sehen und lieben will, sagt Jakob einen Geschäftstermin in New York ab. Statt seiner fliegt ein Kollege, der beim Einsturz des WTC ums Leben kommt. Cocktail schlürfend versucht man dem Desaster beizukommen. Die weltpolitische Lage, der bevorstehende Irakkrieg bleiben weiterhin eine beiläufig erzählte, immer präsente Folie der diffusen Angst und Bedrohung. Dass die Habenichtse bei Hacker nichts ergreifen, - auch nichts im Privaten - keinen Zugang zu ihren Gefühlen haben, sondern sich von den Ereignissen treiben lassen, zeichnet sie als verloren funktionierende Individuen aus.

Isabelle wird Jakob nicht aus Leidenschaft oder Liebe heiraten, sondern wie es ihr in den Mund gelegt wird: "Es ist so passend." Der Anschlag auf das WTC hatte nämlich nicht nur einen Kollegen getroffen, sondern mit dessen Tod für Jakob die Stelle eines Verbindungsanwalts in einer Londoner Kanzlei frei gemacht, so dass man mit ihm und Isabelle in die wenig reputierliche Lady Margret Road im Norden der Themsemetropole zieht. Mit diesem Kunstgriff verabschiedet sich Katharina Hacker weitgehend von der Berliner Szene, der sie in ihren Beschreibungen auch wenig Neues ablauschen kann. Viel spannender ihr Blick auf London: Klischeefrei und fern ab der Postkartenbilder.

Das Leben von Jakob und Isabelle bekommt nun einen Spiegel in den Geschichten der vernachlässigten und bettnässenden Nachbarstochter Sara und des brutalen Dealers Jim, der sich zwischenzeitlich auch in der Nähe des viktorianischen Reihenhäuschens der Protagonisten einquartiert hat. Besonders der kindliche Blick Saras auf ihre beschränkte Welt wird von Katharina Hacker einfühlsam und genau beschrieben, ihre Hoffnung auf den Bruder, der neben der Katze ihr einziger Halt gegenüber den Milieu geschädigten Eltern darstellt. Deren Streit und Gebrüll dringt zwar durch die dünnen Wände der Häuser, doch die zuhause Online für ihre Berliner Agentur an Kinderbüchern arbeitende Isabelle berührt dies nicht. Katharina Hacker zeichnet hier ein sehr präzises Bild fehlender Empathie. Die nächtliche Prügelei, in die sie, Jakob und ein Kollege verwickelt werden, nimmt sie nicht als Teil ihrer Realität wahr. Auch die Notlandung bei der Ankunft in London hatte sie weggesteckt, ebenso wie sie die Annäherungsversuche des Kollegen ihres Mannes einfach geschehen lässt. Doch Jakob stellt sie darum nicht zur Rede. Gestritten wird in der Beziehung nicht. Alles scheint im Gleichklang zu laufen. Doch nichts stimmt. Man lebt sich zunehmend auseinander.

Während sich Jakob nach und nach durch seinen neuen Chef angezogen fühlt, sucht Isabelle die Begegnung mit Jim. "Es war alles verlassen," heißt es in den letzten Zeilen des Romans, "nur er und Isabelle hatten nichts begriffen." Wenn ihnen etwas zustößt, sind sie nicht berührt. Wirkliche Begegnungen finden nicht statt. Da sie den Zugang zu ihren Gefühlen verloren haben, fehlt ihnen Orientierung, der Zugang zu sich selbst, wie zu den Menschen. Das ist es, was sie nicht haben, was sie auch zu Habenichtsen im wörtlichen Sinn macht. So sind sie sich selbst und dem Verdrängten ausgeliefert. Während Jakobs latente Homosexualität in die versachlichte Beziehung zum schwulen Chef projiziert wird, sucht Isabelle in den Anmaßungen des aggressiven Jim ein Gegenüber für ihre Gewaltphantasien. Wie die beiden Habenichtse außerhalb ihrer Beziehung dem Verdrängten blind nachgehen und daran scheitern, weil sie es nicht artikulieren und nicht austauschen können, ist von Katharina Hacker in seiner erbarmungslosen Konsequenz lakonisch, blickgenau und spannend erzählt. Nichts ist wie zuvor, alles wird anders, - dieser nach den Anschlägen vom 9. 11. oft gehörte Satz zieht sich auf vielen Ebenen moduliert durch den Roman. Dass alles bleibt, wie es ist, auch wenn sich im Grunde alles ändert, ist die ernüchternde Einsicht, die Katharina Hacker ihrer Generation ins Stammbuch schreibt.

Katharina Hacker: Die Habenichtse. Roman. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006,
308 S., 17,50 EUR


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