Gebet in Ruinen

Textgalerie I Das schöne Rätsel dieses Gedichts beginnt schon im ersten Vers, mit einem Wunschbild des Dichters. An wen ist es adressiert? Ist es eine Bitte, die ...

Das schöne Rätsel dieses Gedichts beginnt schon im ersten Vers, mit einem Wunschbild des Dichters. An wen ist es adressiert? Ist es eine Bitte, die hier vorgetragen wird, oder schon ein Gebet? Wer könnte für die Erfüllung des Wunsches nach den Essentialien des Dichterischen, nach »Stimme und Gedichte«, zuständig sein? Die Musen, die einst als göttlicher Hauch verstandene »Inspiration« oder gar eine veritable transzendente Instanz? Das Dichterische wird jedenfalls mit den illuminierenden Energien eines Steins gleichgesetzt. Der Orangenkalzit ist ein Stein von farbintensiver Transparenz, dem man in der esoterischen Heilkunde außerordentliche Wirkungen auf das innere Gleichgewicht und die Stabilisierung des Ich zuschreibt. Von der magischen Luzidität dieses Steins zeigt sich auch das Ich des Gedichts berührt, dem in Mexiko das »helle Glück« eines Kalzit-Funds widerfährt. Mexiko ist hier nicht nur das Land, das aufgrund seiner geologischen Gegebenheiten einen Stein-Fund ermöglicht, sondern steht auch als Chiffre für eine poetische Utopie. Im Verlauf der Begegnung mit dem Stein, die weit mehr ist als eine flüchtige touristische Impression, stößt das Gedicht-Ich offenbar auf jenen »Schlüssel der Wunderschrift« des Daseins, von dem einst der Romantiker Friedrich von Hardenberg alias Novalis seine Lehrlinge zu Sais träumen ließ.

Mexico ist im Kontext des Gedichts nicht nur irgendein beliebig wirkendes Sehnsuchtsland, sondern ein Zauberwort, das »den Schleier« von den Erscheinungen zu heben vermag. Schon Novalis lässt in seiner Erzählung Die Lehrlinge zu Sais den weisen Lehrer einen Jüngling aussenden, der dann mit »einem unscheinbaren Steinchen von seltsamer Gestalt« zurückkehrt. Ralf Rothmanns lyrisches Ich hat den Orangenkalzit gefunden - und »ein Wort in einer anderen Sprache«, das allein durch seine Existenz, selbst wenn es »verschwiegen« wird, den »Schleier hebt« und das Ich in eine neue Sphäre führt. Der genaue Fundort von Stein oder Wort verweist auf jene transzendente Sphäre, die schon in der Anrufung der ersten beiden Zeilen präsent ist: »Ich fands im Schatten einer Kathedrale, die längst / abgerissen war.« Die Aura des Sakralen, mag sie in ihrer mächtigen Materialisation als Kathedrale dem Prozess der Säkularisierung längst zum Opfer gefallen sein, wird hier noch einmal zum Leuchten gebracht. Das Ich des Gedichts spricht jenes Gebet in Ruinen, das Ralf Rothmann zum provokativen Titel seines jüngsten Gedichtbandes gemacht hat.

Die religiöse Grundierung nicht nur dieses Gedichts, sondern seines gesamten lyrischen Werks, ist den meisten Rezensenten Ralf Rothmanns entgangen. Nur der Rothmann-Laudator Tilman Krause hat eindringlich auf das christologische Affiziertsein dieses Autors aufmerksam gemacht, den die meisten Leser nur als Verfasser abenteuerlicher Bildungsromane und Adoleszenzgeschichten rund um das Ruhrgebiet kennen. »Inbrünstig katholisch« sei er aufgewachsen, hat Rothmann in einem Interview bekannt. Diese katholische Prägung, auf die möglicherweise der Sturz ins Agnostizistische gefolgt ist, teilt sich seinen Gedichten mit - als metaphysische Aufladung der Liebe und als Sehnsucht nach einer Transzendenz, die sich gegen alle Ironisierungen, profane Lässigkeiten und sarkastische Brechungen behauptet: Vergib mir. Ich wußte nicht, wie einfach alles ist./ Ich wußte nicht, daß Gott uns meint und wir/ ihn erhören, wenn wir uns lieben, die Schrift/ erfüllen und Zeichen setzen mit unseren Körpern.

Jetzt schnell sein!

der Freitag digital im Probeabo - für kurze Zeit nur € 2 für 2 Monate!

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden