Als im Frühjahr 1997 die Sensationsnachricht vom ersten geklonten Lebewesen, dem Schaf Dolly, über den Erdball eilte, schien das die Welt der Literatur kaum zu beeinträchtigen. Während die kategorialen Grundlagen der Naturwissenschaften über der neuen genetischen Revolution ins Wanken gerieten, blieben die alten, traditionellen Konzepte von ästhetischer Subjektivität weitgehend intakt. Nur bei ganz wenigen Autoren hat das Erscheinen des ersten Klons auch die literarischen Wahrnehmungsweisen affiziert. So erlebte die Schriftstellerin Ulrike Draesner die Urszene gentechnologischen Triumphes als Erkenntnisschock und Epiphanie. Wenige Wochen nach dem Geburt des neuen Totemtiers wissenschaftlicher Hybris blätterte sie in den Sonetten William Shakespeares, in denen sie die Szenen künstlicher Reproduktion präfiguriert fand. Shakespeares Sonette, die von Verschmelzungswünschen, erträumten Vereinigungen und rauschhaften Hochzeiten sprechen, entzifferte Draesner als einen Diskurs des Begehrens, in dem die Geschlechtsrollen zwischen Mann und Frau offen bleiben und die sexuelle Determination der Liebesakteure aufgehoben ist. In einer sehr freien "Radikalübersetzung" transformierte Draesner damals die Phantasien der liebesberauschten Shakespeare-Figuren in einen Dialog von Klonen, wobei sie mit den Codes und Jargons der Reproduktionstechnologie ziemlich verschwenderisch umging. Diese "Radikalübersetzung" der Shakespeare-Sonette, die vor zwei Jahren unter dem Titel Twin Spins erschien, blieb wegen ihrer extremen Entfernung vom Urtext problematisch.
In ihren jüngsten Gedichten und ihrem neuen Roman Mitgift hat Ulrike Draesner ihr zentrales Thema einer Revolutionierung der Geschlechter-Identitäten im "Post Dolly"-Zeitalter erneut aufgenommen. Auch hier kreist alles um die komplexen Verhältnisse von Körper und Sprache, auch hier formulieren die Erzähler und die lyrischen Figuren unablässig anthropologische Befunde zur Situation der Liebe und des Begehrens im Zeitalter der künstlichen Reproduktion. Im theoretischen Background lauern bei Draesner stets die Schriften Lacans und Foucaults, deren Motive bei Bedarf in die Gedichte und den Roman eingeschmuggelt werden.
In Rhythmus, Bild und Sprache - so erläutert Draesner in einem ihrer Essays - sei das Gedicht "der Extrakt eines körperlichen Zustandes", der nicht durch "simple Story-Wirklichkeit" sichtbar gemacht werden könne, sondern nur durch "Störungen" der semantischen Ordnung, durch "den krakeelenden oder tanzenden oder hüpfenden Schritt" der Gedicht-Zeile. Ihre "soma-ma-tischen träume" von den labilen Aggregatzuständen der Körper und Geschlechter bebildern die Gedichte dabei in sehr üppiger Weise mit den Fachbegriffen aus Chemie, Biologie, Physik und den Molekularwissenschaften. Dass die Autorin ihre Gelehrsamkeit weder in den Gedichten noch im Roman verschweigt, sollte man ihr nicht reflexhaft als Eitelkeit anlasten, sondern als distinktes Qualitätsmerkmal ihrer Literatur verbuchen . Denn die systematische Konfrontation der alten metaphorischen Vokabulare der Poesie mit den Fachsprachen der Wissenschaft erzeugt in diesem Fall nicht nur semantische Reibungshitze, sondern auch einen Zugewinn an Präzision.
Auch im Roman Mitgift hat Ulrike Draesner einen Zusammenprall extrem gegensätzlicher Geistes-, Sprach- und Gefühls-Welten arrangiert. Die unüberwindbar scheinende Fremdheit zwischen dem Liebespaar Lukas und Aloe spiegelt sich in ihren konträren Berufsbildern. Lukas ist Astrophysiker, gewohnt, sich um "Konstellationen, Verhältnisse und Wechselwirkungen" von Planeten zu kümmern und aus der Erkenntnis Konsequenzen zu ziehen, "dass das ganze All aus nichts anderem als aus Bewegungen von Körpern um Körper bestand". Aloe ist als Kunsthistorikerin und Fotografin nicht nur vertraut mit den Funktionsweisen des Sehens, sondern auch mit den Gesetzlichkeiten der Schaulust und des begehrlichen Blicks. Indes liegt über den "Bewegungen von Körpern um Körper", die sich im Verlauf des Romans vollziehen, von Beginn an der Schatten des Unheils.
Es ist die genetische "Mitgift" der Figuren, ihr verborgenes Kindheitsgeheimnis und kollektiv beschwiegenes Geschlechts-Tabu, das die Liebesgeschichte am Ende in eine furchtbare Familientragödie münden lässt. Denn Aloes attraktiver Schwester Anita, die schon in jungen Jahren als Model reüssiert, ist ihre ursprüngliche Geschlechtsidentität gewaltsam ausgetrieben worden. Sie kam zum Ensetzen ihrer Eltern als Hermaphrodit zur Welt, als ein Zwitter mit einer penisartig vergrößerten Klitoris, der mit seiner androgynen Identität die polare Geschlechterwelt erschütterte. Die Eltern reagierten auf die geschlechtliche Abweichung mit Gewalt, mit der medizinischen Zurüstung des Hermaphroditen in eine schöne, öffentlich vorzeigbare Frau. Die als Katastrophe erfahrene Intersexualität wurde eliminiert zugunsten einer falschen Eindeutigkeit. Als sich Anita nach der Geburt eines Sohnes die intersexuelle Identität zurück erobern will, kommt es zur Katastrophe: Anitas Ehemann kann auf die geschlechtliche Rückverwandlung nur mit Mord und Selbstmord antworten.
Auch in Mitgift geht es also um die Auflösung und die Neustrukturierung der sozial und sexuell determinierten Geschlechter-Identität, die Ulrike Draesner schon aus den Sonetten Shakespeares destilliert hat. Obwohl sich in die Konstruktion des Romans überdeutlich die konzeptionellen Überlegungen der Autorin eingeschrieben haben, ist hier kein bloß episch maskierter Essay über den Zusammenhang von Geschlechter-Identität und Gesellschaftsstruktur entstanden. Zweifellos hat die Autorin all die postfeministischen Schriften über "gender theory", über soziokulturelle Zuschreibungen der geschlechtlichen Identität, und all die Körpertheorien von Donna Haraways A Manifesto for Cyborgs bis hin zu Michel Serres´ Studie "Der Hermaphrodit" gelesen und in ihren Roman motivisch eingespeist. Dies aber durchaus zum Vorteil des Textes, der seine körpertheoretischen Theoreme in vielen berückenden Passagen erzählerisch zu beglaubigen weiß.
Wenn Lukas und Aloe ihre ersten rauschhaften Verschmelzungen erfahren, so wird in der synästhetischen Beschreibung von Nähe zugleich schon die unaufhebbare Fremdheit zwischen den Liebenden markiert: "Sie geriet in eine blättrige, fluoreszierende Welt. Als grüner Widerschein rutschte Lukas von ihr. Er floh, wurde dunkel, verfärbte sich rasend schnell, ein Chamäleon, aufgestört in seinem Baum. Aloe lauschte auf etwas, einen Flügelschlag, ein Echo des Waldes, in dem sie eben noch gewesen waren. Doch das Grün, das sie sah, war nur der Widerschein der Lampe im Flur." Die Fremdheit der auseinander fallenden Körper verschärft sich bald zur sexuellen Indifferenz des einstigen Liebespaars. In sehr eindrücklichen, sinnlichen Erzählpartien beleuchtet Draesner den Weg Aloes in die Krise, ihr allmähliches Abgleiten in Magersucht und ihre zwanghaften Versuche, die rätselvolle Attraktivität der beneideten Schwester zu erreichen. Lukas und Aloe verlieren im Beziehungsalltag rasch die Energien des Begehrens und verfallen auf sexuelle Kompensationen. Das Scheitern ihrer Liebe wird nicht psychologisch motiviert, sondern kühl beschrieben als ein langsames, aber unaufhaltsames Auseinanderdriften, das den gegensätzlichen Körpergrammatiken von Mann und Frau und ihrer unterschiedlichen genealogischen "Mitgift" geschuldet ist. Am Ende nimmt dieser mit ständigen Blickwechseln, Vor- und Rückblenden gespickte Roman über die Liebe und die Verwirrung der Geschlechter eine überraschende Wendung. Denn der Sternenforscher, der sich nach der Trennung von Aloe ganz der Erkundung des Weltraums gewidmet hat, kehrt nach fünf, sechs Jahren zur verlassenen Geliebten zurück. Zuvor hat er in einem Observatorium im fernen Chile eine unerhörte Entdeckung gemacht: Ein riesiger neuer Planet im sogenannten Kuiper-Gürtel, in fast unermesslicher Entfernung von der Sonne, gibt der Utopie von neuen Körpern und neuen Lebensformen einen neuen Ort. Ob dieser ferne Planet auch das Symbol für eine neue Nähe zwischen Lukas und Aloe werden kann, bleibt offen.
Ulrike Draesner: Mitgift. Roman. Luchterhand Verlag, München 2002, 377 S., 22,50.EUR
Ulrike Draesner: für die nacht geheuerte zellen. Gedichte. Sammlung Luchterhand, München 2001, 140 Seiten, 10.- EUR
Ulrike Draesner: Twin Spin. Sonette von Shakespeare. Radikalübersetzungen. In: Peter Waterhouse/Ulrike Draesner/Barbara Köhler: to change the subject. Wallstein Verlag (=Göttinger Sudelblätter), Göttingen 2000, 56 S., 12,50 EUR
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