Die Schuld der Worte und die Reinheit des Schweigens

WEITE UMLAUFBAHNEN Gert Neumanns literarische Wallfahrt zum Kloster Chorin in »Anschlag«

Mit der uralten Einsicht, daß »Worte lügen« (Schnitzler), will sich heute kaum ein Schriftsteller mehr aufhalten. Sprach- und Ausdrucksnot gelten unter literarischen Zeitgenossen als ausgerottete Krankheiten, »unsäglich« (Rilke) ist heute nichts mehr.

Hugo von Hofmannsthals armer Lord Chandos, dem noch die Worte »wie modrige Pilze« im Mund zerfielen, wird, wenn man ihn überhaupt noch zur Kenntnis nimmt, als Hypochonder geschmäht. Celan und Beckett, die Exponenten einer Poetik des Schweigens, hat man in die Archive abgeschoben. Die literarische Moderne präsentiert sich am Jahrhundertende nicht mehr - wie noch der Kulturphilosoph George Steiner definierte - als eine »schweigewütige« Epoche, sondern als eine Ära der literarischen Entgrenzung und Enthemmung, in der jedwede Sprachskepsis überrannt wird.

Eine ungeheure Redseligkeit und Munterkeit ist in den letzten drei Jahrzehnten über uns hereingebrochen, es wird wieder munter drauflos erzählt in Richtung »neue deutsche Lesbarkeit« (Matthias Politycki), und selbst Protokolle pubertierender Knaben werden in branchenüblicher Blindheit als literarisches Ereignis mißverstanden.

In dieser Gemengelage literarischer Naivitäten ist der Schriftsteller Gert Neumann die absolute Ausnahmeerscheinung, fast eine Lichtgestalt in seiner Verweigerung von literarischer Geläufigkeit. Er ist wohl der einzige deutsche Prosaautor, der noch mit großem Ernst und inniger Emphase an einer Poetik des Schweigens arbeitet. Seine Prosasprache hat nichts vom Mitteilungsdrang und der Erzähldynamik deutscher Durchschnitts epik - sie verstört durch ihre Komplexität, durch ihre verschlungene Syntax und den fast schon quälenden Zweifel an der Möglichkeit des Sprechens. Neumanns Sätze suchen nicht den direkten semantischen Zugriff auf die Gegenstände der Welt, sondern umkreisen sie in weiten Umlaufbahnen, in unendlicher Annäherung. Eine Handlung im herkömmlichen Sinn gibt es in seinen Bücher nicht; hier vollziehen sich nur Sprachhandlungen, eingewoben in seltsam mäandrierende Sätze, die oftmals in Endlosschleifen um sich selber kreisen. Man verliert in diesen Sätzen immer wieder den grammatischen Weg, man überspringt, sucht, vergißt, blättert zurück, verliert sich im Offenen und Unbestimmten. Dabei laufen diese Sätze auf einen utopischen Fluchtpunkt zu: das »Gespräch«. Hier liegt der paradoxe Kern dieser Prosa: Zwar wird das »Gespräch« als Erfüllung des Sprechens immer wieder emphatisch aufgerufen, zwar werden Möglichkeiten des Gesprächs imaginiert, im gleichen Atemzug jedoch auch das Scheitern des Gesprächs in der kommunikativen Praxis inszeniert.

Seit seinem ersten Buch Die Schuld der Worte (1979) ist Neumann ein kompromißloser Verfechter der literarischen Askese, konsequent und obsessiv in seiner Kritik am konventionalisierten Sprechen, radikal auch in seinem Beharren auf Wahrheit. 1942 in Heilsberg/Ostpreußen geboren, hat Neumann in der DDR zwei Jahrzehnte lang das Dasein eines Verfemten fristen müssen, dem die Staatsmacht mit den übelsten Intrigen und Repressionen zusetzte. Der gelernte Traktorist und Hilfsschlosser traf schon früh seine Lebensentscheidung für die Literatur, wurde auch am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig aufgenommen, dort aber schon 1969 exmatrikuliert und aus der SED ausgeschlossen. In der DDR, in der er bis zum Ende ausharrte, durfte Neumann keine Zeile auf offiziellem Wege veröffentlichen; er war angewiesen auf die unabhängigen, in Kleinstauflage zirkulierenden Zeitschriften der subliterarischen Szene, in denen sich die literarische Gegenöffentlichkeit der DDR formierte. Eines dieser Periodika, die Zeitschrift »Anschlag«, hat Neumann als Redakteur betreut und dadurch das Mißtrauen und den Haß der ihn observierenden Organe noch gesteigert. In einer der wenigen narrativen Partien des Prosabuches Die Klandestinität der Kesselreiniger (1989) berichtet Neumann von der zynischen Willkürjustiz und polizeistaatlichen Realität der DDR, die ihn und seine Familie damals in aller Härte traf. Sein Sohn erfuhr 1983 die real existierende Brutalität der Staatsmacht am eigenen Leib, als er von zivilen Ordnungskräften zusammengeschlagen und hinterher dann wegen Beleidigung der Staatsorgane inhaftiert wurde.

In seinem neuen Buch Anschlag, das er nach zehnjähriger Schreibpause publiziert hat, umkreist Neumann noch einmal die Geschichte der plötzlichen Inhaftierung des Sohnes. Man muß hier von Umkreisungen sprechen, denn Neumann meidet jede direkte Fixierung, entfaltet seine Monologe und Dialoge aus verschiedenen Erzähl- und Reflexions-Perspektiven, um jeder vorschnellen Erklärung zu entkommen.

Ausgangspunkt des neuen Buches ist eine Art Wallfahrt des Erzählers zu dem nördlich von Berlin gelegenen Kloster Chorin, einem Ort der Stille und Meditation, der umgeben ist von einem Landschaftsgarten mit einer eigenartig labyrinthischen Architektur, die viele überraschende Aussichten und wechselnde Perspektiven erlaubt. Begleitet wird der Erzähler auf seiner Wallfahrt, die er selbst eine »Genesungsreise« nennt, von einem namenlosen westdeutschen Begleiter, mit dem er sich alsbald in ein hochkonzentriertes Gespräch über das Lebensgefühl und die Erfahrungsdifferenzen in Ost- und Westdeutschland nach dem Fall der Mauer vertieft. Dieses Ost-West-Gespräch weitet sich schließlich aus zu einem programmatischen Diskurs über Möglichkeiten und Grenzen eines politischen oder ästhetischen Widerstands gegen die Diktatur - wobei sich Neumann, wie zuvor schon im »Klandestinitäts«-Buch, von konventionellen literarischen Widerstandsformen gegen die Staatsmacht distanziert. Es hat mit der Sprachempfindlichkeit des Erzählers zu tun, daß sich dieses emphatisch verstandene »Gespräch« zwischen einem ostdeutschen Schriftsteller und seiner westdeutschen Zufallsbekanntschaft zunächst als ein Schweigen realisiert, das sich über zweihundert Seiten des Textes ausdehnt. Dieses Schweigen begreift der Erzähler aber nicht als Kommunikationsstörung, sondern als heilsame Meditation und inspirierendes Movens im Versuch der Verständigung. Zu Neumanns Verständnis von »Gespräch« gehört notwendig die Erfahrung, »im Gespräch stumm in einer gemeinsamen Sache zu lesen«. Da man es in der Sprachpraxis in Ost und West nur mit »Erkenntnismüden« oder einem gewissen »Schwerhörigkeitswahn« zu tun habe, gehe es darum, »für die Reinheit des Schweigens zu sorgen«, weil Offenbarungen und letztgültige »Erklärungen« die deutsch-deutschen Verhältnisse notwendig verfehlten.

Das Erzählkonzept von Anschlag, das Neumann auf Texte von Kafka und Kleist zu fundieren scheint, stammt in Wahrheit aus der Tradition der Sprachmystik. Aus den Schriften von Jakob Böhme, Johann Georg Hamann und Martin Buber hat Neumann eine Poetik destilliert, für die er schon Anfang der achtziger Jahre die geheimnisvoll-schöne Vokabel »Klandestinität« fand. »Klandestinität«, dieser Begriff stammt aus der terminologischen Schule des französischen Nietzscheaners Gilles Deleuze und meint ein literarisches Sprechen, das die Gewaltsamkeit des Definierens und Dekretierens unterläuft. »Klandestinität«, das ist bei Neumann ein Synoym für ein Schreiben, das sich durch Paradoxien und Selbstwidersprüche vorwärtsbewegt, jede Fixierung und Determination unterläuft - dabei aber Repetitionen und Redundanzen in Kauf nimmt. Wo sich das literarische Erzählen als »mundgerecht« behauptet, als unmittelbarer Transport von Botschaft, Bedeutung, Idee, beginnt für Neumann der Verrat, die Lüge und »die Schuld der Worte«.

Die Reflexion auf die Fallen und Abgründe der »herrschenden Diskursmacht« gelang Neumann in seinem 1981 im Westen publizierten Selbstverständigungsbuch Elf Uhr noch ohne erzählerische Wirklichkeitsverluste: Die Wortmächtigkeit des Erzählers, der in tagebuchartigen Notizen die DDR-Realität beschrieb, stand der Welthaltigkeit des Textes noch nicht im Wege. In Anschlag bleibt vom angestrebten »Gespräch« und dem »Versuch des Sprechens« oft nur mehr die Virtuosität der Formulierungsanstrengung und die schiere Demonstration wuchernder Satzperioden übrig. Das Erzählen, das sich als fortgesetzte Abstinenz von Benennung und Behauptung versteht, ist hier mitunter nur um den Preis von Anschaulichkeitsverlust zu haben. Erst auf den letzten fünfzig Seiten löst sich Neumann von seiner mönchischen Schweigewütigkeit und läßt seine Helden unverhüllt von poetischer Selbstbehauptung im alten und neuen Deutschland sprechen.

Ausgerechnet das abseitige, enigmatische Werk von Gert Neumann, diesen erratischen Block in der redewütigen Gegenwartsliteratur, hat man nun dazu auserkoren, den Part des »ersten großen Ost-West-Romans« zu übernehmen. Eine Buchpräsentation in der Berliner Akademie der Künste Anfang März funktionierte der DuMont Verlag um zum Heldenepos vom großen, einsam-verlorenen Schriftsteller der alten DDR, dem nun ein strahlendes »Comeback« bevorsteht. Martin Walsers Rühmung von Elf Uhr als dem »unentdecktesten Buch der deutschen Gegenwartsliteratur« paßte da wunderbar in diese Inszenierung einer stets innovationsbedürftigen Event-Kultur. Als vor zehn Jahren Neumanns Klandestinität der Kesselreiniger erschien, dieser rätselhafte Monolog eines Sprachmystikers, mochte kaum ein Kritiker dieses »Rotwelsch« (Neumann) mehr lesen. Jetzt hat man blitzschnell die »mundgerechten« Formeln zur Wiederentdeckung des Autors parat. Wer sich mühevoll einen Weg durch die Sprachexerzitien in »Anschlag« gebahnt hat, den befallen Zweifel, ob sich diese neue wundersame Neumann-Verehrung wirklich auf Textkenntnisse stützt.

Gert Neumann: Anschlag. Dumont Verlag, Köln 1999. 272 Seiten, DM 39,80.
Gert Neumann: Elf Uhr. Roman. Mit einem Vorwort von Martin Walser. Dumont Verlag, Köln 1999. 432 Seiten, DM 39,80.

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