Wahrheit lässt sich nicht spielen

Phantome der Gewalt Der libanesische U.S.-Amerikaner Walid Ra´ad dekonstruiert die Bilder und Geschichte des Bürgerkriegs im Libanon 1975-1991

Ein Foto: Rauchschwaden, Uniformierte bei der Arbeit, drei über einen Motorblock gebeugt, als gälte es die Anatomie eines Kadavers zu examinieren. Figuren im Hintergrund stieren in die Kamera. Der Ausnahmezustand scheint Alltag, Zweien der Gruppe wurde die Aufmerksamkeit bereits durch irgendetwas außerhalb des Bildausschnitts abgezogen. Sie blicken nach oben, lässig, fast entspannt, nachdem kurz zuvor eine Autobombe den Krater in die Wohnstraße gerissen haben muss. Was oder wer ihre Aufmerksamkeit abzog, wird man wohl nie erfahren. Und würde man die Herkunft des Fotos nicht kennen, dürfte dessen historische Einordnung schwer fallen. Zu sehr gleichen sich die Bürgerkriegsbilder. Ob sie aus Delhi, Tel Aviv, Bogota oder Beirut stammen, ist kaum mehr zu erkennen.

Das beschriebene Pressefoto stammt aus einem Archiv des 1967 im Libanon geborenen und in New York und Beirut lebenden Walid Ra´ad. Es ist Teil des 1999 von ihm initiierten Projektes Atlas Group, das kollaborativ die neuere Geschichte des Libanon, insbesondere des 15-jährigen Bürgerkriegs zwischen 1975 und 1991, in Bild- und Fotoarchiven, Videodokumentationen und Lecture-Performances kritisch rekonstruiert. Die Atlas Group legt damit ein verstörendes Palimpsest postkolonialer Konflikte frei. Ihr gelingt das überzeugend, indem sie gängige Dokumentationsformen durchbricht. Sie reflektiert die medial-politischen und sozialen Implikationen ihrer Rekonstruktion: Was repräsentiert das Dokument? Welche Macht setzt es? In welchem Kontext wird es wie und von wem gelesen?

Ra´ad präsentierte die Schwarz-Weiß-Fotografie zuletzt als ein Ausschnitt des Projektes My Neck Is Thinner Than A Hair in der Hamburger Galerie Sfeir-Semler. Es war dort kommentarlos unter 100 weiteren Prints, die Vor- und Rückseite von Pressefotos aus 15 Jahren Bürgerkrieg zeigen, an die Wand gereiht. Die Prints bilden immer das selbe ab: Zerfetzte Autoteile, Krater, die Ordnungskräfte bei der Spurensicherung von einem der über dreitausend Autobombenanschläge, die seit Anfang der siebziger Jahre den mörderischen Alltag im Libanon beherrschten - 245 davon mit Todesfolge. Stempel und arabische Schrift auf den Rückseiten verleihen den Fotos den Anschein behördlich beglaubigter Autorität. In Wirklichkeit vermerkte die Atlas Group Zeitpunkt, Ort und vermutete Täterhinweise auf dem dadurch zum authentischen Dokument avancierten Papier.

Ihr Vorgehen baut eine Spannung zwischen Realität und Fiktion, zwischen Erinnerung und Projektion auf, die nach der Bedingung der Möglichkeit von individueller und kollektiver Erfahrung fragt, wo diese immer schon präformiert erscheint. Versuche dagegen, die Geschichte des Bürgerkriegs aus einer Perspektive linear zu erzählen, wie jüngst der 1995 in Beirut erschienene Roman von Raschid al-Daïds Lieber Herr Kawabâta, müssen nicht zuletzt an dieser Komplexität immer wieder scheitern.

Ra´ads Geschichten beginnen bei den Bombenattentaten. Sie füllen im Sinne Walter Benjamins nur im Vorübergehen eine "homogene, leere Zeit". Die tägliche Gewalt, die er bis zu seiner Flucht aus Beirut mit 17 Jahren selbst erlebte, strukturiert er chronologisch. Diese Chronologie dient dazu, einer ungeschriebenen Geschichte nahe zu kommen, deren Autor sich darin einer Erinnerung bemächtigt, "wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt". Nicht die Zerstörung, die Flucht oder der Kampf selber, waren das Schlimmste, erzählt das Mitglied der Atlas Group Tony Chakar, der während des Krieges in Beirut aufwuchs, sondern die Zeit dazwischen. Doch welches Bild kann es davon geben?

Die Erinnerung geht nicht in den Bildern der Pressefotografen auf, schon gar nicht in Schulbüchern einer Gesellschaft, die seit Jahrhunderten in eine Vielfalt kultureller und religiöser Gruppierungen, von maronitischen Christen bis schiitischen Drusen, in Sippen und Clans gespalten war und ihre Einheit nur im Gegensatz oder wirtschaftlichen und oktroyierten politischen Interessen gefunden hatte. Die Atlas Group setzt diesem zerrissenen und manipulierten Gedächtnis - im Sinne Aby Warburgs Bilderatlas der Pathosformeln - einen Bilderatlas der Phantome des Krieges entgegen. Sie legt so einen ungeschriebenen Text unter die Texte, fragt nach den ungemachten Bildern, hält die Ängste und Hoffnungen wach. Sie webt ein plausibles und absurdes Gespinst, indem sie zum Beispiel die Detektivarbeit der Behörden durch den fiktiven Historiker Dr. Fadi Fakoun mit einer Recherche zu den damals verwendeten Fabrikaten der bei Anschlägen verwendeten PKWs wieder aufnehmen lässt. Oder in einem Video kommt ein zusammen mit westlichen Geiseln entführter Palästinenser zu Wort: Die fingierten, doch wahrscheinlichen Berichte über die Gefangenschaft, Missbrauch und Zuneigung unter den Inhaftierten scheinen heute jenseits des Dokumentarischen ein Zeugnis von beklemmender Aktualität.

Die Wahrheit lässt sich nicht darstellen. Sie entzieht sich der mimetischen Annäherung und stellt sich in seltenen Fällen für einen Augenblick her. Daher setzt Walid Ra´ad auf die Präsentation in sogenannten Lecture-Performances: Für die Authentizität des Dargestellten bürgt hier der performative Akt, die Haltung dessen, der ihn vollzieht.

Wahid Ra´ad, My Neck is Thinnner than My Hair am 5. und 6. Juni im Rahmen des Festivals InTransit im Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Die Atlas Group im Internet: www.theatlasgroup.org


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