In ihrem kürzlich erschienenen und hoch gelobten Buch Böses Denken studiert die Hamburger Philosophin Bettina Stangneth die Gedankenwelten böser Menschen. Wir haben mit ihr anlässlich der grausamen Ereignisse der vergangenen Wochen gesprochen.
der Freitag: Das Problem des Bösen begleitet die Menschen von jeher. Alle Mythen singen Lieder davon. Warum haben Sie nun noch ein Buch darüber geschrieben, warum ist darüber noch immer nicht alles bekannt?
Bettina Stangneth: Weil es ein ungelöstes Rätsel ist? So hingebungsvoll wir über schreckliche Dinge und fürchterliche Taten reden, weichen wir dem Problem doch gern aus. Wir schreiben das Böse groß wie den Namen von jemand anderem. Aber wenn wir vom Bösen reden, reden wir immer vom Menschen. Ja, wir haben mit bösen Taten und Tätern viel Erfahrung. Sie hat uns aber offensichtlich wenig genutzt. Darum frage ich nicht nach dem Bösen, sondern nach dem bösen Denken.
Als wir uns für dieses Gespräch verabredeten, zeigten Sie sich angesichts der medialen Berichterstattung über den Amoklauf in München verärgert. Was ist Ihre Kritik daran?
Es war der fünfte Jahrestag der Anschläge von Anders Breivik. Jeder, der sich mit diesen Dingen beschäftigt, hat etwas befürchtet. Vorbilder spielen im Denken von Amokläufern eine große Rolle, durchaus vergleichbar mit der Heiligenverehrung. Schon Selbsttötung allein hat eine schwer zu beherrschende Anziehungskraft. Darum wird nicht berichtet, wenn ein Mensch sich vor einen Zug geworfen hat, weil man die traurige Erfahrung hat, dass zehn hinterherspringen. Dieses Phänomen ist auch bei Amok ungut bekannt.
Inwiefern?
Versetzen Sie sich in die Position eines Menschen, der von Amokläufern fasziniert ist und die Taten schon tausendmal im Kopf durchgespielt hat, um zu sein wie sie. Aus dieser Perspektive war das, was wir am Wochenende nach den Morden von München erlebt haben, eine einzige Dauerwerbesendung. Wen kann es dann überraschen, wenn tatsächlich gleich noch einer zuschlägt? Natürlich sind wir von Ereignissen wie diesen verstört. Natürlich gibt es einen News-Wert bei derart unerhörten Taten. Berichterstattung, Informationsbedürfnis und ja, auch Sensationsgier sind eine hinreichend bekannte Gemengelage, die man kurz „Quotendruck“ nennt. Aber es gibt eben auch das Wissen um den Zusammenhang von Medienberichten und Taten. Wissen nützt allerdings nur, wenn man es auch ernst nimmt. Wer so tut, als ob er nicht wüsste, was er weiß; wer wider besseres Wissen handelt, verhält sich verantwortungslos. Das gilt für alle Beteiligten.
Zur Person
Bettina Stangneth, Jahrgang 1966, promovierte über Immanuel Kant und beschäftigte sich mit Hannah Arendt. Ihr 2011 veröffentlichtes Buch Eichmann vor Jerusalem wurde mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr die Studie Böses Denken (Rowohlt 2016, 256 S., 19,95 €)
Foto: Dieter Rielk
Der Soziologe Klaus Hurrelmann sagt über ein Buch des US-Psychologen Peter Langman, es mache klar, dass eigentlich alle diese Täter schwere psychische Störungen aufwiesen. Könnte man diese These nicht mit Immanuel Kants Begriff des „radikal Bösen“ als Verharmlosung der Problematik kritisieren? Nach Kant sind auch die sogenannten normalen Leute jederzeit zu Gewalt in der Lage.
Kant benennt damit etwas viel Grundlegenderes: Dass ein Mensch sehr wohl wissen kann, was richtig und was falsch ist und es in seinem Handeln dennoch nicht berücksichtigt. Mündig sein, denken können, sich der Konsequenzen des eigenen Handelns bewusst sein — all das hindert nicht, dass wir im Einzelfall dennoch anders handeln. Natürlich mögen wir die Theorie, dass „der normale Mensch“, der sich rational in der Welt zu orientieren weiß, nicht mordet. Aber auch mündige Bürger morden. Die Mörder, die uns heute so verstören, sind gerade nicht Menschen, die sich mit einer Bombe um den Bauch aus einem Helikopter in ein fernes Land stürzen. Sie sind unter uns aufgewachsen und versuchen, sich so zu orientieren, wie sie es von uns gelernt haben. Es sind unsere Kinder. Wir müssen überlegen, was unsere Art zu denken mit dieser Entwicklung zu tun hat.
Das müssen Sie präzisieren.
Der junge Mann von München hat sich lange auf seine Tat vorbereitet. Er hat sein ganzes Wissen, seine Klugheit, seine offensichtlichen Talente angewandt, sich ernsthaft engagiert. Er hat sich genau so verhalten, wie wir uns das von einem zielstrebigen jungen Menschen wünschen, der sein Ziel verfolgt und durchsetzt. Wir könnten unzählige Werte und Tugenden unserer Kultur aufzählen, die er mit Bravour erfüllt hat. Trotzdem ist er ein Mörder. Sich dessen bewusst zu sein, ist nicht angenehm. Es ist viel leichter erträglich, zu sagen, der junge Mann sei irgendwie in die Irre gelaufen, triebgestört oder von einem Rattenfänger verführt worden.
Der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit schreibt, wenn wir uns mit den Argumenten von Anders Breivik und anderen Gewalttätern auseinandersetzen, machen wir einen Fehler. Bei solchen Typen, übrigens auch bei Nazis, sei das Entscheidende ihre psychische Disposition, ihre Lustbefriedigung, wenn sie andere foltern oder töten. Sie hingegen nehmen Breiviks Gedanken ernst.
Es geht darum, adäquate Kategorien für das zu finden, was geschieht. Breivik hat in seinem ersten Verfahren auf die Frage, warum er gemordet hat, geantwortet: Ich wollte wissen, wie viele Menschen ich umbringen muss, damit man mich liest. Da kann ich nur sagen: Ziel erreicht! Er hat verstanden, wie man Aufmerksamkeit weckt, wie man sich populär und noch für den größten Unfug Werbung macht. Wenn ich jetzt vor die Tür gehe und um mich herumballere, dann ist mein Buch ein Bestseller. Es ist die richtige Methode, wenn Berühmtheit das einzige Ziel ist. Aber dennoch finden wir es ganz und gar nicht richtig. Darum nennen wir es böse. Es mag Täter nach Theweleits Entwurf geben. Ich bestreite aber, dass er zur Beschreibung aller Täter des 21. Jahrhunderts hinreicht.
In Ihrem Buch kritisieren Sie den Ich-Entwurf all der „Selbstoptimierer“, weil diese jede abweichende Regung in den Dienst einer Überzeugung stellen. Zugleich würden Sie aber nicht so weit wie die französischen Strukturalisten gehen und das Subjekt im Namen der Moderne als überkommen verwerfen. Erklären Sie diesen Balanceakt.
Ich rede nicht über einen Subjekt- oder Ich-Begriff, sondern von Identität. Identität ist das Ideal eines Lebens aus einem Guss und der Wunsch, selber immer genau zu wissen, wer ich bin. Wir möchten nicht einfach nur „Ich“ sagen, sondern jemand sein, also von Bedeutung sein. Die Versuchung, jederzeit und immer öffentlich in Erscheinung zu treten und möglichst viele Bewunderer und Follower um sich zu scharen, ist nicht nur ein Motor des Erfolgs sozialer Medien. Es ist auch die Versuchung einer Illusion, die immensen Druck erzeugt, nämlich mit immer größerer Konsequenz die Selbstinszenierung zu betreiben. Bei Terrortätern spricht man von Radikalisierung. Aber jeder, der versucht, mit sich identisch zu sein, versucht das Unmögliche, es sei denn, er tötet viel von dem ab, was auch immer zu uns gehört, so widersprüchlich es uns auch erscheint. In Orlando hat ein junger Mann in einem Schwulenclub planmäßig viele Leute erschossen. Was wollte er da vernichten? Etwas Fremdes oder etwas nur zu Vertrautes?
Friedrich Nietzsche rät denen, die er zur Elite des Menschengeschlechts zählt, all die Dummen und Primitiven zu beseitigen. Gibt es nicht auch in der Philosophie eine Tradition der Menschenverachtung?
Philosophen haben den Traum, dass jeder, der sich auf den Weg des Denkens macht, schon deswegen auf dem richtigen Weg sei. Von dieser schönen Hoffnung ist es nur ein kurzer Schritt zu Nietzsches Verachtung der Ungebildeten, gleich gefolgt von der Hybris, der Philosoph stünde bereits als solcher jenseits von Gut und Böse, weil er sich vermeintlich Höherem verschrieben hat. Diese Überzeugung, schon die Frage nach Gut und Böse sei überholt, teilt übrigens Martin Heidegger wie die meisten nationalsozialistischen Denker. Insbesondere in Deutschland sind wir nicht zufällig seit 70 Jahren begierig zu sagen, Denken sei irgendein weltloses Gerede. Schön wär’s. Die Wahl der Art des Denkens hat sich auf verheerende Weise als relevant für unsere Orientierung erwiesen. Deshalb braucht es eine Ethik des Denkens und mehr Wissen über gefährliche Denkwege. Natürlich macht das Philosophieren über das Gute, Wahre und Schöne mehr Spaß. Aber wir brauchen eine Philosophie, der es mit dem Denken ernst ist, und Philosophen, denen bewusst ist, dass auch das Denken immer etwas mit dem zu tun hatte, was in der Welt schiefläuft.
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