Zum Tod von Frank Schirrmacher

Erinnerung Warum hat er uns alle so beschäftigt? Frank Schirrmacher – einem Freund erklärt, der nicht aus dem Feuilleton kommt

Lieber A., du fragst dich, was bei uns los ist. Warum ich mich nicht melde. Der Grund ist: Frank Schirrmacher ist gestern gestorben, hast vielleicht davon gehört. Du kennst ihn bestimmt als Buchautor. Und er war einer der Herausgeber der FAZ. (Ich mir nicht sicher, ob du die FAZ liest, hab dich noch nie damit gesehen, lesen Ökologen nicht eher die taz?) Nun: So viele Jahre lang hat mich dieser Schirrmacher beschäftigt. Und das, obwohl ich ihm nie persönlich begegnet bin. Aber er war in meinem Kopf drin. Und es gibt ein paar Mails. In einer schrieb er: „Ich beobachte Sie ganz genau!“

An diese Mail musste ich in letzter Zeit öfter denken, als Schirrmacher die Überwachung im Internet anprangerte. Aber ich greife vor. Ich fand diese Mail etwas merkwürdig. In den Nachrufen lese ich nun, dass er einen absonderlichen Humor hatte. Das war mir nicht klar. In seinen Texten war dieser Humor jedenfalls sehr gut versteckt. Manchmal entdeckt man den Humoristen in einem Autor eben erst spät. Kafka ist so ein Beispiel. Schirrmacher war ein Kafka-Fan. Er hat über ihn promoviert, ganz sauber war die Arbeit nicht. Das kann man nachlesen in einem bösen Artikel im Spiegel, den Jan Fleischhauer vor vielen Jahren mitverfasst hatte, gestern in seinem Nachruf stand davon nichts. Ich halte Fleischhauer eigentlich für einen couragierten Mann, schon seltsam.

Aber ich langweile dich wieder einmal mit Betriebsinterna, lieber A. Einmal habe ich einen sehr schönen Text von Schirrmacher in der FAZ gelesen. Er schrieb über eine uralte Frau, die den Dichter Gerhart Hauptmann noch gekannt hatte. Sie harrte als letzte Schlesierin im heute polnischen Agnetendorf aus. Sie ging bestimmt gegen die 100. Schirrmacher hatte sie getroffen. Ich wollte sie auch treffen und über sie schreiben.

Also schrieb ich Schirrmacher, ob er mir nicht helfen könne. Und er half mir, seine Sekretärin organisierte die Begegnung. Das fand ich toll. In seinem Text hatte er den Eindruck vermittelt, dass die Frau nach dem Krieg nie wieder in Deutschland war. Dass sie auf verlorenem Posten ausharrte. Es war ein Text, der ein starkes Bild erzeugte. Aber als ich die Frau nach ihrer bestimmt schon sehr verblassten Erinnerung an Deutschland fragte, antwortete sie: Wie? Was? Ich fahre doch jedes Jahr hin, mehrmals.

Schirrmacher hatte geflunkert. Und er hatte mir geholfen. In solchen Fällen hat man ein Problem und schweigt in unseren Kreisen. Wenig später erfuhr ich von einigen solcher Flunkereien. Manchmal musste ich dabei fast an Thomas Mann denken, an seinen Felix Krull, den Hochstapler. Hochstapler faszinieren mich enorm. Sind sind unglaublich fantasiebegabt, können manche Dinge besser als die Kreise, in die sie mit allen Mitteln reinwollen. Eigentlich eine anarchistische Figur. Oft aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Schirrmacher, ein Beamtensohn aus Wiesbaden.

Eine literarische Figur

Er war für mich also schon bald: eine literarische Figur. Das war spannend. Aber nicht nur für mich. Er ging zeitig in die Literatur ein. Zuerst, glaube, ich in der Erzählung 10:9 für Stroh von Eckhard Henscheid. Später haben sich Christoph Schlingensief und Rainald Goetz an ihm abgearbeitet, Goetz zuletzt in Loslabern. Dann gab es diesen geschmacklosen Krimi, in dem eine Schirrmacher ähnliche Figur umgebracht wird. Geschrieben hatte den Roman ein anderer Großfeuilletonist der Süddeutschen. Und eben erfahre ich, dass er im neuen Roman von Dietmar Dath parodiert wird. Stell dir vor, Dath war Mitarbeiter von Schirrmacher. Er war eben in so vielen Köpfen, wir haben uns alle an ihm abgearbeitet.

Und tun es sogar jetzt noch, wie du an meinen Zeilen siehst. Den kindlichen Kaiser nannte man ihn früher. Permanent wurde über ihn gesprochen, permanent wurde er parodiert. Von Leuten, die einmal mit ihm zusammengearbeitet haben. Die seine Untergegebenen waren. Ich lernte Schirrmacher persönlich nie kennen. Aber ich lernte ihn aus diesen Parodien kennen. Seltsame Welt.

In diesen Erzählungen und Auftritten war Schirrmacher der Machtmensch schlechthin. Er wurde von den anderen simpler und grobschlächtiger gemacht, als er mutmaßlich war. Exakt wie Helmut Kohl. Dem er in seiner Leibesfülle damals ähnlich sah. Den er bewunderte. Über den er schrieb. So viele Spiegelungen!

Aber eigentlich machte Schirrmacher damals Literatur. Er war der Literaturchef der FAZ. Und der Nachfolger von Marcel Reich-Ranicki als Literaturchef. Er war aber so ganz anders, als die Leute sind, die du kennst, die etwas mit Literatur zu tun haben. Als W. zum Beispiel. Schirrmacher glaubte weder, dass Literatur die Welt verbessern sollte, noch war er ein feinsinniger Ästhet. Er glaubte einfach, dass Literatur groß und tief und bedeutsam und vielleicht auch tabubrechend sein muss. Er war ein wenig der Karl Heinz Bohrer für Arme, der Vorgänger von Reich-Ranicki und ihm. Aber das ist jetzt so ein böser Spruch, den du nicht versteht und von denen es so viele gibt. Schon wieder Betriebsgelabere, verzeih mir.

Auf der Bühne

Schirrmacher hatte nach der Wende einen Literaturstreit angezettelt, in dem er Christa Wolf attackierte. Er fand Wolfs Aufarbeitung der eigenen, kurzen Stasi-Verstrickung verlogen. Er machte sich damit viele Feinde, aber er hatte ein irres Sensorium für Debatten. Die Debatte ging ab wie eine Rakete. Erst die Zeitungen, dann die Sammelbände. Und er hatte Sinn für große Gesten: 1993 wurde er zum Verteidiger von Christa Wolf. Das ist ja, was wir wollen: Debatten führen, anzetteln. Größe zeigen. Das Feuilleton als Bühne.

Es sollten viele solcher Debatten folgen. In einer dieser Debatten verteidigte er Marcel Reich-Ranicki gegen Martin Walser. Ich finde es schwierig, darüber zu schreiben, lieber A. Ich fand sehr gut, dass er vollkommen frei von Antisemitismus war, aber später fand ich die Vergötterung von Reich-Ranicki durch ihn und die FAZ schon auch etwas ranschmeißerisch.

Aber ich spüre, dass man immer noch nicht ganz versteht, warum dieser Schirrmacher so tief in unseren Köpfen war. Um es jetzt ganz einfach zu machen: Ich wäre gerne wie er gewesen. Wir alle wären gerne wie er gewesen. Meint: wir Männer. Er war ein Männer-Mann. Ein Mann, der sich in Gesellschaft anderer Männer wohl und bedeutsam fühlt. Das nennt man homosozial (was fast das Gegenteil von homosexuell ist). Das ganze Feuilleton war homosozial.

Kommen Frauen in seinem Werk überhaupt vor? Er war damals mit einer sehr interessanten Frau zusammen. Mit der Schriftstellerin Angelika Klüssendorf. Die fand ich toll. Als ich für die „Berliner Seiten“ der FAZ schreiben durfte, ich habe dir davon erzählt, gab man mir, der kleinen Nummer, die es aber schon irgendwie okay machen wird, ein Buch von der Klüssendorf. Ich solle darüber schreiben. Traute sich wohl kein anderer. Ich habe erst später erfahren, über wen ich da geschrieben habe.

Also, wir Feuilletonmänner wollten sein wie er. Allerdings eben nicht ganz genau so wie er. Wir hätten gerne diese Macht gehabt, aber ohne Machtmensch zu sein, wir hätten gerne seine Intelligenz gehabt, aber ohne das Halbseidene darin, wir wären gerne so begeisterungsfähig gewesen, aber ohne das Infantile darin, wir hätten gerne so groß gedacht, aber ohne die Rücksichtslosigkeit darin, wir hätten gerne auch so ein Sensorium für die Gefahren und Nöte der Zeit gehabt, aber ohne den apokalyptischen Furor darin. Und bitte bitte mit etwas mehr Psychologie und Humor und Selbstdistanz. Ein ironischer Pathetiker. Einer wie Thomas Bernhard.

Aber vielleicht ist das in meiner Branche nicht zu haben. Wer das könnte, wüchse über sie hinaus. Müsste nicht mehr Zeitung machen. Könnte buchstäblich auf die Bühne gehen, als die man das Feuilleton bildlich versteht.

Das Internet

Es gibt andere, naheliegender Wege, lieber A. Es kam also die Zeit, als Frank Schirrmacher Bestsellerautor wurde. Sein erstes Buch, ich muss gerade nachschauen, bei Wikipedia – irre, da wird sein Tod ja schon verzeichnet–, sein erstes Buch also hieß Minimum. Ich erinnere mich an das Leitmotiv des Buchs: Blut ist dicker als Wasser. Es ging um die Stärkung der Familie in schwierigen Zeiten. War da schon die Angst vor der Überalterung der Gesellschaft drin? Oder kam das erst im nächsten Buch? Erinnere mich gerade nicht. Denn das ist alles: die Vor-Internet-Zeit von Frank Schirrmacher.

Ich bin gleich zu Ende, lieber A., aber mir ist gerade klar geworden, dass die ganzen Nachrufe nicht hätten geschrieben werden können, wenn Schirrmacher das Internet nicht entdeckt hätte. Und wenn er daraus nicht wirklich etwas gemacht hätte. Was haben wir uns am Anfang nicht das Maul zerrissen! Der hat doch keine Ahnung. Das muss er jetzt also auch an sich reißen. Payback hieß das Ding. War er jetzt eigentlich für das Netz oder dagegen?

Aber dann muss irgendetwas passiert sein: Schirrmacher wurde zu einer absolut wichtigen Figur für Internet-Menschen. Schirrmacher, der aus einer Welt kam, in der man Helmut Kohl ähnlich sah und Ernst Jünger bewunderte, schrieb über Nerds. Und wurde irgendwie selbst zum Nerd. Und kritisierte den Kapitalismus. War er doch ein Linker? Oder noch viel besser, weil ja doch spannender: ein Konservativer, der sich linken Positionen annäherte? Jedenfalls verstummten die bösen Stimmen, in mir, in unseren Kreisen, in unseren Köpfen. Er hatte sich, und das ist entweder eine Phrase oder wirklich eine Großtat, „neu erfunden“.

Und dann doch nicht so ganz. Letzten Herbst kam er zu unserer Empfangsparty auf der Frankfurter Buchmesse. Wir hatten einen amerikanischen Internetsuperkritiker eingeladen: Evgeny Morozov. Morozov war von Schirrmacher in der FAZ groß gemacht worden. Auf unserer Party hielt er nun einen kurzen Vortrag. Ich stand fünf Meter von Frank Schirrmacher entfernt, der ungelogen während der ganzen Rede auf jemanden einredete, ich glaube, es war Sascha Lobo, so laut, dass man dem Vortragenden nicht mehr folgen konnte. Vermutlich kannte Schirrmacher den Vortrag von Morozov ja längst und dachte einfach weiter. Laut. Sehr laut. Warum ging ich nicht einfach hin und bat ihn zu schweigen? Ich ärgerte mich über die Rücksichtslosigkeit dieses Mannes, und ich ärgerte mich über meine eigene Feigheit. Und bewunderte insgeheim seine Besessenheit. Fast hätte ich ihn da zum ersten Mal in meinem Leben gesprochen.



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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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