Altes Westberlin: Es kracht zwischen Rotlicht-Gangstern und Exil-Iranern
Zeitgeschichte Im Sommer 1970 machen persische Gangs der etablierten Unterwelt Konkurrenz. Es kommt zum Showdown vor dem Restaurant „Bukarest“ in der Bleibtreustraße in Berlin-Charlottenburg
Für das Kino hinter ihm etwas zu schick: Der Berliner Polizeipräsident Klaus Hübner inspiziert den Tatort in der Bleibtreustraße am 27. Juni 1970
Foto: ullstein bild / picture alliance
Im Juni 1970 fliegt der Berliner Unterweltkönig Klaus Speer nach Mexiko, um die Spiele der westdeutschen Elf bei der Fußball-WM zu verfolgen. Der 1944 in Berlin geborene, in Heimen aufgewachsene Speer hat sich vom Lagerarbeiter und Gelegenheitsboxer zum Security-Chef des Bordellkönigs Hans Helmcke hochgekämpft. Nun firmiert er offiziell als Geschäftsführer der Bar Apollo 11 in der Potsdamer Straße. Insgeheim aber ist er der Kopf einer Bande, die etwa vierzig Etablissements dieser Art in der Stadt kontrolliert. Die liegen praktisch in der gesamten City, vorzugsweise aber am Stuttgarter Platz, an der Potsdamer Straße und in Nebenstraßen des Kurfürstendamms. Die Bande erpresst Schutzgelder, platziert ihre Männer in den Bars und verwaltet
et das illegale Glücksspiel in den Hinterzimmern.Seit einiger Zeit drängt eine Gruppe von Iranern ins Geschäft. Es heißt, sie würden vom Teppichhandel und Verkauf leichter Drogen an Studenten leben. Kopf der Bande ist ein gewisser Mohammadi oder auch Mehdi S. – genannt „Hasch-Eddy“. Aber da ist noch etwas anderes, spekuliert wird über Verstrickungen in die Politik. Als Speer und seine Leute in Mexiko sind, greifen die Iraner zu: Sie übernehmen das Inkasso der Schutzgebühren in den Etablissements, was es ihnen gleichzeitig erlaubt, in den dortigen Lokalen Prostituierte auszunehmen und Drogen an die Freier zu verkaufen. Auf Widerstand stoßen sie kaum, gelten die „Perser“ doch als ausgesprochen brutal, sodass deutsche Zuhälter das Nachsehen haben. „Sie schießen schneller“, meint einer aus dem Milieu. In diesem Fall indes trifft das nicht zu.Zurück aus Mexiko will Speer für Klarheit sorgen. Am 27. Juni 1970 ruft er Hasch-Eddy in dessen Stammlokal in der Droysenstraße an. Er solle zwei Unterhändler ins Lokal Bukarest in der Bleibtreustraße schicken, dann könne man „die Sache besprechen“. Speer selbst hat aufgerüstet und einen Trupp Zuhälter aus Frankfurt und Stuttgart kommen lassen. Um 21 Uhr gehen dreißig deutsche Männer und zwei persische Emissäre zu Tisch. Im Kino gegenüber hat der Hauptfilm begonnen; das Filmkunst 66 ist ein Treffpunkt der Studentenszene. An diesem Abend wird Easy Rider gezeigt. Eine halbe Stunde nach Vorstellungsbeginn erschreckt die Kinobesucher das Knattern von Maschinenpistolen – als liefe draußen auf der Straße ein zweiter Film. Was ist passiert? Die Perser haben – zu Recht – mit einer Falle gerechnet, die Speer ihnen stellt, und ihrerseits Verstärkung organisiert, die sich vor dem Restaurant verschanzt hat. Das wiederum ist der schwer bewaffneten Speer-Eskorte nicht entgangen. Kurz nach 21.30 Uhr eröffnet einer davon mit seiner Maschinenpistole das Feuer auf die Rivalen. Es folgt Salve auf Salve. Am Ende liegen zehn Perser vor dem Bukarest am Boden, drei von ihnen schwer verletzt, einer ist tot – der 22-jährige Ali Sharkri aus Teheran.Hasch-Eddy haben 13 Kugeln getroffen, doch er überlebt. Es gibt Blutlachen auf dem Asphalt und von Geschossen ramponierte Fahrzeuge, die Bleibtreustraße wird in „Bleistreustraße“ umgetauft, der Vergleich zu Chicago gezogen. Die Perser schwören Rache. Die Anführer der Speer-Bande tauchen ab. Im Milieu geht die Angst um, ein gefundenes Fressen für die Berliner Boulevardpresse. „Panik in der Unterwelt!“, titelt die B.Z. Angst haben nicht nur die deutschen Gangster vor einer Revanche der Perser, auch die Perser vor der „drohenden Ausweisung“, wie die B.Z. zu berichten weiß.Das Quartett Manne Brunne, Hagen Wolf, Hans-Joachim Speer und Klaus Speer ist auf der Flucht. Vierzehn Tage später haben sich drei gestellt, nur Klaus Speer bleibt in seinem Versteck, das – so wird vermutet – im Ausland liegt, sodass Interpol die Fahndung aufnimmt und die ZDF-Sendung Aktenzeichen XY ungelöst um sachdienliche Hinweise bittet. Auch die B.Z. lässt ihre Leser an der Großfahndung teilnehmen und zieht einen kühnen Vergleich: Alles sei genauso wie seinerzeit bei der Fahndung nach APO-Anwalt Horst Mahler, nach Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, die der gewaltsamen Befreiung des Kaufhaus-Brandstifters Andreas Baader beschuldigt wurden. „Auch sie konnten untertauchen, bis ihnen die Flucht in den Vorderen Orient gelang.“ Klaus Speer sei nun der „meistgesuchte Mann in Berlin“, weiß die B.Z., die sich zum Anwalt wie Sprachrohr des ortsansässigen Kleinbürgertums aufschwingt (das nicht groß unterscheidet zwischen einem demonstrierenden Studenten und einem bewaffneten Zuhälter) und verkündet: „Nun sind es nicht mehr nur ein paar hundert Möchtegern-Anarchisten, die sporadisch mit Steinen und Brandflaschen unsere Stadt in die Schlagzeilen bringen, jetzt basteln auch noch Zuhälterbanden am Ruf dieser Stadt.“ Am 4. Oktober 1970 schließlich wird Speer gefasst, der sich am Gardasee verborgen hatte und nun für 29 Monate im Bau verschwindet.Aufschlussreiche EntdeckungZwanzig Jahre später will Klaus Speer nur noch Immobilienbesitzer und Boxpromoter genannt werden, aber in der Szene gilt er weiterhin als „Pate von Berlin“. Und das nicht nur in der Szene. Wieder hat er einen Prozess am Hals. Diesmal geht es um alles: Die 19. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin will ihm nachweisen, dass er gewissermaßen zu Recht als „Pate“ gesehen wird. Auch wenn der Prozess fast zwei Jahre dauert, misslingt es, eben das nachzuweisen. Fast lächerlich muten die Delikte an, für die der Angeklagte schließlich verurteilt wird: Prozessbetrug, Zinswucherei (in einem Fall), unerlaubter Waffenbesitz, außerdem ließ er sich von einem korrupten Polizisten Daten aus dem Polizeicomputer besorgen. Von den fünf Jahren Gefängnis, zu denen er im Februar 1995 verurteilt wird, sitzt Speer keines ab, gegen eine Kaution von 150.000 DM kommt er auf freien Fuß.Rausgehauen wird Speer vor Gericht von einem alten Bekannten, als hätte es die B.Z. geahnt: Es ist Horst Mahler, der ihn verteidigt. Kennengelernt haben sich der „Pate von Berlin“ und der RAF-Anwalt im Tegeler Knast, wo Speer nach der Schießerei in der Bleibtreustraße seine 29 Monate wegen „Bildung eines bewaffneten Haufens“ absaß, Mahler eine vierzehnjährige Strafe wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung verbüßte – und wegen Bankraubs. Die magische Komplizenschaft zwischen Rotlicht und Kommune war doch mehr als nur eine Kleinbürger-Fantasie, sie entstand im Knast, dem großen Gleichmacher. Klaus Speer lebt heute schwer krank und zurückgezogen in Westberlin, auch Mahler lebt noch und ist ebenfalls gesundheitlich angeschlagen, so sehr, dass der Prozess gegen ihn wegen Volksverhetzung und Holocaustleugnung jüngst ausgesetzt wurde.Noch eine bittere Pointe kennt diese Geschichte. Während des Schahbesuchs in Westberlin Anfang Juni 1967 war es zu Demonstrationen gekommen, die einerseits von der Studentenbewegung, andererseits von Exil-Iranern ausgingen, rekrutiert vom iranischen Geheimdienst SAVAK. Diese fungierten erst als „Jubelperser“, dann als „Prügelperser“ – mit ihrem unbarmherzigen Eindreschen auf Studenten und Regimegegner vor der Deutschen Oper am frühen Abend des 2. Juni, in der für Schah Mohammad Reza Pahlavi und seine Frau Farah Diba Mozarts Zauberflöte gegeben wurde.Ins kollektive Gedächtnis hat sich jener 2. Juni als der Tag eingeprägt, an dem der Student Benno Ohnesorg erschossen wurde. In der Nähe der Oper traf ihn eine Kugel in den Kopf, abgefeuert vom Polizisten Karl-Heinz Kurras (im Prozess gegen Kurras wurde die Witwe Ohnesorgs notabene durch Horst Mahler vertreten). Der 2. Juni 1967 war der Tag, an dem der westdeutsche Terrorismus geboren wurde, doch berührte das Datum auch jene andere Geschichte der Gewalt.Als nach der Schießerei in der Bleibtreustraße im Sommer 1970 Fotos der Opfer durch die Presse gingen, erkannten iranische Oppositionelle im verletzten Bruder des erschossenen Ali Sharkri einen jener Landsleute wieder, die drei Jahre zuvor auf sie eingeprügelt hatten. Die Iraner, die nach der Macht im Westberliner Rotlichtmilieu griffen, lebten demnach nicht primär vom Teppichhandel, auch nicht primär vom Dealen mit weichen Drogen, ja, noch nicht einmal primär von der Zuhälterei. Offenbar waren das nur „Nebenbeschäftigungen“, während diese Perser hauptsächlich für den SAVAK arbeiteten. Die Gewalt, die sich seinerzeit auf Westberlins Straßen Bahn brach, hatte unterschiedliche Motivationen und Ziele, doch waren die mehr miteinander verwoben, als gemeinhin angenommen wurde.
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