1967: Das Volkstribunal

Zeitgeschichte Der Sozialistische Deutsche Studentenbund startet seine Kampagne gegen den Verleger Axel Springer. Ihr Ziel: Die Arbeiterschaft soll sich von der „Bild“-Zeitung abwenden
Ausgabe 03/2015

Das Unbehagen über die Berichterstattung zur Ukraine-Krise ist groß: Ende 2014 vertrauen ihr 63 Prozent der Deutschen wenig oder gar nicht. Auch der galoppierende Leserschwund seit Anfang 2014 – 6,3 Prozent bei der Bild-Zeitung, 13,6 bei der FAZ – mag hiermit zusammenhängen. Eine ganz neue Entwicklung? Recht ähnlich scheint ein Vorgang, der für die Studentenrevolte von 1967/68 zentral war: der Protest gegen den Zeitungszar Axel Springer. Aber wenn man näher hinschaut, überwiegen die Unterschiede. Die erbitterten Szenen, zu denen es damals kam, waren doch nur die Außenseite einer zwar heftigen, aber im Kern demokratischen Kommunikation zwischen verschiedenen politischen Lagern und sozialen Kräften.

Es fing damit an, dass der Student Benno Ohnesorg erschossen wurde. Reza Pahlavi, Schah von Persien, einen Stützpunkt US-amerikanischer Macht im Nahen Osten, war am 2. Juni 1967 nach Westberlin geflogen, wie das damals von jedem Staatsgast der Bundesrepublik erwartet wurde. Vor der Deutschen Oper, die er besuchte, demonstrierten Studenten gegen die Zustände in seinem Land. Darauf reagierte die Polizei mit brutaler Härte, ein Beamter schoss. Fast alle Zeitungen der Stadt gaben nun Ohnesorg, der gar nichts getan hatte, selbst die Schuld für seine Ermordung. Denn als das eigentliche Verbrechen wurde die Demonstration hingestellt. 2.000 Studenten, die am Tag nach Ohnesorgs Tod im Auditorium maximum der Freien Universität zusammenströmten und von da an wochenlang täglich wiederkehrten, stellten schnell den Zusammenhang her mit der Monopolstellung, die der Hamburger Verleger Springer auf dem Westberliner Zeitungsmarkt behauptete. In Westdeutschland standen seinen Zeitungen andere gegenüber, hier nicht. Die Studenten sahen, sie mussten versuchen, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen, um die Bevölkerung über den wahren Sachverhalt aufzuklären.

Rückzug ins Privatleben

Springer selbst sah sich, was Westberlin anging, als Vorkämpfer gegen die von Ostberlin ausgehende Bedrohung einer Bindung der Stadt an die Bundesrepublik. Die Studenten störten und unterminierten in seinen Augen die Abwehrkraft der Westberliner. Die Studenten ahnten das nicht, wie man ihrer nun einsetzenden Analyse der „manipulierten“ Berichterstattung in der Springer-Presse entnehmen konnte. Denn der Kontext, der ihnen auffiel, war ein ganz anderer. Sie fanden sich besonders von der Bild-Zeitung herausgefordert: Deren Karikaturist stellte sie als faule und dreckige Rüpel dar. Sie wussten, dass die Zeitung besonders von Arbeitern gelesen wurde, und meinten, wenn Springers „Manipulation“ nicht wäre, würden die Arbeiter auf ihrer Seite stehen. Bald kam es zur Steuerung ihrer zunächst spontanen Bewegung, sie kam aber nicht aus Ostberlin, wie manche Forscher annehmen und Springer damals schon annahm, sondern vom SDS (Sozialistischen Deutschen Studentenbund). Dort gaben Leute den Ton an, in deren Denken neben Anarchismus, Existenzialismus und Psychoanalyse auch der Marxismus eine Rolle spielte. Dass er die Studenten von der DDR eher trennte als mit ihr verband, war Springer nicht wichtig, wenn er es überhaupt sah.

Der SDS beschloss im Juli 1967 auf seiner Bundesversammlung in Frankfurt/Main eine Anti-Springer-Kampagne. In Westberlin sollte ein „Tribunal“ gegen den Verleger vorbereitet werden, von Arbeitsgruppen, die sich als Kritische Universität bezeichneten. Als Höhe- und Endpunkt der Kampagne war die Blockade der Zeitungshäuser vorgesehen, um die Auslieferung der Springer-Blätter zu verhindern. Ja, das war Steuerung, doch sie geschah in aller Öffentlichkeit durch eine Organisation, die nur Vorschläge machen konnte. Im Verborgenen spielten sich allein die Finanzierungsversuche ab. Rudolf Augstein vom Spiegel und Gerd Bucerius, der Verleger der Zeit, scheinen seinerzeit gespendet zu haben – sie wollten in den Westberliner Zeitungsmarkt eindringen, und besonders Augstein sympathisierte mit den Studenten. Die Erwartungen des SDS wurden aber offenbar nicht erfüllt, denn es gab Klagen.

In einer anonymen Broschüre mit dem Titel Der Untergang der Bild-Zeitung, die wohl Ende 1968 erschienen ist, wird dargestellt, wie ursprünglich auch viele „Liberale“ die Kampagne unterstützten – Jürgen Habermas wird genannt –, sich aber zurückzogen, als sie hörten, dass in jenem Tribunal kein Verteidiger für Springer vorgesehen war. Geldzusagen wurden offenbar nicht eingehalten. Auch mit der Arbeit der Kritischen Universität war man unzufrieden. Tatsächlich hielten viele die Anti-Springer-Kampagne schon für gescheitert, als Ostern 1968 ein von der Bild-Zeitung aufgehetzter Arbeitsloser auf Rudi Dutschke schoss, den wichtigsten Sprecher des SDS, und ihn lebensgefährlich verletzte. Nun brach ein wahrer Aufstand los, den niemand zu organisieren brauchte, denn die Wut vieler Studenten war von selbst da; aber wie es üblicherweise geschieht, griffen sie, um ein Ziel zu haben, auf das Vorbereitete zurück und blockierten an vielen Orten die Springer-Häuser. In Berlin gingen dabei Fenster zu Bruch, auf Firmenfahrzeuge wurden Brandanschläge verübt, in München gab es zwei Tote.

Zeitgleich beschäftigte Springers Pressemacht die Bundesregierung, und der Verleger fand sich bereit, einige Blätter (etwa Bravo) zu verkaufen. Doch auch die Arbeit der Kritischen Universität sollte sich als folgenreich erweisen. Denn deren Gedanke, die Bild-Zeitung versuche, die Arbeiter auf ihr Privatleben zu reduzieren, und mache sie autoritätshörig, führte zu einem ganz anderen Gedanken, der bald nach dem Attentat auf Dutschke zum Ausgangspunkt der Neugründung kommunistischer Parteien durch verschiedene Studentengruppen wurde. Man hatte nämlich inzwischen viel Anschauung dafür, dass die Arbeiter nicht „manipuliert“ zu werden brauchten, um so zu sein, wie Springer sie darstellte. Sie hatten sich tatsächlich ins Privatleben zurückgezogen: nicht weil Springer das wollte, sondern weil sie ein Arbeits- und auch politisches Leben voller Enttäuschungen hinter sich hatten. Sie waren von selbst resigniert, und aus dieser Resignation mussten sie herausgeführt werden. Man sah ferner, dass sie sich auch ohne Springers Aufforderung autoritär und ihren Bosse gegenüber gefügig verhielten. Ja, man las in einer von Springer bestellten Marktanalyse, dass auch für den Verleger diese Subalternität gewissermaßen ein Problem darstellte: Bild-Zeitungsleser, hieß es da, brauchten eine Instanz, die ihnen den Sinn der Welt erkläre, von deren Komplexität sie sich bedroht fühlten, und wenn das sonst keine Autorität mehr leiste, müsse Springer einspringen.

Wissenschaftlich haben wir gar keine Differenz mit Springer, meinten die Studenten. Nur im politischen Kampf können wir sie austragen. Der musste darin bestehen, dass man mit den Arbeitern sprach und ihnen den Sinn der Welt anders erklärte. Aber nun hörte das Anderssein in einem entscheidenden Punkt gerade auf, denn um mit den Arbeitern sprechen zu können, glaubten die Studenten selbst autoritär werden zu müssen, indem sie die kommunistische Parteiform der 20er Jahre wiederbelebten. Eine so entstandene „KPD“ ordnete dann beispielsweise den kurzen Haarschnitt ihrer Mitglieder an. Besser wäre es wohl gewesen, man wäre antiautoritär geblieben und hätte von da aus das Gespräch mit den Arbeitern gesucht. Zehn Jahre später sahen die Akteure ein, dass sie sich auf einem Irrweg befanden, und brachen ihr kommunistisches Experiment wieder ab.

Was den Springer-Konzern angeht, so ist er heute selbst über seine damalige Berichterstattung erschrocken. Er versucht, sie aufzuarbeiten, und hat deshalb Zeitungsseiten von damals ins Internet gestellt. Den Manipulationsvorwurf, den die Studenten nach dem Tod Benno Ohnesorgs erhoben, verdienen viel eher diejenigen Medien, die heute die Ukraine-Krise einseitig darstellen und jede Kommunikation auch dann verweigern, wenn sie von früheren Kanzlern und Bundespräsidenten gefordert wird.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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