Der Weltverbesserer

Inspektion Für Jean Ziegler sind Bücher Waffen. Das trifft auch auf das neueste Werk des populären Soziologen zu

Müsste ich mir den Kampf für die Gerechtigkeit vorstellen, er sähe aus wie Jean Ziegler. Er trüge eine Kassenbrille wie Jean Ziegler, er trüge graue Anzüge wie Jean Ziegler, und natürlich würde er wie Jean Ziegler sprechen. Es würde also so klingen: „Warum bist du nicht als Sohn eines Zuckerschneiders in Nordostbrasilien geboren, mit Würmern im Magen und einer Lebenserwartung von 34 Jahren? Das ist der Zufall der Geburt, und dieser Zufall schafft die Verantwortung. Du bist kein Analphabet, du hast analytische Fähigkeiten und die Expressionsfreiheit. Verstehst du? Du musst kämpfen. Der Gegner ist ja identifizierbar. Sartre, wunderbar: ‚Connaitre l’ennemi, combattre l’ennemi‘“.

L’ennemi, der Feind; ein Schlüsselwort in Zieglers Denken, aber wer ist dieser Feind? „Es ist der Konzern, und nur in zweiter Linie der korrupte Staatsmann.“

Der Mann, der solche Sätze sagt, wurde 1934 in eine kleine, graue Schweizer Stadt mit viel Militär hineingeboren. Der Vater war Amtsrichter, brachte es bis zum Artillerieoffizier, der Sohn Hans immerhin zum Hauptmann des Kadettencorps. Es hätte also auch anders kommen können. Aber Hans hat dem Zufall der Geburt ein Schnippchen geschlagen, ist von Thun nach Paris gegangen, und es war dann Simone de Beauvoir, die bestimmte, dass Hans als Name für einen Schriftsteller nicht gehe und er fortan Jean heiße.

Aufstand des Gewissens

Und noch eine Anekdote muss erzählt werden, Jean Ziegler erzählt sie oft: „Das ist das Gehirn des Monsters, da bist du geboren, da musst du kämpfen“, sagte Che Guevara zu ihm über dem Genfer See, 1964 war das. Fast fünfzig Jahre, gut zwei Dutzend Bücher und neun gegen ihn geführte Prozesse später kämpft Jean Ziegler immer noch. Mit einem neuen Buch, erschienen bei C. Bertelsmann. Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt heißt es, ein drastischer Titel.

Das ist gewollt. Für Ziegler sind Bücher Waffen, wie er sagt. Sie müssen treffen, den Feind, aber auch das Herz der Menschen, sie sollen sich empören, und dann sollen sie die Verhältnisse nicht mehr hinnehmen. Es soll, wie er das bis heute nennt, zu einem „Aufstand des Gewissens“ kommen.

Es gibt nicht mehr viele Intellektuelle, die man unverholen als Weltverbesserer bezeichnen kann, Jean Ziegler ist einer. Nicht nur Che Guevara, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre sind lange tot, begraben wurde mit ihnen ja auch der große Glaube an die Veränderbarkeit der Welt. Und der Glaube an das Buch als Waffe. Aber Jean Ziegler scheint das nicht zu bekümmern, er macht einfach weiter. „Im Zeichen unserer gemeinsamen Hoffnung auf eine Welt des Glücks, der Gerechtigkeit für alle Menschen“, schreibt er mir als Widmung in sein neues Buch, als wir uns in einem kleinen Hotel in Berlin treffen. Man kann die Konsequenz seiner Haltung bewundern oder das Pathos darin belächeln, man kann auch beides tun, und dann kommt etwas Drittes heraus, das man als heiteren Respekt bezeichnen könnte.

Griffige Slogans

Sein neues Buch handelt vom Hunger in der Welt. An seinem Anfang steht ein ungeheuerlicher Skandal: Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind, und rund 1,2 Milliarden Menschen sind laut Weltbank von extremer Armut betroffen – dabei wäre die Welt heute imstande, die ganze Menschheit zu ernähren. Dass es nicht so ist, liegt an den Nahrungsmittelkonzernen. Sie handeln nach dem eisernen Gesetz der Profitmaximierung, nicht nach einer Moral. Damit es anders wird, muss zuallererst die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel verboten werden. Natürlich steht in dem Buch noch viel mehr, aber das ist seine Munition. Es stehen zum Beispiel recht viele Diagramme drin, im Wesentlichen ist das Buch der Bericht, den Jean Ziegler als langjähriger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung ablegt.

Zweifellos ist der Bücherschreiber Ziegler auch ein charismatischer Redner. Er wirkt wie eine Mischung aus Peter Scholl-Latour und Norbert Bolz, kann sein Erfahrungswissen über Länder und Weltgegenden ebenso nonchalant einfließen lassen wie ökonomische Zusammenhänge in griffige Slogans verpacken. Muss man im Kampf für Gerechtigkeit vereinfachen?

Kritiker werfen ihm vor, dass er den Anteil von Krieg und Korruption am Hunger in der Welt unterschlägt. Neulich hatte Giovanni di Lorenzo in der Talksendung 3nach9 ein paar freundlich formulierte Einwände, die nach mehreren Anläufen Gehör fanden. Ja, es stimme, dass Afrika häufig von korrupten Tyrannen regiert werde. Aber das sei ein „Sekundärproblem“.

Kritisieren auf Mundart

Wer ist verantwortlich für die Misere: die Menschen oder die Verhältnisse? Ein ethisches Dilemma, das auch Ziegler nicht löst, aber offensiv in beide Richtungen vorantreibt. Einerseits verwendet er gerne krasse Worte wie Tyrann, Halunke, Gangster, andererseits betont er den Vorrang der Struktur. „Sartre sagte, um die Menschen zu lieben, muss man sehr stark hassen, was sie unterdrückt. Nicht: Wer sie unterdrückt. Die strukturelle Gewalt. Sonst bist du ein Taliban, ein Terrorist. Der Chef des größten Lebensmittelkonzerns der Welt kann ein Halunke sein, ein perverser Vagant, er ist es übrigens nicht, ich weiß, dass Peter Brabeck ein kultivierter, eher moralischer und ziemlich sympathischer Mensch ist, aber das ändert nichts. Wenn Brabeck nicht jedes Jahr den Shareholder Value um so und so viele Prozent heraufjagt, ist er nach drei Wochen nicht mehr CEO von Nestlé. Ich bekämpfe ihn in dieser Funktion, verstehst du?“

Ja, vielleicht verstehe ich ein wenig. Verstehe, dass man nicht Professor an den Universitäten Genf und der Sorbonne, nicht UN-Sonderbotschafter und schon gar nicht Schweizer Nationalrat sein kann, wenn man es den „Feinden“ persönlich nehmen würde. Es ist ja nicht nur der CEO des größten Lebensmittelkonzerns der Welt, es sind auch die SVP-Politiker Adolf Ogi und Christoph Blocher, mit denen Ziegler gut kann, auch wenn sie politisch das Heu nicht auf der gleichen Bühne haben, wie man in der Schweiz sagt. Die lagerübergreifende Sympathie hat damit zu tun, dass dieser Mann, den Régis Debray in höchster Wertschätzung einen „weißen Neger“ genannt hat, im Wortsinne ein Populist ist.

Er kann mit dem Volk. Alex Rühle hat das in einem SZ-Porträt anschaulich gemacht. Ziegler gerät in einer Kneipe in einen Disput mit einem Gast, sie sind sich gar nicht eins, sprechen aber die gleiche Sprache. Am „authentischsten“ ist Jean Ziegler natürlich in der Mundart. Er reizt dann auch zur Parodie. Man kann Jean Ziegler so leicht imitieren wie Reich-Ranicki. Das hier ist aber Originalton: „Ich hatte neun Prozesse, 6,6 Millionen Schulden, Gopfverdeckel, ich habe nichts, aber es ja egal, die Sieche hätten mich fast kaputt gemacht, ich habe bis heute Polizeischutz, also überall wo ich hingehe, muss ich es melden. Der Kapitalismus ist ein Dschungel, man darf es nicht verniedlichen. In der Dritten Welt bringen sie die Kritiker um, bei uns ist es etwas zivilisierter!“

In Österreich ein Star

Dass die NZZ nach seinem bankenkritischen Buch Die Schweiz wäscht weißer sage und schreibe elf Artikel publiziert hat, um ihn als „Spinner“ (Ziegler) zu denunzieren, dass ihm als Nationalrat die Immunität entzogen wurde, spricht eher noch für seine Popularität. Auch ein negativer Held ist ja einer, vor allem in einer Gesellschaft, die auf Ausgleich und Zurückhaltung beruht. Niemand – außer vielleicht Roger Köppel, der Chefredakteur der Weltwoche – bewundert insgeheim den diskreten Banker. Insgeheim wird sein „Feind“ bewundert, der diesem äußerlich sogar ähnelt. „Je radikaler deine Ansichten sind, desto kleinbürgerlicher musst du aussehen“, sagte Ziegler einmal.

Wer ihn bewundert, bewundert also sein besseres Alter Ego, bewundert seinen Mut, eine unterdrückte Wahrheit auszusprechen. Das Bankgeheimnis ist so eine Wahrheit. Es besagt, grob gesagt, dass der Bankkunde und sein Geld, woher es auch immer kommt, durch Anonymität geschützt wird. Wer Bankgesetz sagt, meint aber mehr. Er meint, dass der Reichtum der Schweiz nicht sauber ist. Die Leute spüren das, aber über Geldwäsche fängt man gerade erst an zu sprechen. Ihr schlechtes Gewissen macht sie nach außen aggressiv, aber innerlich empfänglich. Die Kompromissformel lautet: „Er übertreibt maßlos, aber es ist schon etwas dran“. Sein neues Buch steht auf Platz zwei der Schweizer Bestenliste.

Der Aufstand des Gewissens: In einer bürgerlichen Gesellschaft bedeutet das eben immer noch primär Buchkäufe und Spendentätigkeit (die er nicht verurteilt). In Österreich soll sein neues Buch Schullektüre werden, erfahre ich von der Pressefrau des Verlags, und dass er dort ein Star ist. Warum? „Es ist die einzige polarisierte Gesellschaft in Europa“, sagt Jean Ziegler.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Angele

Ressort Debatte

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hängte er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fussball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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