Was an Hans Magnus Enzensbergers neuem Buch Tumult nervt, wurde auch in einem sonst freundlichen Porträt in der Zeit klar gesagt: seine Koketterie. Nicht nur in diesem autobiografischen Buch selbst, sondern auch in den jüngsten Interviews kokettiert Enzensberger mit seinen Irrtümern, seiner Flatterhaftigkeit, seiner Bindungslosigkeit. Man kann darin einen Altersstil erkennen.
Sicher, es ist allemal angenehmer, wenn ein großer alter Mann seine Eitelkeit nicht in cäsarischen Heldengeschichten auslebt, sondern eher wie der Antiheld aus einem modernen Roman daherkommt, auch dann, wenn sich die Episoden des Scheiterns so süßlich lesen wie in seinem Buch Meine Lieblings-Flops (2010). Dort wurde unter anderem daran erinnert, dass sein Buch über die Hammerste
ass sein Buch über die Hammerstein-Familie nicht verfilmt wurde, obwohl sich die wichtigsten Produzenten der Republik um den Stoff gekümmert haben. Bekanntlich war das Buch ein Bestseller, und warum sollte Enzensberger nicht auch daran erinnern: „Es erschien sogar ausnahmsweise auf einer jener Listen, an die der Buchhandel glaubt.“ Dagegen ist die Ironie von Thomas Mann das reinste Kunsthandwerk. Es ist ja nicht so, dass nur der Buchhandel an diese Liste glaubt, auch die Leser, also die Käufer seines Buches, tun es. Aber Enzensberger holt sich lieber den Beifall des Publikums mit einer wohlfeilen Pointe über den doofen Buchhandel, als sich zu fragen, warum eigentlich das Hammerstein-Buch auf der Liste gelandet ist.Eine Antwort könnte sein: weil ein zweifellos spannendes und gut recherchiertes Buch über eine Familie aus dem Umkreis des konservativen Widerstands gegen Hitler im Zeitgeist lag. Ein General, der sich aus nicht restlos ergründbaren Motiven von den meisten Militärs im Dritten Reich unterschied und, so gut es ging, ein Mensch blieb, ist durch seine Brüche spannender als, sagen wir, eine Sophie Scholl. Enzensbergers Wort vom „inneren Kompass“, der Kurt von Hammerstein eigen war, machte die Runde. In einer postideologischen Welt ist das ein Wort, das zündet. Nun ist Enzensberger schon länger ein begnadeter Stichwortgeber: Das Fernsehen, ein Nullmedium (1988), Saddam, der neue Hitler (1991), die islamistischen Terroristen, radikale Verlierer (2006), die EU, ein sanftes Monster (2011), nur mit seiner jüngsten Einlassung, sein Handy wegzuschmeißen, hat er sich etwas verkalkuliert.Teilnehmender BeobachterGegen das Talent zur Stichwortgeberei ist nichts zu sagen, wir Journalisten versuchen uns ja selbst darin, aber ist es von einem Intellektuellen wie Enzensberger eigentlich zu viel verlangt, auch mal seine Rollen zu reflektieren? Jedenfalls würde man das von einem autobiografischen Text wie Tumult erwarten, auch wenn Enzensberger, der Meister der spielerischen Form, natürlich keine klassische Autobiografie geliefert hat. Eher wirkt der Band wie eine Parodie auf die Suhrkamp-Materialienbände und enthält unveröffentlichte Notizen von zwei Reisen, die Enzensberger 1963 und 66 in die UdSSR führten, einen knappen „Liebesroman“ und eine Begegnung mit Nikita Chruschtschow in dessen Sommerhaus im August 1963 inklusive, sowie einen Kommentar zu diesen Reisen und zur Zeit um 68. Diese Jahre des „Tumults“ werden als Zwiegespräch zwischen einem alten und einem Enzensberger von damals reflektiert, die Jahre nach 1970 in ein paar Miszellen eingefangen.Dabei spielt Enzensberger mit der Urform der Autobiografie, den Bekenntnissen, wie sie zuerst bei Augustinus, später bei Jean-Jacques Rousseau zu finden sind, aber er spielt eben nur damit. Dass Enzensberger wie Rousseau eine Frau unglücklich gemacht hat, jene hieß Marie, diese Mascha, die seine zweite Ehefrau wird, mit ihm in den Westen zieht und nicht glücklich wird, mag ein Zufall sein. Ohne so schonungslos und intim zu werden wie seine Vorgänger, will aber auch Enzensberger den Nachweis führen, nicht der gute Mensch zu sein, für den man ihn, theoretisch, halten könnte. Dass er aus Überzeugung in die UdSSR oder nach Kuba gereist sein könnte, dass auch er den Traum von einer besseren Welt geträumt haben könnte, wird erst gar nicht in Betracht gezogen. Stets war es nur „Interesse“ oder „Neugierde“, was ihn zu Fidel Castros kurzfristigem Günstling machte oder zu einem Schriftstellerkongress nach Baku trieb, nicht Überzeugung oder Begeisterung, wenngleich er sich für die kubanische Revolution schon deshalb erwärmen kann, weil sie sich in einem milderen Klima ereignete.Enzensberger begreift sich selbst als „teilnehmenden Beobachter“. Banalerweise bringt eine solche quasi-ethnologische Haltung nicht Aktion, sondern Text hervor, zum Beispiel ein heute noch lesenswertes Porträt von Chruschtschow, den er als uncharismatischen Mann beschreibt, dessen größte politische Leistung ihm selbst verschlossen bleibt: die Entzauberung der Macht. In der historischen Rückschau wird dieser kühle Blick jedoch zu einer Haltung verklärt, die auf den ersten Blick defizitär, in Wahrheit aber überlegen scheint. „Diese Rolle des teilnehmenden Beobachters könnte man auch als Defizit beschreiben“, sagt Enzensberger im Gespräch mit dem Spiegel, der nachfragt: „Defizit?“ „Von einem, der sich so verhält, könnte man sagen, dass aus ihm nie ein guter Genosse werden kann.“Kein guter Genosse zu werden ist natürlich nur in der Perspektive der Genossen eine Sünde, im Blick auf diese Genossen ist es eine Tugend. Denn ein guter Genosse zu werden, hätte zum Beispiel bedeutet, vor Chrustschow zu buckeln wie die Kulturfunktionäre. Oder feige zu sein wie Sartre, der in seinem Grußwort an den Generalsekretär „lammfromm“ blieb, „ganz im Gegensatz zu seiner Haltung in Frankreich, wo er der Macht gegenüber gerne gefahrlose Mutproben ablegt“.Kein RenegatNichts gegen den bösen Blick, der in der Sache meistens recht hat. Problematisch daran ist etwas anderes: Der Beobachter sieht in allem ein Schauspiel. Der ästhetische Blick auf die Welt neigt dazu, das Moment der Inszenierung zu verabsolutieren. Gewiss, man kann seinen Beobachterposten verlassen, läuft dann aber Gefahr, eine „Dummheit“ zu begehen, wie damals, als er bei einem „Theater“ der Kommune 1 „mitgespielt“ hat; einer albernen Trauerfeier für den ehemaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe, einen Sozialdemokraten, der ins KZ gekommen war. An dieser Stelle wurde der Mitspieler zum „Mitläufer“ (mit der Bedeutungsschwere, die das Wort aus dem Dritten Reich hat). Es ist auffällig, wie sehr Enzensberger an der Kommune das Affentheater hervorhebt. Nichts daran ist erfunden, und doch erstaunt, wie affektgeladen er wird, wenn es um Teufel und Co. geht.Enzensberger reflektiert diese Affekte nicht. Seine Bekenntnisse lassen gerade nicht das Herz sprechen, wie es Rousseau vorschwebte, sie führen nicht zum Grund der Seele, nicht zu den unverstellten Gefühlen. Warum auch? Es gibt kein authentisches Selbst, würde Enzensberger sagen, vielmehr verbirgt sich hinter der Maske nur eine weitere Maske, ein weiterer Stil, ein weiteres Bild. Die gebotene Aufrichtigkeit des Autobiografen liegt so gesehen im Gestus der Distanzierung von sich selbst, deshalb die Form des Dialogs zwischen einem jungen und einem alten Enzensberger (die sich, wie die Kritik schon bemerkt hat, nicht so sehr unterscheiden).Das stärkste Bild, das Enzensberger von sich aus jenen Tagen erzeugt, ist das eines großen Abwesenden. Die Berliner Straßenschlachten hat er immer wieder „verpasst und verschlafen“, die legendären Prügeleien am Tegeler Weg versäumt, und überhaupt reiste er ja die meiste Zeit in der Weltgeschichte herum. Dieses ständige Verschwinden und Sich-Entziehen gipfelt in den Sätzen am Schluss einer Erinnerung an eine Anti-Vietnam-Demonstration im Dezember 1966 auf dem Ku’damm: „Ich war nicht dabei. Ich war wieder einmal woanders.“Sie stehen in schärfstem Kontrast zu den Bekenntnissen des Renegaten („Ich war dabei. Ich habe daran geglaubt. Es war ein Fehler“). Die Irrtümer und Fehler, die Enzensberger so gerne zugibt, sind gerade nicht die eines geläuterten Überzeugungstäters, sie sind die eines sich immer schon selbst suspekten Individuums. Die Stärke, die in dieser Haltung zweifellos liegt, ist fast zugleich auch die Schwäche. Wer keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Überzeugungen und Hosen macht – beide können einen gut kleiden, aber man sollte sie wechseln, bevor sie anfangen zu riechen –, der kann locker zugeben, dass er sich in einer „Einschätzung“ getäuscht hat. Zu locker vielleicht. Das Luftige ist nur um Haaresbreite vom Windigen entfernt. Lange Zeit fand man diese kleine Differenz befreiend, heute wirkt sie etwas unbefriedigend.Placeholder infobox-1
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