Eine Wendeltreppe führt unter die Erde. Mit jeder Stufe abwärts wird das Licht diffuser, die Luft kälter. Unten angekommen schnauft Volker Kohlschmidt erst einmal durch. Sein Atem steigt auf wie weißer Rauch von einer Feuerstelle. Vor ihm erstreckt sich ein runder Raum aus rohem Mauerwerk, und ganz oben, am höchsten Punkt der Decke prangt ein Hakenkreuz. Kohlschmidt folgt mit seinen Augen dem Verlauf des Gewölbes. Er befindet sich im Nordturm der Wewelsburg, eine Festung etwa 20 Kilometer südlich von Paderborn. Als „Gruft“ bezeichnet die Museumsleitung der Burg diesen Raum. Er stammt aus der Nazi-Zeit, entworfen nach dem Vorbild mykenischer Kuppelgräber. „Es hatte etwas Erhabenes“, erinnert sich Kohlschmidt an seinen Eindruck, als er das erste Mal inmitten dieser Weihestätte für tote SS-Führer stand.
Sein Eindruck erschreckte ihn. Er ahnte, dass dieses Gefühl etwas bedeutete, dass möglicherweise nicht nur er es fühlte, wenn er in der „Gruft“ stand und dass er dieses Gefühl deshalb nicht einfach ignorieren durfte. Volker Kohlschmidt beschloss, etwas zu tun.
Die Wewelsburg, Anfang des 17. Jahrhunderts erbaut, wurde von Heinrich Himmler für den symbolischen Preis von einer Reichsmark gepachtet. Hinter ihren Mauern wollte der „Reichsführer SS“ ein ideologisches Machtzentrum für seine Truppe aufbauen, die Leibgarde Adolf Hitlers und die bewaffnete Abteilung der Nazi-Partei. Hier, im Kernland des Cherusker-Fürsten Hermann, wo einer alten Sage nach eines Tages ein „Herr des Westens“ in einer Schicksalsschlacht über einen „Herrn des Ostens“ siegen werde. Himmler soll sich dieser Geschichte erinnert haben, als seine Wahl auf die Wewelsburg fiel. Sein erster Besuch ist aus dem Jahr 1933 überliefert. Damals war er im Gefolge Hitlers bei dessen Wahlkampf in Westfalen unterwegs gewesen.
Es war im August 1934, als die „Schutz-Staffel“ in der Wewelsburg Einzug hielt. Im Schatten der Festung pferchte sie fast 4.000 Zwangsarbeiter in ein Konzentrationslager, mehr als das Dorf Wewelsburg Einwohner hat. Die Insassen mussten die Burg nach den ästhetischen Vorstellungen der Nazis umbauen, zwischen 1934 und 1945 kamen dabei 1.200 Menschen ums Leben. Orte, die heute noch an das Leiden und Sterben erinnern könnten, sind nach dem Zweiten Weltkrieg weiß angestrichen und umfunktioniert worden. Aus dem Torhaus des Lagers hat die Gemeinde ein Mietshaus gemacht, aus der Lagerküche Sozialwohnungen. Das sind die Gebäude, die die Jahre überdauert haben. Der Rest des KZs wurde abgerissen. Was blieb, war eine Burg mit Nazi-Ornamenten – und Räumen von beklemmender Erhabenheit.
Zierdolche und Liederbücher
Durch sie führt der Jugendarbeiter Volker Kohlschmidt in seiner Freizeit inzwischen Besucher. Er will die Erinnerung wach halten, damit manche spontanen Eindrücke beim Anblick der Burg, ihrer Räume und ihrer Ausstellungen nicht einfach so den Gefühlshaushalt der Besucher besetzen. „Es gibt immer noch Leute, die wissen nicht, was hier passiert ist“, sagt der 49 Jahre alte Mann, der mittlerweile zum Vorstand des Vereins gehört, der die Gedenkkultur im Dorf pflegt. Vor zehn Jahren hat dieser Verein gegen Widerstände ein unscheinbares Mahnmal auf dem einstigen Appellplatz des Konzentrationslagers platzieren dürfen. „Das Unscheinbare war ein Kompromiss“, sagt Kohlschmidt. Im Winter kommt es vor, dass Schnee die Gedenksteine wie ein Leichentuch überdeckt. Kohlschmidt sagt: „Einige Wewelsburger wollen keinen Gedenkstätten-Tourismus in ihrem Ort.“
Zurück an der Oberfläche sieht Kohlschmidt: Die Gedenkstätte ist verwaist, der Parkplatz vor dem Burggelände dafür aber rappelvoll. Der Ansturm hat einen Grund. Seit einigen Monaten beherbergt die Wewelsburg eine Dauerausstellung mit dem Titel „Ideologie und Terror der SS“. Mehr als sechs Millionen Euro stecken in dem Projekt, vier Millionen davon für Um- und Ausbauten. Sieben Jahre lang haben 25 Wissenschaftler daran gearbeitet. Die Schau zeigt 1.000 Exponate, viele davon sind originale SS-Gegenstände: Helme, Zierdolche, Gürtelschnallen, das SS-Liederbuch. Was nicht schon auf der Wewelsburg vorhanden war, haben die Ausstellungsmacher in Auktionshäusern gekauft, etwa den Dienstkalender von Heinrich Himmler.
Kohlschmidt ist auf die steinerne Brücke vor dem Haupttor gegangen und wartet. Im Torbogen tauchen zwei ihm vertraute Gesichter auf. „Ich bin gespannt, wie viele zur Führung kommen“, sagt er. „Das wird schon“, erwidern die beiden Bekannten und klopfen Kohlschmidt auf die Schulter. Doch der bleibt missmutig. Nicht irgendeine Führung steht auf dem Programm, sondern eine speziell für die Bürger des Dorfs Wewelsburg. Sonne und Regen wechseln sich an diesem Tag ab. „Heute ist Bürener Wandertag und der TuS hat Spitzenspiel“, sagt Kohlschmidt, als es gerade wieder anfängt zu tropfen.
Tatsächlich: Die Wewelsburger kann Kohlschmidt an zwei Händen abzählen. Dabei ist sogar die stellvertretende Museumsleiterin, Kirsten John-Stucke, gekommen, für den Fall, dass man die Besucher in zwei Gruppen aufteilen muss. Das ist aber nicht nötig. Jetzt führt die Historikerin die wenigen Wewelsburger fast im Alleingang durch die ehemaligen Räume der SS-Burgmannschaft. Kohlschmidt folgt mit verschränkten Armen.
Wo früher Casino, Fecht- und Turnräume waren, behüten heute Glasvitrinen und Schubladen historische Dokumente und Devotionalien. Handwerkliche Meisterstücke sind darunter, etwa ein Schäferhund aus strahlend weißem Porzellan. „Das Objekt als solches ist nicht gefährlich. Was dahinter steht, kreiden wir an“, sagt John-Stucke. Das Abbild des Tiers wurde in der Manufaktur Allach hergestellt, einem SS-eigenen Betrieb in München, der 1940 seine komplette Produktion ins Konzentrationslager Dachau verlagert hatte.
Extremer Zoom
Seine schmutzige Geschichte sieht man dem glänzenden Porzellan-Hund nicht an. Er ist deshalb auch ein Sinnbild für die Herausforderung, vor der die Ausstellungsmacher in der Wewelsburg insgesamt stehen: Wie lässt sich SS-Kitsch zeigen, ohne dass er zweifelhafte Wirkung entfaltet und die Burg noch häufiger zum Wallfahrtsort für Neonazis macht? Die eine Antwort auf diese Frage sind Museumspädagogen, die mit den Besuchern ins Gespräch kommen sollen über die Eindrücke, die Gebäude und Ausstellungsstücke bei ihnen hinterlassen. Die andere Antwort der Macher lautet: Information. Die Ausstellung gleicht einem riesigen Archiv. Wer will, kann in den Schubladen und Dokumentenmappen neben den Gegenständen tief in die dunkle Materie eintauchen. Gezwungen werden kann dazu freilich niemand. Und Fotografieren ist ebenfalls erlaubt. Wer mit seiner Digitalkamera nur nah genug an die Objekte heranzoomt, kann sie aus dem dargestellten Zusammenhang reißen und als Souvenir unter Freunden und Gesinnungsgenossen herumzeigen.
Der Bauchnabel der Nazi-Welt
Noch bevor US-amerikanische Soldaten 1945 im Ort einrückten, hatte die SS Teile der Burg gesprengt und abgefackelt. Der Nordturm blieb wie das Wachgebäude weitgehend verschont. Ausgerechnet der Nordturm, der neben der „Gruft“ noch den geheimnisumwitterten „Obergruppenführersaal“ versteckt. Er sollte als Versammlungsort für die SS-Elite dienen. In seinem Marmorboden sind zwölf germanische Sig-Runen eingelassen, die von einem Kreis umschlossen werden. „Schwarze Sonne“ hat der Volksmund dieses Ornament getauft. Wer will, kann darin ein zwölfarmiges Hakenkreuz erkennen. Es ist von einem Dutzend Säulen umstellt.
Um den Ort zu entmystifizieren, haben die Ausstellungsmacher orangefarbene Sitzsäcke auf dem Boden verteilt. Die Architektur des Saals verfehlt ihre Wirkung auf die Besucher dennoch nicht. Die Gruppe ist gerade so groß, dass sie sich zwischen den Säcken im Halbkreis zwischen Ornament und Säulen aufstellen kann. Niemand weicht von der Seite des anderen, niemand setzt sich. Alle starren nach unten. Kohlschmidt hält weiter die Arme verschränkt. In seinem Gesicht zeichnet sich kaum eine Regung ab. Er will möglichst wenig Aufhebens um „Gruft“ und „Obergruppenführersaal“ machen. So tun, als sei da nichts Besonderes, ist seine Strategie. Er sagt nur dann etwas, wenn es nötig wird.
Lieber lässt er die Expertin John-Stucke sprechen: „Hier sollte einmal der Mittelpunkt der Welt sein“, sagt die mit ironischem Unterton, „das zeigt schon den Größenwahn der SS.“ Die Besucher interessieren sich allerdings eher für andere Fragen: „Hat die Zahl zwölf eine Bedeutung? Es sind ja auch zwölf Fenster“, sagt eine Besucherin. Hängt das mit den zwölf Rittern der Tafelrunde zusammen? Liegt hier der Heilige Gral vergraben? Gab es an dieser Stelle eine germanische Kultstätte?
John-Stucke hat schon viele Legenden gehört, die sich um die Wewelsburg ranken. „Nichts davon lässt sich wissenschaftlich belegen“, sagt sie. Kohlschmidt lässt das so stehen. Dokumentiert ist lediglich eine Zusammenkunft hochrangiger SS-Männer im Juni 1941: Eine Woche vor dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion hatten sich Himmler und einige SS-Offiziere auf der Wewelsburg getroffen, „um die Dezimieriung der slawischen Bevölkerung um 30 Millionen zu planen“, sagt John-Stucke.
Lange haben die Ausstellungsmacher überlegt, ob sie „Gruft“ und „Obergruppenführersaal“ der Öffentlichkeit überhaupt zugänglich machen sollen. Wegen beider Räume gilt die Wewelsburg als Anzugspunkt für Esoteriker, Satanisten und Neonazis. Zuvor war es angeblich nur in Begleitung von Museumspersonal möglich, in den Nordturm zu gelangen. „Man hat gedacht, dass man auf diese Besucher pädagogisch Einfluss nehmen könnte“, sagt Kohlschmidt.
Doch die Museumsleitung konnte nicht verhindern, dass Rechtsradikale hier ihre Gesinnung zur Schau stellten. Kohlschmidt berichtet von Jugendlichen, die auf der Burg recht e Musik hörten und Reichskriegsflaggen schwenkten. Die Museumsleitung hat mittlerweile reagiert und die Hausordnung verschärft. Das Tragen rechtsextremer Kennzeichen ist verboten, heißt es darin. An allen Ecken und Enden sind Videokameras positioniert. Die Mitarbeiter haben einen geschulten Blick. Dass Besucher mit Scheuklappen kommen und sich beim Anblick von Totenkopf-Abzeichen innerlich berauschen, kann allerdings auch eine noch so ausgefeilte Überwachungstechnik nicht verhindern.
Ein Themenkomplex der Ausstellung beschäftigt sich allein mit dem hiesigen Konzentrationslager. Dort stehen der Täterperspektive die Erfahrungen der Häftlinge gegenüber. Über Kopfhörer dringen ihre Stimmen ins Bewusstsein. Sie berichten vom Leiden und Sterben unterhalb der Wewelsburg. Anders noch als bei Kohlschmidts ersten Besuch in der „Gruft“, hängt dort nun ein Bilderzyklus zum Gedenken an die Opfer der SS-Gewalt. Und auch im Obergruppenführersaal wartet neben den orangefarbenen Sitzsäcken für einige Besucher eine Überraschung: Wer das Bodenornament genau betrachtet, dem kann dank der hellen Ausleuchtung schließlich auffallen: Die „Schwarze Sonne“ ist gar nicht schwarz. Sie ist grün.
Michael Billig ist Journalist und Kommunikationswissenschaftler. Zusammen mit zwei Mitstreitern gibt er das Onlinemagazin iley.de heraus
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