Wenn sich Poesie in „antike Dispositionen“ (Durs Grünbein) verstrickt, dann stehen ihr zwei Möglichkeiten zur Verfügung. Die meisten Gegenwartsdichter bevorzugen leider den naheliegenden Weg des geringsten Widerstands: Die Nobilitierung ihrer Reiseerfahrungen an geschichtsträchtige Orte mit Prunkzitaten oder symbolschwangeren Namen. Da wird dann einfach das Antike-Regal abgeräumt und die Motiv-Evergreens zwischen Homer, Horaz und Ovid werden durchexerziert.
Daraus entsteht dann eine wohlfeile Discount-Mythologie zu ermäßigten lyrischen Konditionen. Im Gedicht taucht an jeder Straßenecke und bei jedem noch so nichtigen Reiseerlebnis irgendein berühmter Kronzeuge oder eine mythische Konstellation aus einschlägigen Urtexten auf.
Man ist wenig überrascht, wenn das poetische Ergebnis dann eher nach Traditions-Verramschung als nach Traditions-Verehrung aussieht. Aus den Imponiergesten vermeintlicher Mythos-Adaptionen entsteht nur eine Wikipedia-Archaik. Das ehrwürdige Reisegedicht schrumpft dabei zur rein bildungstouristischen Emblematik.
Daniela Danz, das 1976 in Eisenach geborene Literaturtalent – 2006 erschien ihr sehr ehrgeiziger Roman Türmer –, hat in ihrem lyrischen Erstling zum Glück den beschwerlicheren Weg gewählt. Sie schickt ihre Figuren zunächst über den berühmten Hellespont ans Schwarze Meer, den „Pontus Euxinus“, wo sich seit den Zeiten Homers alte und neue Kulturkreise, Europa und Kleinasien kreuzen und überlagern.
Anrufung des großen Ovid
Dort kommt es unweigerlich zur poetischen Anrufung des großen Ovid, der einst in Constanta, dem antiken Tomis am Schwarzen Meer in der Verbannung lebte. In die Gefahr des bildungstouristischen Strebertums gerät Danz aber nur im ersten Kapitel, das einige „Souvenirs“ als Appetizer für die Begegnung mit der Fremde ausstreut. Aber bereits in diesem Abschnitt hat Danz schon lyrische Konterbande versteckt, um die allzu bequeme Fernreisen-Prospekt-Perspektive auf den Pontus zu zerschlagen.
Im Gedicht "Festung" wird der fatale Gegensatz zwischen den Idylle-Suchern aus dem Westen und den in die Heimatlosigkeit geflohenen und in der Fremde dann internierten Migranten und Bootsflüchtlingen aus den Armuts-Regionen der Erde schroff ins Bild gesetzt.
Pontus: Der Titel von Danz’ Gedichtband evoziert nicht etwa ehrfürchtig einen mythenumwobenen Ort, sondern verweist subtil auf die Bewegungsform der Gedichte selbst. Es geht eben nicht um eine stipendiengestützte Reise an den „Pontus Euxinus“, sondern um einen poetisch kühnen Brückenschlag (von lateinisch „pons“) zwischen den unterschiedlichsten Kulturkreisen – der in die unmittelbare Gegenwart politischer Dauerkonflikte führt.
Das erhellen schon zwei Gedichte aus dem ersten Kapitel, in denen die Begegnung zwischen jüdisch-christlicher und islamischer Welt in schönen, legendenhaften Bildern vergegenwärtigt wird.
Im Gedicht "Gabriel zu Mohammed" wird etwa eine Urszene des Islam aufgerufen: Der Legende nach hat der Erzengel Gabriel dem Religionsgründer Mohammed den Koran diktiert. Danz’ entwickelt daraus eine ebenso intensiv gefügte wie jede Eindeutigkeit meidende Szene, in der Energien und Anziehungskräfte zwischen einem Ich und einem faszinierenden „Er“ evoziert werden.
Ein Gedicht wie "Gabriel zu Mohammed" hat denn auch eine viel größere Magie wie die symbolisch überdeterminierten Texte "Westbank 1" und "Westbank 2", in denen Reizvokabeln wie „Patronen“ und „Gürtel“ in plakativer Überdeutlichkeit die Nähe einer terroristischen Gefahr suggerieren.
Der ukrainische Märchenheld
Jedes Kapitel wird mit einem hochkonzentrierten Prosagedicht eingeleitet, das die Stoffe, Motive und Schauplätze der einzelnen Gedicht-Abteilung präludiert. Diese einleitenden Partien eilen mitunter in allzu erwartbaren Assoziationsketten dahin. Danz behält jedoch die Kontrolle über das antikisierende Namedropping – und sucht immer wieder kontrastbildenden Haltepunkte in der Gegenwart. Das gilt für das schöne Kapitel über das Hiob-Schicksal des ukrainischen Märchenhelden Danilo ebenso wie für das „album amicorum“, das die alten Dramen von Liebes und Liebesverlust durchbuchstabiert.
Nur da, wo die Kollision von Antike und Moderne auch am poetischen Stoff beglaubigt wird, kann bedeutende Poesie entstehen. Und das gelingt Danz in nicht wenigen Fällen, etwa wenn im Falle von „Telepylos“, einer Stadt aus der „Odyssee“, nicht eine Homer-Schwärmerei ausgepinselt, sondern lakonisch die nüchterne Empirie der Kriegshandlungen verzeichnet wird, die in der antiken Stadt und ihrem realgeschichtlichem Abbild stattgefunden haben.
Hier wirkt dann der Hinweis auf „eine eiserne Ration Homer“ nur noch sarkastisch. Das heikelste Kapitel in Pontus, in dem die Dichterin an eine kryptische poetologische Notiz Hölderlins anknüpft, übersteht Danz nur mit einigen Blessuren. Mitunter gibt sie der Neigung zum Selbstkommentar nach oder greift zu einem blassen Bild.
Ihre verstörende Wirkung bewahren ihre Gedichte aber immer dann, wenn sie ihren Rätselcharakter nicht preisgeben, sondern verstärken. Wie in Ceyx aus dem Kapitel „Symbolon“: „bleiben können wir hier auf den Felsen / Flügel deine Schulterblätter Klippen / unter uns die Knochen brechen doch / Flossen unsre Arme Beine glänzend zähl / ich jede Schuppe deines Leibes sirren / über uns Zikaden oder ist das unser Ton?“
Pontus. GedichteDaniela Danz, Wallstein, Göttingen 2009, 76 S., 14,90
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