Dieser Mann hat den ganzen Proust gelesen

Proust II Peter Matić ist dafür verantwortlich, dass man Marcel Prousts „Recherche“ in Zukunft eher ganz hören als ganz lesen wird. Michael Angele hat den Einleser getroffen

Wie er da sitzt und freundlich lächelt, denke ich, dass er sogar ein wenig wie Ben Kingsley ausschaut (vgl. Artikel im Kasten). Denke es aber nur kurz, denn die Garderobiere am Eingang, das Interieur und die Ruhe in diesem Wiener Café scheinen einzig dazu gemacht, uns in eine im Grunde genommen längst untergegangene, zutiefst europäische Welt zu tragen. Man serviert die Melange.

Er: „Sie haben so wenig Schaum bekommen!“

Ich: „Soll ich mich beschweren?“

Er: „ Ich hab mich schon beschwert. Ich habe ein fast heißes Glas Wasser bekommen. Das falsche Wasser.“

Das falsche Wasser – so wie er es sagt, spitz und doch höflich, sind auch sie da: Madame Verdurin, die nun Madame de Guermantes heißt, oder Jupien, der ehemalige Westenmacher und jetzige Bordellbesitzer, oder die alte Odette de Crécy, kurz, die ganze Gesellschaft aus Proust Recherche, die in der Wiedergefundenen Zeit noch einmal durch den Salon geistert. Ihnen allen hat Peter Matić seine melodiöse, näselnde Stimme geliehen, während sieben Jahren, jedes Jahr ein Band, bis 146 Stunden und 20 Minuten auf Band waren.

Eine typische Star-Besetzung

Zur Vorbereitung hatte er die sieben Bände von Prousts Roman-Zyklus natürlich schon still gelesen, die meisten Passagen sogar zweimal: Eine Monsteraufgabe, denkt unweigerlich, wer das hört. So würde Peter Matić es nicht nicht ausdrücken, er spricht wohltuend nüchtern von seiner Arbeit, leugnen will er allerdings nicht, dass die Recherche das schwierigste war, was er bisher eingelesen hat. Und er hat schon einige Brocken gewälzt: Kafka, Dostojewski, zuletzt die Sonette von Shakespeare in der eigenwilligen Übertragung von Stefan George. „Schwierig war es nicht nur von der Fülle“, sagt er, „diese endlosen Sätze, ich bin da mit Buntstiften gesessen und habe eine Linie vom Subjekt zum Prädikat gezogen, da muss ich hin!“

Hatte er ein Bild von den Figuren im Kopf, während er las? Ganz sicher ist er nicht, was geschieht, während man liest, aber natürlich stellt er sich die Figuren vor. Die Vorstellungen speisen sich aus Menschen, die er gekannt hat. Peter Matić ist nun 73 Jahre alt und die Atmosphäre des Cafés Imperial verstärkt den Eindruck, dass er mehr als Einen gekannt haben muss, der den Proustschen Gestalten ähnlich war. „Einen Swann kannte ich, er ist nicht mehr am Leben, ein jüdischer Großbürger, ungeheuer gebildet und kultiviert, ganz fabelhaft, war fünfmal verheiratet, hat hier in einem sehr schönen Haus von Josef Hoffmann gewohnt.“

Kleinadel und Hochadel

Peter Matić ist in Wien geboren, im Neckartal wuchs er auf, als junger Mann kehrte er zurück in seine Geburtsstadt, wo seine Karriere als Schauspieler am Theater in der Josefstadt ihren Anfang nahm. Später folgten zweiundzwanzig Jahre Schillertheater in Berlin, seit 1994 ist er wieder in Wien beschäftigt, natürlich am Burgtheater. Swann also. „Für mich ist Swann Alain Delon“ sage ich, „wie bei Schlöndorff!“ Peter Matić korrigiert mich sanft, Jeremy Irons habe doch den Swann gespielt, Delon war der Baron de Charlus. Er weiß es, obwohl er Schlöndorffs Eine Liebe von Swann gar nicht gesehen hat.

Er will keine Proust-Filme sehen, auch keine Proust-Theaterstücke („oder wie man heute wohl eher sagt Projekte“). Nicht, dass er sie gering schätzt, aber es mache ihm das Bild kaputt. Wir sind uns einig, dass der homosexuelle, exzentrisch-zynische, bei passender Gelegenheit aber auch bodenständig-herzliche Palamède de Guermantes, genannt Baron de Charlus, mit Alain Delon komplett fehl besetzt ist. „Eine typische Starbesetzung. Sonst geht bei so einem Film kein Mensch ins Kino“.

Er hätte auch sagen können: Geht kein Mensch mehr ins Kino. Ein kulturpessimistisch-nostalgischer Ton schleicht sich in unser Gespräch, den man nicht will, oder nicht nur will, der aber unvermeidlich scheint, wenn man über Proust und die Salonwelt spricht. Dabei sind es gerade diese endlos langen Beschreibungen der Soirées bei Mme Verdurin oder Mme Guermantes, die viele Leser in die Verzweiflung oder in den Schlaf treiben. Peter Matić sieht das anders. „Besonders reizvoll finde ich, so weit ich es beurteilen kann, aus der zeitlichen und gesellschaftlichen Distanz, dass er so fabelhaft differenziert zwischen Bürgertum, Kleinadel und Hochadel.“ Seine Lieblingsfigur ist, mit einer gewissen Bosartigkeit, wie er heiter bekennt, ausgerechnet der sich in den Salons so ungeschickt und großsprecherisch bewegende, eigentlich aber liebenswerte Bloch (und es sei hier verraten, dass beim Aussprechen dieses Namens der vielleicht einzige Fehler im gesamten Hörbuch zu finden ist; Matić hat den Namen deutsch ausgesprochen, also am Ende weich statt hart, seinen Fehler aber erst bemerkt, als es im Text von einer Figur hieß, sie würde den Namen so deutsch aussprechen – zu spät!)

Animiert durch Proust

Den Adel will keiner zurückhaben, aber der Leser kann doch nicht anders, als über die Sitten und Gebräuche dieser Welt zu staunen, die von Proust freilich auch in ihrer Verlogenheit und Lächerlichkeit geschildert wird. Was bleibt? Peter Matić beklagt einen Mangel an Umgangsformen, nicht aus reaktionären Gründen, wie er betont, vielmehr weil es den Umgang der Menschen untereinander so erschwere. „Vielleicht ist man da als Österreicher noch etwas sensibler. Oft werde ich nach dem Unterschied zwischen Berlin und Wien gefragt. Ich antworte: Wenn sich in Berlin eine Auseinandersetzung entfaltet auf der Strasse, dann beschimpfen sie sich hart, gehen aber mit einem Nüscht für ungut auseinander, in Wien dagegen gehen sie als Todfeinde.“

Lange Zeit haben Matić und seine Frau in Berlin gelebt, er mag die Stadt; das Einlesen von Proust, das in den alten SFB Studios in der Masurenallee stattfand, gab ihm günstige Gelegenheit, seine Lieblingsstadt wieder öfter zu besuchen. Einen wie ihn kann man sich am besten im gediegenen, aber nicht zu vornehmen Westen vorstellen, in Dahlem also, und dort hatte er denn auch lange gewohnt.

Erinnerungen hat er aber noch viel ältere an Berlin. Als Kind übernachtete er einmal in einem Hotel, dem Exzcelsior, das vis-à-vis des Anhalter Bahnhofs lag und durch einen Tunnel mit der Bahnhofshalle verbunden war, an den Tunnel erinnert er sich. „Es ist wirklich so, dass mich Proust sehr animiert hat, zurückzudenken. Zum Beispiel an die Kriegszeit, die ich miterlebt habe. Bei Kriegsende war ich acht. Ich habe keine schlimmen Dinge erlebt, weil wir auf dem Land gelebt haben, aber doch, die deutsche Wehrmacht hatte Munitionszüge abgestellt. Es ist sehr eng im Neckartal, und es gab immer wieder Tiefflieger, die angriffen. Für mich als Kind war das wie Indianerspielen. Wenn ein Tag nichts los war, war ich enttäuscht. Zwischen der Schule und dem Wohnort gab es ein Viadukt, nach einem Alarm wurde ich nach Hause geschickt und kam gerade noch bis zum Viadukt, als die JaBos, die Jagdbomber, zu schießen anfingen, ich fand das toll, obwohl darüber ein Zug mit Munition stand Da war keine Angst. Im Nachhinein wird einem das so bewusst.“

Man sitzt an diesem dösigen Montagvormittag im stillen, vornehmen Café Imperial und lauscht praktisch einer Fortsetzung des Hörbuchs. Am Kult um Proust beteiligt er sich aber wenig. In Illiers-Combray, der Pilgerstätte aller Proustianer, war er nicht, und in Paris hat er außer dem bescheidenen Grab wenig Spuren verfolgt (das hängt aber auch mit Paris zusammen, das sich so sehr verändert hat, nicht einmal mehr die Hallen stehen ja noch). Auf die Idee, Mitglied der Prosut-Gesellschaft zu werden, ist er gar nicht erst gekommen.

Gelesen hat er Alain de Bottons Buch Wie Proust ihr Leben verändern kann. „Ein sehr großes Wort, aber es hat mich auch sensibilisiert für gewisse Dinge, die man sonst nicht beachtet, wie eben dieses Martinshorn (ein Martinshorn tönt draußen), ein sehr derbes Beispiel, aber wenn man den Regen tropfen hört, wenn die heiße Milch am Überkochen ist, man kann es gar nicht benennen, das Rufen der Verkäufer an einem Morgen in der Straße, lange nicht mehr gehört, es gibt sie vermutlich gar nicht mehr...“

Herren ohne Hüte

Auch die Lavendelfrauen, die in die Wiener Hinterhöfe kamen und das Lavendel-Lied sangen: weg. Oder wie er als er als junger Mann nach Wien kam, gaben ihm die Eltern eine Liste mit Adressen von Bekannten, wo er seine Karte abgeben sollte: weg. Ich spreche ihn auf dieses verflixte Gefühl des Verschwindens an, das so viele Proustianer zu verfolgen scheint.

„Ja, das ist ein bisschen traurig. Und wissen Sie, wenn man in meinem Alter ist, dann wird das immer mehr! Man hat ja so vieles noch erlebt, was nun nicht mehr ist. Es gibt eine Passage im ersten Band der Recherche, wo Marcel in den Bois de Boulogne geht, damit könnte das ganze Werk eigentlich schon schließen, es wäre schade, aber es wäre ein perfekter Roman gewesen, es ist eine Vorwegnahme des Schlusses der Recherche. Er geht rum und sieht, es fahren Autos rum, es ist nicht zu vergleichen mit den Equipagen, die man damals gesehen hat, und wie die Frauen angezogen sind, jämmerlich, und die Herren: Man sieht keinen grauen Zylinder mehr, ja die Herren gehen sogar ohne Hut! Hier in Wien hat man Herren, ich sage Herren, ohne Hüte eigentlich bis vor kurzem gar nicht gekannt, und Handschuhe, das sieht man eigentlich gar nicht mehr heute.“

Nun, da der letzte Band der Hörbuchfassung erschienen ist, ist er wieder sehr mit Proust beschäftigt, weil er Vorlesungen zusammenstellen muss. Er ist am Suchen von geeigneten Passagen. „Sie können ihn bestimmt auswendig“, sage ich. „Das nicht, aber ich bin einer der wenigen, die beweisen können, dass sie es wirklich ganz gelesen haben!“ lacht er. „Fast alle Menschen, die einem darauf ansprechen, sagen einem ja, ja, ich habe damit angefangen, aber ...“

Auch er hat schon früh einen ersten scheiternden Versuch mit der Recherche gemacht. Sein Onkel war zufällig befreundet mit der Übersetzerin Eva Rechel-Mertens, nach deren Übersetzung er dann später die Recherche eingelesen hat. Die Welt ist klein, man sieht überall tatsächliche Verbindungen und wittert geheime Korrespondenzen, auch das ein Proust‘sches Erbe. „Sie war schon eine sehr alte Dame, sie hat mir einen Band geschenkt, später alle, ich hätte es aber wahrscheinlich nicht gepackt, so wie ich leider auch beim berühmtesten österreichischen Roman aller Zeiten hängen geblieben bin, beim Mann ohne Eigenschaften. Und warum bin ich hängen geblieben? Weil ich es nicht eingelesen habe. Ein gewisser Zwang ist für manche Dinge ganz nützlich.“

Ich frage nach neuen Projekten (keine geplant, aber offen). Er will wissen, wie ich den Tag noch verbringe. Ich sage es, frage ihn. Er fährt nach Niederösterreich. Landesfeiertag. Er kenne den Landeshauptmann ganz gut. Wir zahlen und gehen zur Garderobiere, die ihm Mantel und Hut überreicht.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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