Kann es sein, dass sich die Geschichten aus der moralischen Grauzone häufen? So wurde in einer der ersten Kritiken des vorliegenden Bands auf das letzte Buch von Julian Barnes verwiesen. Darin ging es um Dmitri Schostakowitsch und die Frage, wie sich der Komponist Stalins und noch Chruschtschows Regime andienen musste, um seine Kunst ausüben zu können. Ohne Scham, Schuld und Versagen ist kein Werk im Totalitarismus zu haben. Im Grunde genommen zeichnete Barnes seinen Schostakowitsch als konventionellen Antihelden, der in seiner moralischen Schwäche an Menschlichkeit gewinnt (vgl. Freitag 8/2017) .
Dieses Paradox des Humanismus ist es aber nicht, was die Lektüre des Buchs „Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin“ von Herlinde Pauer-Studer und J.
erlinde Pauer-Studer und J. David Velleman so beklemmend macht. Eher schon kommuniziert es auf unheimliche Art mit Hans Magnus Enzensbergers Bestseller über Kurt von Hammerstein, den Chef der Heeresleitung, der 1934 demissioniert hatte, fortan als Privatier in Berlin lebte und über seine kommunistischen Töchter lose mit dem Widerstand gegen den NS verbunden war. Es ist abermals keine Heldengeschichte, die Enzensberger da vor ein paar Jahren in Hammerstein erzählt hat, sondern eine biografische Montage, getragen von dem, was Enzensberger den „Eigensinn“ dieses Hitler-Gegners nannte. Der Begriff passt zum Werk eines Autors, das von ideologischen Schablonen noch weniger als früher wissen will, und also nicht zufällig eine Figur aus dem Dunstkreis des konservativen Widerstands ausgewählt hat, weil jener „Eigensinn“ hier vermeintlich stärker ausgeprägt ist als im linken Antifaschismus. Aber was meint er genau? Und in welchen Grenzen des Zumutbaren kann man ihn verorten? Kann er auch für einen SS-Richter gelten?„Der Korruptionsverbrecher“Diese Frage zu stellen, fällt nicht leicht. Wer aber das Buch über Konrad Morgen gelesen hat, wird mit den Autoren sagen müssen, dass sich der Fall „nicht mit plakativen Kategorien und Urteilen von ‚Gut‘ und ,Böse‘ erfassen lässt“. Er wird neben Konventionalität auch Mut erkennen müssen.Der ausgebildete Jurist Morgen war seit 1933 Mitglied der SS und der NSDAP. Im Herbst 1940 wurde er SS-Richter, spezialisiert auf Korruptionsfälle, dabei ging er so rigoros vor, dass er zwischenzeitlich seines Amtes enthoben wurde, ab Juli 1943 war er dann mit der Untersuchung von Bereicherung in den Konzentrationslagern betraut.In Fachkreisen ist Morgen kein Unbekannter. Nach dem Ende der Hitlerdiktatur hatte er als Zeuge in mehreren Kriegsverbrecherprozessen ausgesagt, einem breiteren Publikum wurde er durch den neuen Leiter des Deutschen Historischen Museums, Raphael Gross, bekannt, auf dessen Studien Pauer-Studer und Velleman bauen. Sie ist in Wien lehrende Rechtsphilosophin, er Rechtsphilosoph in New York. Für ihr erst in Englisch, nun bei Suhrkamp auf Deutsch erscheinendes Buch sind sie in die Rolle des Historikers geschlüpft und haben gründlich recherchiert, herausgekommen ist eine Biografie, die sich nicht nur wie ein Roman liest, sondern auch fundamentale rechtsphilosophische Fragen provoziert.Ja, man kann die Geschichte sogar so erzählen, dass sie wie ein Kolportageroman klingt. Ein SS-Richter stößt in der Feldpost aus dem KZ Auschwitz auf solche Mengen von Goldklumpen, dass er anfängt zu rechnen: Es muss sich um das Zahngold von 50.000 bis 100.000 Menschen handeln. Natürliche Todesursache scheidet aus. Also Massenmord. Er beschließt nach Auschwitz zu fahren. Man zeigt ihm alles, auch die Gaskammern. „Verständlicherweise konnte ich diese Nacht kein Auge schließen. (…) Und ich überlegte, was nun dagegen unternommen werden könnte.“ So schilderte Morgen es beim Frankfurter Auschwitzprozess 1964. Um zu verstehen, was er dann unternahm, muss man einen monströsen Satz seines Vorgesetzten, des „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler, aus der „Posener Rede“ vom Oktober 1943 zitieren. „Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, das zu tun, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. Wir haben aber nicht das Recht, uns auch nur mit einem Pelz, mit einer Uhr, mit einer Mark oder mit einer Zigarette oder sonst was zu bereichern.“SensibilitätNach allem, was man wissen kann, war Konrad Morgen kein überzeugter Antisemit, aber an Himmlers fanatischem Ehrbegriff hat er bis zum Ende festgehalten. Bekanntlich verstand sich die SS als Avantgarde und Elite im Nationalsozialismus, als reiner Träger der Ideen. Umso unerträglicher musste jeder Einzelne erscheinen, der das Ideal beschmutzte. Morgens Kampf gegen die Korruption bezog sich sowohl auf den Straftatbestand der Unterschlagung als auch auf den moralisch verwerflichen Charakter. 1936 verfasste er einen Artikel über den „Korruptionsverbrecher“, der die Tätertypologie des NS erweiterte. Berechnend, bindungsunfähig und haltungslos sei dieser „Korruptionsverbrecher“, ein Feind der „Volksgemeinschaft“ wie etwa der „Sittlichkeitsverbrecher “, der freilich, wenn er in der SS agierte, besonders schädlich war.Morgen wollte sie alle kriegen, das war umso riskanter, je enger der Verfolgte mit dem obersten SS-Führer Heinrich Himmler war; in seinen Untersuchungen gegen Günstlinge wie den kriminellen SS-Kommandanten Hermann Fegelein oder den Kommandanten der Konzentrationslager von Sachsenhausen, Buchenwald und Majdanek Karl Otto Koch ging Morgen ein beträchtliches persönliches Risiko ein.Aber er war nun einmal ein „Gerechtigkeitsfanatiker“, wie er sich 1946 im Nürnberger Prozess selbst bezeichnet hat. Dieser moralische Furor ist abgründig. Morgen hatte ein Gerechtigkeitsgefühl, aber es bezog sich primär auf die Untat des Täters. Er war nicht amoralisch, aber seine moralische Sensibilität galt der Bösartigkeit der Straftäter, nicht dem Leid der Opfer. Wenn SS-Leute einen Juden „buchstäblich zu Tode trampelten“, dann sollten die Mörder zwar bestraft werden, aber nicht „wegen der Verletzung des Rechts auf Leben des Opfers; sie sollen bestraft werden, um die Ehre und Reinheit der SS zu bewahren“, schreiben Pauer-Studer und Velleman.Dieses Muster der Täterfixierung zieht sich bis zur Entdeckung der Gaskammern in Auschwitz durch, und teils noch darüber hinaus. Nachdem Morgen im Spätsommer 1943 die Gaskammern gesehen hatte, dachte er an Attentat oder Flucht, beschloss dann aber, als SS-Richter weiterzumachen, um den Massenmord zu beenden. In irren Argumentationsschlaufen beschreibt er, wie er die Täter zwar nicht für ihre Kapitalverbrechen belangen konnte, sie aber für „sekundäre Verbrechen“ bestrafen wollte.1950 entnazifiziertNach dieser Methode versuchte er auch gegen den furchtbaren Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, ein SS-internes Strafverfahren einzuleiten. Mittel zum Zweck war dabei dessen tschechische Geliebte, die Gefangene Eleonore Hodys, die er zu einer Zeugenaussage gegen Höß bewegen wollte. Es kam so wenig zu einem Verfahren wie gegen Adolf Eichmann, den er wegen Unterschlagung belangen wollte.Dennoch: Als SS-Richter war Konrad Morgen eine „singuläre Erscheinung“. Er ging so weit wie vielleicht kein zweiter seines Standes, und blieb doch in den Grenzen seines Horizonts. Dass sein tugendethischer Furor Teil des Wahnsinns war, blieb ihm so verschlossen wie die Erkenntnis, dass Moral und Recht niemals identisch sein dürfen (die rechtsphilosophischen Implikationen des Falls können hier nur angedeutet werden). Eine „moralische Biografie“ nennen die Autoren ihr Buch, im vollen Wissen um die Problematik dieses Etiketts. Von Widerstand mag man nicht sprechen, aber auch von Anpassung nur bedingt.Und gewiss ist das eine Täterbiografie (auch wenn Morgen 1950 entnazifiziert wurde und als Rechtsanwalt arbeiten konnte), aber dieser Täter ist ein Richter, der anders als die mordenden Täter „die Geschehnisse als das beurteilte, was sie waren: Verbrechen“. Ist das schon eine Leistung? Wer urteilt darüber? Mit welchen Maßstäben? Und das Buch stellt Fragen darüber hinaus: Gibt es eine solche auf den Täter fixierte Moral immer noch? Ist sie sogar verbreitet? So gesehen klingt es fast zu trocken, wenn man mit den Autoren festhält, dass es sich um einen Fall von „moralischer Komplexität“ handelt.Placeholder infobox-1
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