Von einer wissenschaftlichen Odyssee ist hier zu berichten. Über das Nausikaa, an dem sie zuletzt anlangt, wird man erschrecken. Es ist ein nicht eben heimatmäßiger Ort.
Bereits in Arbeit zwischen Misere und Utopie (1997, deutsch 2000) ist André Gorz mit einer völlig veränderten Situation des Klassenkampfs konfrontiert. Die Globalisierung des Kapitals lässt sich weder als Folge rein ökonomischer Gesetze begreifen, noch kann sie bloß auf das Ende des Warschauer Pakts zurückgeführt werden. Gorz erklärt sie vielmehr als Antwort des Kapitals auf die in den 70er Jahren oft diagnostizierte "Krise der Regierbarkeit". Der Staat hatte als Wirtschaftsorganisator eine sichtbare und somit verwundbare Zielscheibe des Protests geboten, nicht nur im Realsozialismus, sondern auch in der westlichen Demokratie. Deshalb musste er aus der Schusslinie genommen werden. Er hörte auf, der große Gegner zu sein. Man fing sogar an zu beklagen, dass er kein Partner im Kampf gegen das transnationale Treiben der Großkonzerne ist. Dieses kann aber gar nicht angegriffen werden, wenn es keinen Ort mehr gibt - wie der Staat einer war -, an dem sich entscheidende Schlachten schlagen lassen.
Als sich das transnationale Kapital vom Staat emanzipierte, hörte es auch auf, sich selbst staatsförmig zu organisieren. Wirtschaftsimperien werden nicht mehr durch Befehlsketten strukturiert, sondern in kleinste Bestandteile zerlegt, die nur noch der Logik des nomadisierenden Geldes genügen. Man fügt sie zu wechselnden "Netzwerken" zusammen und beherrscht sie weniger durch Chefs als durch vorgegebene Arbeits- und Produktionsziele. Dabei werden Konzernabteilungen zu "Zulieferern", Arbeiter zu scheinselbständigen Unternehmern. Dass besonders diese innere Entstaatlichung den Klassenkampf schwächt, liegt auf der Hand, denn je mehr ein Arbeiter als Netzwerk-Kreativer oder Scheinunternehmer für sich selbst arbeiten muss, desto weniger kann er sich als Glied einer Arbeiterklasse mit einheitlichen Interessen begreifen. Er müsste den Klassenkampf nicht zuletzt gegen die eigene und doch fremdgesteuerte Selbstkontrolle führen.
Gorz zeigt, dass diese Tendenzen nicht etwa auf ein "Ende der Arbeitsgesellschaft" hinauslaufen. Denn was zu Ende geht, ist gerade nicht die gesellschaftliche Integration durch Arbeit, vielmehr die Integration in die Klasse. Die war nämlich das Gesellschaftliche, in das Arbeiter sich vormals einfädelten. Wenn die Arbeiterklasse heute in den Netzwerken versickert, so dass der Begriff Klassengesellschaft einen Teil, und zwar den sichtbaren Teil seines Realitätsgehalts verliert, dann kann eine "Arbeitsgesellschaft", wie Max Weber sie thematisierte, allenfalls erst beginnen. Denn Weber hatte ja eigentlich nur belegt, dass die Unternehmer der "Arbeitsethik" frönten. Die Arbeiter mussten stattdessen diszipliniert werden. Das heißt eben, man musste sie mit staatlicher Logik beherrschen. Sie waren eine befehligte, zum Meutern neigende Arbeitsarmee. Kein Wunder, dass ihr Tun und Lassen vielfach an römische Prätorianergarden erinnerte. Wer aber heute scheinselbständig ist, wäre ohne Arbeitsethik allerdings verloren. Religiöser, "protestantischer" Sinn, wie Weber ihn unterstellte, ist damit übrigens nicht mehr verbunden. Arbeitsethik ist heute allein schon deshalb nötig, weil sie den Zugang zur Konsumteilnahme verschafft.
Die schwindende Bedeutung des Klassenkampfs hatte Gorz schon 1980 in Abschied vom Proletariat hervorgehoben. Aber damals konnte er noch ein Kollektiv durch ein anderes Kollektiv relativieren: Die Rolle des geschwächten Proletariats übernahmen die neuen sozialen Bewegungen. Diese waren zwar schon damals, und nicht nur von Gorz, als Kollektive von Individualisten begriffen worden. Ihr Individualismus änderte aber noch nichts an ihrer politischen Handlungsfähigkeit. Die ist es, auf die Gorz einerseits heute noch hofft, deren Bedrohtheit ihm aber inzwischen immer deutlicher wurde. Denn während das Kapital mit seinen heutigen "Netzwerken" den Individualismus der Bewegungen noch zu überbieten scheint, raubt er ihm zugleich die emanzipatorische Potenz. Und doch fragt Gorz unverdrossen, wie die nur scheinbar freiere Organisation des neuesten Kapitals zur wahren Emanzipation gewendet werden könnte. Hier wird ihm nun die Frage des "Wissens" zentral. Dass "Netzwerke" an die Stelle von Befehlsketten treten konnten, ist nämlich nicht zuletzt dem Internet zu verdanken. Dieses lässt sich kaum kapitalistisch beherrschen. Es wird aber zum entscheidenden Produktionsmittel. So scheint es, als werde die Basis ökonomischer Herrschaft immer prekärer. Arbeit am Computer bedeutet für Gorz, dass der Unterschied von Arbeit und Kapital tendenziell verschwindet, Arbeiter selbst zu Inhabern ihres eigenen "Wissenskapitals" werden. Eben auf dieser Grundlage macht man Arbeiter zu scheinselbständigen Netzwerk-Unternehmern. Dieselbe Grundlage eröffnet ihnen aber auch Möglichkeiten echter Selbständigkeit. Zum Beispiel wird durch die allgemeine Digitalisierung "das Potential der Kooperationsringe unablässig vergrößert".
Am Ende freilich läuft das Buch von 1997 auf die Frage hinaus, ob das Kapital nicht auch dieses emanzipatorische Wissen wieder aushöhlen und einfangen könnte. Wir werden im Nachwort plötzlich gewarnt: "Mit der Abschaffung der Arbeit treibt das Kapital die Abschaffung des Menschen selbst voran". Der Computer ermöglicht mehr Kooperation, er kann aber auch menschliche durch virtuelle Welten ersetzen. Damit ist das Thema von Wissen, Wert und Kapital (2003, deutsch 2004) entstanden. Und hier geschieht es, dass Gorz eine ganz neue Schwierigkeit sieht: Der Computer verändert die Wissensproduktion doch nur formell, indem er bestimme Methoden vereinfacht, ihre Anwendung beschleunigt und allgemein zugänglich macht; kann man auf emanzipatorische Folgen dieser Veränderung hoffen, ohne ihren Inhalt geprüft zu haben? Das kann man nicht.
Gorz fragt nach dem Wissensinhalt, der sich in der formellen Computer-Methodik selber niederschlägt - was nichts anderes heißt, als dass er der wissenschaftlichen Entwicklung, die auf den Computer hinausgelaufen ist, eine Finalität zuschreibt. Und zwar hebt er ähnlich wie einst Lewis Mumford hervor, die Wissenschaft habe dem Kapital den Weg geebnet durch Ausklammerung der sinnlichen Anschauung. Da sie abstrakt sei, hänge ihr "der Traum einer äußersten Grenzenlosigkeit an, eine Phantasie von Freiheit als der völligen Befreiung von aller Stofflichkeit", d.h. vom Planeten und seinen Bewohnern. Da tritt der Computer in einer gar nicht mehr emanzipatorischen Rolle auf: "Das Projekt Künstliche Intelligenz/Künstliches Leben soll die biologische Begrenztheit des Menschen beseitigen." Die biologische Begrenztheit des Menschen ist sein Körper. Der soll beseitigt werden? Gorz macht dagegen geltend, dass Intelligenz, wie man den Begriff bisher verstand, sich "nur durch die eigensinnige Verfolgung eines Ziels" entwickle, Eigensinn aber nur in verkörperter Form vorkomme. Intelligenz sei von körperbedingten Affekten untrennbar.
Die Frage, ob der Computer emanzipatorisch oder antiemanzipatorisch genutzt wird, hat sich in die Frage "körperliche oder Maschinenintelligenz" verwandelt. Da Gorz sie so stellt, stößt er auf Phänomene, vor denen andere Sterbliche beharrlich die Augen verschließen, obwohl sich jedermann ganz leicht über sie informieren könnte. Darin, dass Gorz die Information nicht unterdrückt, vielmehr wie eine Rechnung präsentiert - wahrscheinlich wohl wissend, dass schon die Rezensenten sie wieder totschweigen würden -, liegt die größte Bedeutung dieses Buches. Wir hören: Forscher im Umkreis der NASA, durchweg die Elite der amerikanischen Universitäten, an denen sie arbeiten, haben sich ein Weltbild zurechtgelegt, wonach die biologische Evolution des Menschen eine Sackgasse sei. Im Lauf unseres Jahrhunderts schon werde die Welt von intelligenten Maschinen beherrscht sein. Die Macht einer winzigen Elite, die die Maschinensysteme überschaut, über den Rest der Menschheit werde absolut sein. Sie habe die Wahl, diesen Rest entweder auszulöschen oder zu Haustieren zu machen. Manche sagen einen Krieg der Roboter gegen die Menschen voraus und "wählen" opferbereit "ihr Lager", weil die menschheitliche Aufgabe eben nur darin bestanden habe, Maschinen zu erschaffen; damit sei sie dann auch erschöpft.
Man mag das für wahnwitzige Phantasie halten. Aber dass es schon heute Roboter gibt, die sich von Insekten ernähren, war kürzlich der FAZ zu entnehmen. Das heißt ja nichts anderes, als dass schon heute auch Maschinen möglich sind, die so lange selbsttätig "existieren" könnten, wie es Menschenfleisch gibt, das sie sich holen würden. Man braucht sie nur stark wie Panzer, wie Kruppstahl zu machen, damit sie den Menschen wirklich überlegen sind. Ob nun an Intelligenz oder woran sonst, ist eine rein akademische Frage. Aus seiner Sicht fasst Gorz zusammen: "Die Wissenschaft verwirklicht ihr ursprüngliches Projekt: Sie befreit sich von der Menschengattung." Sicher geht diese Verallgemeinerung viel zu weit. Es führt zu nichts, "die" Wissenschaft für ein solches Projekt verantwortlich zu machen. Aber jedenfalls hat Gorz es sich nicht ausgedacht. Es ist übrigens, wie er erwähnt, auch von einem Mann wie John Desmond Bernal vorausgesagt worden, dem britischen Physiker, Träger des Lenin-Ordens und der US Medal for Freedom, dessen Buch über die Geschichte der Naturwissenschaft so viele Bücherschränke der 68er Generation ziert.
Aber hat er mit all dem nicht sein Thema, die Ökonomie, verfehlt? Keineswegs. Gorz schreibt nach Marx´ Vorbild in der Perspektive einer neuen Ökonomie, die nicht wie ein Stein auf die Menschen fällt, sondern von ihrer Wahlentscheidung abhängig ist. Soll unsere Produktion losgelöste Maschinenintelligenz schaffen oder die Mühsal unserer verkörperten, affektbesetzten Intelligenz erleichtern? So konkret stellt sich heute die Frage der gesellschaftlichen ökonomischen Planung. Im übrigen mag die Ähnlichkeit der Themen: Ersatz der Arbeitsplätze durch Maschinen und Ersatz der Menschen selber durch Maschinen, kein reiner Zufall sein.
André Gorz: Arbeit zwischen Misere und Utopie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, 208 S., 16,80 EUR
André Gorz: Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie, Rotpunkt, Zürich 2004, 133 S., 15,50 EUR
Der Aufsatz Wa(h)re Arbeit, eine Art Offener Brief von Gorz an Oskar Negt, aufgenommen in: Tatjana Freytag/Marcus Hawel (Hg.), Arbeit und Utopie. Oskar Negt zum 70. Geburtstag, Humanities Online, Frankfurt am Main 2004, 289 S., 12 EUR, ist so etwas wie eine Kurzfassung beider Bücher.
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