Seit Sonnenaufgang bin ich - Vulcan

Wortschmiede Nach dem Tod des Dichters Thomas Kling: Wer erprobt jetzt die herzstärkenden Mittel?

Bereits nach seinem ersten Auftritt in den Wiener Margaretensälen im Januar 1983 ahnte Friederike Mayröcker, dass ihr "der Magier einer ins nächste Jahrtausend weisenden Sprachverwirklichung" begegnet war. Mit dem jungen Thomas Kling hatte ein Dichter die Bühne betreten, der so gar nichts gemein hatte mit den nuschelnden Alltagsrealisten, die in diesen Jahren die Poesie beherrschten. Plötzlich war ein Autor aus dem Nichts aufgetaucht, der Sprache wieder ihren Körper, ihre sinnliche Materialität zurückgab. Thomas Kling, der am 1. April im Alter von 47 Jahren an Krebs gestorben ist, war ein Sprachekstatiker. Seine Passion: die "Sprachkörperbetrachtung", das kunstvolle und traditionsbewusste Zerlegen und Neukomponieren von Sprachstoffen. In der Ethnologie bezeichnet man solche zaubrischen Sprachforscher als "Memorizer": Sie sind, wie es Kling selbst in seinem großartigen Essay Itinerar (1997) beschrieben hat, "die Gedächtnisverantwortlichen unter den Clanmitgliedern".

Im Dichterclan der nunmehr mittleren Generation war und ist Thomas Kling der Verantwortliche für das Sprachgedächtnis. Nach seiner Wiener Premiere begann er mit wachsendem Erfolg, Sprach-Räume mit seiner Stimme zu gestalten und die Wörter seines Gedichts mit allen nur denkbaren Formen der Deklamation zu dynamisieren und bis zu ihrem Siedepunkt zu erhitzen: So begann die Ära der "Sprachinstallation", die kein Lyriker seiner Generation so mitreißend zu inszenieren verstand wie eben Thomas Kling. Seine Gedichtbücher mit ihren technizistischen und schrillen Titeln - auf das 1987 vorgelegte Debüt erprobung herzstärkender mittel folgte 1991 brennstabm und 1993 nacht.sicht.gerät - wurden zu Grundbüchern seiner Generation. Da hatte ein Wörter-Alchemist die Büchse der Pandora geöffnet und ließ daraus alle Wirkungsmöglichkeiten der Sprache auffliegen.

1957 in Bingen geboren, dem Heimatort Stefan Georges, hat sich Thomas Kling stets am gusseisernen Formalismus des rheinhessischen "Meisters" und anderer Autoren der klassischen Moderne abgearbeitet. Historische Recherche, spracharchäologische Detailarbeit und seine furiose "Etymologiebegeisterung" betrieb Kling bis zum Exzess.

Als er Anfang der achtziger Jahre mit seiner systematischen Sprachkörperbetrachtung begann, war es freilich ein österreichischer Dichter, der heute weithin vergessene Reinhard Priessnitz, der ihm den Weg zu seiner eigenen "polylingualen" Kunst wies. Weil er sich immer wieder auf Priessnitz und dessen Wiener Kombattanten berief, hat man Thomas Kling oft als bekennenden Epigonen der "experimentellen Lyrik" missverstanden. Nie ging es aber in seinen Gedichten darum, Sprachzertrümmerungen um jeden Preis zu organisieren oder gar serielle "Permutationen" vorzuführen. Wenn er spezifische Techniken lyrischer Raffung, Komprimierung und schroffer Fügung durchprobierte, dann aber nur, um die sinnliche Materialität des Textkörpers erfahrbar zu machen. Seit 1994 lebte der Dichter zusammen mit seiner Frau, der Malerin und Fotografin Ute Langanky, auf einer ehemaligen Raketenstation, nahe der Museumsinsel Hombroich, einer klimatischen Schnittstelle am Nordrand der Kölner Bucht, die zum "Denkgelände" für den Autor und zum Pilgerort für junge Dichter wurde.

Thomas Klings spracharchäologische Besessenheit manifestierte sich am intensivsten in seinem Gedichtband Sondagen (2002), seinem umfangreichsten lyrischen Opus. Hier finden wir faszinierende Anverwandlungen der alten Zauberlieder und Hexensprüche, die am oralen Anfang jeder Poesie stehen. Diese lyrische Rückholbewegung hat aber nichts naiv Vergangenheitsseliges, liefert keine Schamanismus-Reprisen, sondern vollzieht sich stets aus der Perspektive des distanzierten Historikers, des in vorzeitlichen Sprach- und Boden-Schichten grabenden Archäologen.

Der "Kennungsdienst" des Gedichts besteht hier in der Kunst, das emphatische Evozieren des frühgeschichtlichen Materials mit dem kühlen Blick des Historikers und den Wahrnehmungsleistungen des jeweiligen Aufzeichnungsmediums zu synchronisieren.

Aus allen Epochen zitiert Kling seine "Vanitas-Inschriften" herbei, schaut sich um im "archäologischen Park", betreibt sein "kartenlesen im unverzeichneten". Da werden zunächst, im zweiten und dritten Zyklus der Sondagen, in den Kratern und Kegeln der Eifel und im Bergischen Land die Hinterlassenschaften der frühen Menschheitsgeschichte aufgespürt. Auf den Spuren des Archäologen Johann Carl Fuhlrott, dem Entdecker des Neanderthalers, schürft und gräbt Kling in vulkanischen Böden und erstarrten Basalten, vergegenwärtigt "eiszeitjäger", zitiert die Riten eines germanischen Regenzaubers und lässt am Ende des zweiten Zyklus sogar eine allegorische "Historia" auftreten.

Im Zyklus Beowulf spricht positioniert sich Kling in unmittelbarer motivgeschichtlicher Nähe zu seinem großen Kollegen Seamus Heaney. Denn der "Beowulf" ist ein altenglisches Heldenepos über einen unerschrockenen Drachentöter, das Heaney vor einigen Jahren in einer aktualisierenden Übersetzung zu neuem Leben erweckt hat. Wenn hier "aus torfen und mudden" eine Moorleiche auftaucht, dann reflektiert Kling immer auch den Wahrnehmungsprozess bei der Bergung der Toten. Dann wird "im kopf" ein "bergungsfoto" produziert, wird der Körper mit den Augen "abgescannt", wie es in einem häufig verwendeten technizistischen Terminus heißt.

Und selbst antike Weissagungen geraten bei Kling in medientechnische Zusammenhänge. Denn die "letzte Äußerung des delphischen Orakels" wird gleich in zwei Versionen präsentiert. Da ist zum einen die wörtliche Übersetzung der Orakel-Spruchs aus der Griechischen Anthologie, zum anderen die Wiederholung des Spruchs in seiner medialen Verzerrung als Radiostimme. Von "delphis benommener stimme" ist dann nur noch ein Wimmern und Knistern zu hören: "fading, schwund, wellen-/ getriller, steingepolter übern sender, und das wars."

Zu den intensivsten Texten in diesem Buch zählt sicherlich der Zyklus Manhattan Mundraum Zwei, der uns mitten in die Gegenwart des Weltbürgerkriegs führt, in den "toten trakt von Ground Zero" nach dem denkwürdigen 11. September 2001. Die Ereignisse des 11. September sind hier zurückgenommen in suggestive Chiffren: das "loopende auge", der "algorithmen-wind", die "lichtsure", das "totnmehl". Mitunter glaubt man Anspielungen auf Augenzeugenberichte zur Katastrophe zu vernehmen, nebst einem deutlichen Hinweis auf Celans Todesfuge, etwa im Begriff der "Luftsiedler", denen bei Celan "ein Grab in der Luft" geschaufelt wurde. Der Tod ist nun allerdings nicht mehr ein "Meister aus Deutschland", der religiöse Ursprung des neuen Schreckens taucht nur in Ausdrücken wie "lichtsure" oder "rache-psalm-partikel" auf.

Neben diese an Paul Celan gemahnenden Verse in extremer Engführung treten die bewegenden Gedichte der Hombroich-Elegie. Hier vergegenwärtigt Kling in schönen dichten Bildsequenzen seine poetischen Wappentiere: den Turmfalken, die Biene - und immer wieder die Wespe.

In den erschütternden Versen des zuletzt erschienenen Bandes Auswertung der Flugdaten (2005) wurde man auf das Verstummen dieses großen Dichters vorbereitet. Am Anfang dieses faszinierenden Buches steht der große Gesang von der Bronchoskopie, ein ergreifender, an Todesahnungen rührender Gedicht-Zyklus, in dem das lyrische Subjekt seine Lage "am rande der grube" reflektiert. Es sind Gedichte von der kühlen medizinischen Erkundung des Körpers, Gedichte eines Moribunden, der den für seine Dichtung typischen kulturarchäologischen Blick auf sich selbst richtet. Der Leib des lyrischen Subjekts erscheint nicht als bloß physisches Objekt der medizinischen Visite, sondern als Geschichtsmaterie. Der Atemraum des Ich wird dabei mit Metaphern des Bergbaus beschrieben. An gleich zwei Stellen dieses Zyklus wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen dem moribunden Ich und der romantischen Sage vom toten Bergarbeiter im schwedischen Falun. Diese unter anderem von E.T.A. Hoffmann aufgegriffene Geschichte erzählt von der wundersamen Unversehrtheit des toten Körpers im Erzbergwerk, wo er ein halbes Jahrhundert in "Vitriolwasser" lagerte.

In den "lungenschacht" des Kranken hinein stoßen hier die medizinischen Apparaturen - die im Gedicht als bergmännische Werkzeuge (zum Beispiel als das "gezähe") apostrophiert werden: "der doctor teuft ein - unser allwissend, doktor / hall-weisend, doctor halb, doctor alpwissend, du, eintäufer rein, rein stocher/ -stocher in meine gestochene, wie scharf gebeizte lunge. / wie soll man sich fühlen, wenn man am rande der grube steht?"

Von der körperlichen Ausgesetztheit des Ich in der Gegenwart führt der Weg ins Mittelalter, dann in die Frühgeschichte der Zivilisation und schließlich in den mythischen Urgrund des Menschengeschlechts. "Es geht darum", so Thomas Kling in einem seiner letzten Interviews, "dass die alten Wortschichten untereinander zum Glimmen gebracht werden." In seinem letzten Buch ist es Thomas Kling gelungen, alte Stoffe der Vorzeit und neueste Fundstücke aus der Medienwelt dank einer virtuosen Sprachkombinatorik in große Reibungshitze zu versetzen: "rotglut der bilder. aufschmelzungen./ und alles - alles / ins fließen gebracht: / in meiner bildschmiede, / schildschmiede./ Seit sonnenaufgang bin ich - Vulcan."

Was Thomas Kling einmal über Reinhard Priessnitz, sein 1985 früh an Krebs gestorbenes Vorbild, geschrieben hat, lässt sich nun ohne Einschränkung auf ihn selbst übertragen: Er war und ist "der zweifellos bedeutendste Dichter seiner Generation".


Lieferbare Bücher von Thomas Kling:

Itinerar. Essay. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, 70 S., 7 EUR

Botenstoffe. Essays. DuMont, Köln 2001, 250 S., 16,80 EUR

Sprachspeicher.200 Gedichte vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert. Eingelagert und moderiert von Thomas Kling. DuMont, Köln 2001, 360 S., 14,90 EUR

Sondagen. Gedichte. DuMont Verlag, 140 S., gebunden im Schuber mit CD, 19,90 EUR

Auswertung der Flugdaten. Gedichte und Essays. Mit einem Fotozyklus von Ute Langanky. DuMont, Köln 2005, 172 S., 17,90 EUR


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