Geburtsorte der Sozialdemokratie Trotz des Gegenwinds im Thüringer Landtagswahlkampf will die SPD von einer Rückbesinnung auf ihre Ursprünge nichts wissen
"Die heutigen politischen und sozialen Zustände sind im höchsten Grade ungerecht und daher mit der größten Energie zu bekämpfen." So stand es im Programm der "Sozialdemokratischen Arbeiterpartei", die 1869 in Eisenach als eine der beiden Vorläuferinnen der SPD gegründet wurde. Heute, 135 Jahre später, steht die Partei selbst am Pranger, weil sie mit ihrer Agenda 2010 ungerechte "soziale Zustände" schafft, und mancher Zeitgenosse fragt sich, wie es dazu kommen konnte.
Wann den heutigen Sozialdemokraten ihre Altvorderen August Bebel und Wilhelm Liebknecht abhanden kamen, lässt sich im Tivoli zu Gotha ziemlich genau datieren. Am Wochenende um den 20. März 2003 verschwanden sie aus dem sogenannten "Kaltwasserschen Saal", in dem 1875 jene "
n dem 1875 jene "Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands" entstand, die sich später SPD nannte. Als Hinterglasmalerei und auf ein A3-Format reduziert, konnten sie der Agenda-SPD des 21. Jahrhunderts eigentlich schon lange nicht mehr gefährlich werden. Dennoch waren sie plötzlich weg. Bis heute ist ungeklärt, ob sie nur auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet sind oder noch einen gewissen Sammlerwert besitzen, der zum Diebstahl animierte. Auf 6.000 Euro bezifferte die Polizei den Schaden für die deutsche Sozialdemokratie."Ich war über die Leere des Saales richtig erschrocken!" Hans-Jürgen Witt hat viel Herzblut in die Gedenkstätte der Ur-SPD investiert. Bis zum Herbst des vergangenen Jahres war er Geschäftsführer des Fördervereins, finanziert mit einer ABM-Stelle. Auch als Arbeitsloser kann er nicht von dem Haus lassen. Es ist zu spüren, dass es nicht nur den Traum von einer sinnerfüllten Festanstellung, sondern die Wurzeln seiner Überzeugungen verkörpert. Der 52-jährige gelernte Maurer und Industriemeister, der sich später auch beim DDR-Kulturbund betätigte, war schon eine Weile arbeitslos, als er 1997 der SPD beitrat. Die "Spätgetauften" sind bekanntermaßen oft die Überzeugtesten. Eigentlich wollte Hans-Jürgen Witt mich erst einmal durchs Tivoli führen, aber das Gespräch kommt sofort auf seine Partei, mit der ihn eine Art Hassliebe verbindet. Auf dem Tisch liegt die dicke Dokumentation eines jahrelangen Disputs, den er und Erfurter Gesinnungsgenossen mit der Berliner Parteispitze und dem Parteiorgan Vorwärts führten. Der Schriftwechsel umfasst eine ironische "Grußadresse an das SPD-Politbüro", aber auch sehr ernsthafte Analysen, die eher Witts Wesensart entsprechen. In auffällig beherrschtem Duktus redet er sich den Kummer von der Seele, über seine SPD, die von der Volks- zur Wirtschaftspartei mutiert sei, über innerparteiliches Mobbing, über die schlechten Erfahrungen seiner rumänischen Frau in Deutschland. Das tat er mehrfach auch ganz offen, zuletzt Ende März in Jena auf dem SPD-Landesparteitag. "Kapitalismus hat etwas mit Ausbeutung zu tun!" Wer solche Bösartigkeiten vom Rednerpult schleudert, an dem kurz zuvor noch der Kanzler stand, muss sich wohl nicht wundern, als stellvertretender Kreisvorsitzender abgewählt zu werden.Trotzdem ist Witt erbost über die Ignoranz der Bundes-SPD gegenüber dem Tivoli. Wieder präsentiert er Belege gescheiterter Bitten an die Bundesschatzmeisterin Inge Wettig-Danielmeier, sich doch ein bisschen mehr um das Geburtshaus der ältesten Partei Deutschlands zu kümmern. Immerhin - als die SPD vor vier Jahren in der Gothaer Stadthalle ihr 125-jähriges Bestehen feierte, fielen 15.000 Mark Spende des Parteivorstandes ab. Im Vorjahr gab es noch einmal 6.000 Euro. Aber das war das letzte Wort. Keine Gebäude-Trägerschaft - und für Witt nicht die erhoffte feste Stelle.Eingesprungen ist allerdings die Stadt Gotha, die 300.000 Euro in das Tivoli investiert. Wegen der derzeit laufenden Bauarbeiten erinnert außer einer Granittafel an der Straßenfront im Moment kaum noch etwas an den bedeutungsschweren Ort. Der Saal wirkt noch kahler als sonst, nachdem die Vitrinen der in DDR-Zeiten gestalteten Ausstellung der ideologiefreien frohen Zukunft gewichen und die SPD-Devotionalien, inklusive Gästebuch mit der Unterschrift Gerhard Schröders, geklaut worden sind. Ein Jugendweiheort war das Haus damals, und 1990 wieder ein Weiheort, als gemeinsam mit Willy Brandt und Egon Bahr die Thüringer SPD wiedergegründet wurde. Nach den Vorstellungen der Stadt soll aus dem Tivoli nach der Renovierung weniger ein Museum mit ein paar Restexponaten als eine Begegnungsstätte werden. Immerhin, am Nachmittag tauchen zwei 16-jährige Gymnasiasten auf, die eine Seminararbeit über das Tivoli schreiben wollen. Marcus und Holger bezeichnen sich als politisch und historisch interessiert, wissen aber über das Haus so gut wie nichts. Na ja, sozialdemokratische Inhalte seien heute schon noch vorhanden, soweit sie das "ganz grob" beurteilen könnten. Einen Satz später finden sie aber Schröders Reformen gut und notwendig, "auch wenn dem Bürger damit tiefer in die Tasche gegriffen wird". Persönlich fühlen sie sich stark genug, im gnadenlosen Wettbewerb nicht auf der Strecke zu bleiben. Merklich stiller werden sie, als Hans-Jürgen Witt von seinen Erfahrungen als Arbeitsloser und vom brachliegenden Potenzial gesellschaftlicher Arbeit erzählt. Das sei eben Kapitalismus.Nach dem Besuch im Tivoli setze ich im 30 Kilometer entfernten Eisenach meine Spurensuche fort. Das bürgerliche Villenstädtchen war schon damals nicht gerade ein Zentrum des Proletariats. Auch heute ist die SPD hier eher in der Diaspora. Arbeiterpartei, das sei sowieso vorbei, sagt der Eisenacher Kreisvorsitzende Jörg Reichenbach, der bei Bosch als Logistik-Chef arbeitet. Der Hinweis seines Kollegen, ein SPD-Mitglied müsse doch Arbeitnehmerinteressen vertreten, ist dem Kreisvorsitzenden offenbar peinlich. Jörg Reichenbach möchte sich am liebsten gar nicht auf bundespolitische Themen einlassen und setzt auf die überschaubare Kommunalpolitik. Zum Beispiel in seiner Heimatstadt Waltershausen, wo der 35-Jährige schon einmal Bürgermeister werden wollte. Über irgendwelche Wertekontinuitäten von 1875 bis heute ist von dem Pragmatiker Reichenbach nichts zu hören: "Man soll nicht alten Sachen nachhängen." Das "Hauptproblem Wählbarkeit" aber sieht auch er, wenn die SPD nicht mehr als Partei der einfachen Leute gilt. Nach aktuellen Umfragen wäre es in Thüringen schon ein großer Erfolg, wenn die SPD bei den Landtagswahlen am 13. Juni vor der PDS landen würde. "Die Partei ist auch schon zu Bebels Zeiten oft zerstritten gewesen", spricht sich Karin Richardt Mut zu. Sie ist ehrenamtliche Geschäftsführerin des August-Bebel-Vereins, der als Träger den Gründungsort von 1869 unterhält den Goldenen Löwen am Fuße der Wartburg. Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie als Mitarbeiterin der Bundestagsabgeordneten Sabine Doht, deren Büro sich in dem historischen Gebäude befindet. Weil sie diesen Job habe, könne sie sich um die Traditionspflege kümmern - die SPD-Führung zahle keinen Cent. Kooperativer ist die Stadt Eisenach: Vor fünf Jahren überließ der Stadtrat dem Bebel-Verein den Goldenen Löwen zur Erbpacht mit der Maßgabe, die über Untervermietung eingenommenen Gelder wieder in die Gebäudesanierung zu stecken. Die Lebendigkeit im Haus ist vor allem diesen Untermietern zu danken. Die Gewerkschaft ver.di und der Mieterbund mögen ja noch als Verwandte gelten, aber bei den WeightWatchers, den professionellen Gewichtabnehmern, lässt sich ein Schmunzeln nicht vermeiden. Denn über dem Haupteingang steht in goldenen Lettern: "Nationale Gedenkstätte". Eisenach, Gotha - die Legenden scheinen auf ein paar Ausstellungsstücke geschrumpft. In den Erfurter Kaisersälen, wo 1891 mit dem gleichnamigen Programm auch der bis heute gültige Parteiname beschlossen wurde, erinnert nicht einmal mehr eine Gedenktafel an das Ereignis. Der Denkmalschutz erlaube es nicht, sagt eine langjährige Mitarbeiterin des mit Millionenaufwand restaurierten Kultur- und Veranstaltungszentrums. Über den Verbleib der früheren Ausstellung im Stadtmuseum weiß sie nichts Genaues. "Erinnerung lebt nur noch in unseren Köpfen", sagt sie schließlich resigniert.
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