Neulich erstellte eine Menge Menschen bei Facebook eine Liste mit den für sie wichtigsten zehn Büchern, und man fand darin nur wenig Theorie. Fänden sich solche Listen aus den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, wäre das Bild wohl ein anderes. Wenn Ulrich Raulff in seinem wunderschönen kleinen Buch von den „wilden Jahren des Lesens“ erzählt, dann meint er zwar nicht nur Theorie. Er hat schon auch Belletristik gelesen, aber die dann mit „dem sachlichen Blick des Historikers oder Philosophen“. Umgekehrt las er die „wissenschaftliche Literatur mit den Augen des Ästheten“. Wer so las, landete im Strukturalismus, bei Roland Barthes, bei Michel Foucault, den Raulff ins Deutsche übersetzte. Außerdem hat sich der 1950 Geborene als Herausgeber einer ambitionierten Zeitschrift (Tumult), als Autor von Sachbüchern, als Feuilletonchef der FAZ und als Literaturchef der SZ einen Namen gemacht. Heute ist er Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach.
Die wilden 70er Jahre liegen da scheinbar weit weg. Und rücken doch näher, wenn man begreift, was Raulff in Paris fand, dem Sehnsuchtsort, den er als Student erobert. Paris wird ihm zur Stadt der Bibliotheken. Da ist natürlich die Bibliothèque nationale, aber am Sonntag, wenn alle anderen zu haben, auch die Bibliothek des Centre Pompidou. Es gab kein „Jenseits der Bibliotheken“, buchstäblich nicht, und metaphorisch erst recht nicht.
Die Bilder deS Spezials
Was für viele Menschen nur ein Brückenpfeiler ist, ein Rohr aus Stahl oder ein Riss im Beton, ist für Siegfried Hansen ein Motiv.
Hansen, geboren 1961 in der Nähe von Hamburg, gehört zu den bekanntesten Streetfotografen der Welt. Seine Arbeiten sind vielfach präsentiert in Gruppen- und Einzelausstellungen, nicht nur in Europa, auch in den Vereinigten Staaten kennt man sie.
Die Sujets findet der Fotograf auf Streifzügen durch deutsche Großstädte. Schatten, Ausschnitte, Linien, Farben – im Zentrum von Hansens Kunst stehen der urbane Kosmos und die Ästhetik des Zufalls.
Menschen, Gesichter, vorbeilaufende Passanten werden zu Statisten im Raum. Dabei bestechen Siegfried Hansens Bilder durch ihre Mischung aus Intuition und dem Vermögen, das nächste Motiv vorherzusehen.
„Il n’y pas de hors-texte“ – ein Satz von Jacques Derrida, der den Sound jener Epoche bildete. (Sinngemäß: „Es gibt kein Außerhalb-des-Textes.“) Man glaubte damals „tatsächlich noch an den Wert von Begriffen“, es ging in Diskussionen immer ums Ganze, und sie dauerten nächtelang, so weit so bekannt, aber Raulff lernte noch etwas anderes. Er lernte zu lesen. Das bedeutet nicht einfach, dass er lernte zu „verstehen“. Es bedeutete vor allem weiterzulesen, wenn man nicht verstanden hatte, „in der Hoffnung auf kommende Dämmerung“. Und genau so hat man doch gelesen, zum Beispiel Adorno, „unbegriffen und in einem Vorschuss auf Sinn“.
Auch wenn Adorno nicht zu Raulffs Säulenheiligen zählte, in dieser Emphase des Lesens hat sich eine kollektive Erfahrung ins Buch „eingeschrieben“, wie man damals gesagt hätte. Auch mit Jargon musste man lernen umzugehen.
Und die Politik? Und der Sex? Die Drogen? Sind nicht sie es, die man mit den 70ern verbindet? Immerhin sagt auch Raulff, dass Paris die Stadt des Begehrens war. Und das alles kommt in seinem Buch ja auch vor, aber eben: im Text. Zwischen den Zeilen. Man muss lesen lernen. Immerhin ist der beste Leser dann eine Leserin, eine Rita, die selbst ein gewaltiges Textbegehren entwickelt hat. „Als ich nach soundso vielen Wochen spürte, dass ich als Leser und angehender Intellektueller Rita nie gewachsen sein würde, versuchte ich das andere, das klassische Spiel und brachte eine Flasche Wein mit. Rita verstand und legte ihre Notizen zur Seite.“
Die letzte Printtankstelle
Später zieht Raulff nach Berlin, eine Stadt, die so richtig aufblüht, wenn etwas zu Ende geht. „Dahlem im Herbst war unbegreiflich schön“, schreibt er, und jeder, der an der Freien Universität studiert hat, weiß, was er meint. Ein Herbstkapitel ist das auch hinsichtlich der Theorie und ihrer Protagonisten. Jacob Taubes und Odo Marquard von der Gruppe „Poetik und Hermeneutik“ zum Beispiel. „Marquard war Skeptiker und Humorist, Taubes Spieler und Apokalyptiker. Taubes fasziniert, Marquard gefiel. Eine Zeit, die schon den lauen Wind des Beliebigen im Nacken spürte, schien beide Typen zu brauchen.“ Genauer, lakonischer kann man das Antlitz einer Zeit nicht zeichnen.
Und das Ende? „Die Siebziger begannen als ein Jahrzehnt des Textes, und sie endeten als eines der Bilder.“ Für Raulff, der sich den Bildwissenschaften zuwandte, mag das zutreffen, ob es eine kollektive Erfahrung beschreibt, würde ich bezweifeln. Aber es ist ja auch nicht das Ende vom Ende. Dafür findet Raulff abermals ein starkes Bild. Er schreibt ja einfach nur „Geschichten von der letzten Printtankstelle vor der Datenautobahn“.
Stellt sich die Frage, welchen Sprit man da tanken soll. Anders gefragt: Wenn das Lesen, wenn die Kunst des Lesens das Erbe dieser Jahre ist, was wäre davon ins digitale Zeitalter zu retten? Raulff besitzt eine unter Intellektuellen seltene Gabe: die Selbstironie. Er vergisst nicht, an das Verstiegene und Lächerliche seiner damaligen Existenz zu erinnern.
Das hat Stil. Aber was genau ist Stil? Wie erkennt ihn der Leser? Auch darüber hat man in den 70ern nachgedacht. Es hat etwas mit der Sprache als einem „individuellen Allgemeinen“ zu tun, wie der Poststrukturalismusversteher Manfred Frank sagen würde, der bei Raulff auch vorkommt. Datenmassen jedenfalls kennen keinen Stil. Und leider kennen ihn oft auch die Texte über diese Datenmassen nicht, die vorerst immer noch gern in Sachbüchern gedruckt werden. In Bücher wie Big Data, die auf der Höhe des Gedankens sind, die man nur einfach nicht lesen mag. Am allerwenigsten mit den „Augen des Ästheten“.
Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens Ulrich Raulff Klett Cotta 2014, 170 S., 17,95 €
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