In den Vereinigten Staaten nimmt eine Doktrin Konturen an, die den europäischen Regierungschefs schlaflose Nächte bereiten müsste. Sie ist zwar noch nicht ausdrücklich und zusammenfassend vom amerikanischen Präsidenten verkündet worden. Bisher werden nur Einzelheiten offiziell formuliert. So hat Präsident Bush seinem Land im Fall der Gefahr, andere Länder könnten möglicherweise ABC-Waffen entwickeln, das Recht auf Präventivkriege eingeräumt. Von Mitgliedern der US-Regierung hören wir, die Gefahr gehe von Irak, Iran und Kuba aus. Ferner glaubt Bush sich befugt, darüber mitzuentscheiden, wer in einem anderen Land Regierungschef sein darf. Er hat nicht nur Saddam Hussein, sondern auch Yassir Arafat quasi das Entlassungsschreiben ausgefertigt. Die dritte Einzelheit ist das Gesetz des amerikanischen Kongresses, wonach die US-Army berechtigt sein soll, ihre Soldaten mit militärischer Gewalt zu befreien, wenn diese als Angeklagte vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag stehen. Weil die Europäer einen solchen Militärschlag natürlich nicht wollen, haben sie den Amerikanern schon zugestanden, dass in den nächsten zwölf Monaten auf keinen Fall ein US-Soldat angeklagt werden darf.
Wir sehen nur diese Einzelheiten, und sie sind so schockierend, dass bei vielen die Lust am Nachdenken erstirbt. Aber es lässt sich doch angeben, worin die noch unverkündete Doktrin im Ganzen besteht. Denn der Hintergrund, aus dem die Einzelheiten herausspringen, wird in den USA ganz offen kommuniziert. So von Professor Andrew J. Bacevich, der an der Boston University Internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik lehrt; sein Beitrag über das "American Empire" wurde am 30. Juli von der Süddeutschen Zeitung verbreitet. Bacevich gibt einen Bericht von den Ansichten "führender Meinungsmacher" seines Landes. Der Ausdruck "amerikanischer Imperialismus" sei kein Schimpfwort mehr. Man könne ja nicht alle imperialen Mächte über einen Kamm scheren. Der europäische Imperialismus des 19. Jahrhunderts habe seine Rechtfertigung in dem Bestreben gesehen, die westliche Zivilisation zu verbreiten und die Heiden zu bekehren beziehungsweise ihnen die Aufklärung nahe zu bringen. Das Ziel der Amerikaner sei jedoch die Freiheit. Weshalb das besser sein soll, erfahren wir nicht.
Bacevich zeigt dann den religiösen Charakter des amerikanischen Ansinnens und belegt ihn mit zahlreichen historischen und zeitgenössischen Äußerungen. "Tatsächlich sahen sich die USA seit Gründung der Republik als Neues Jerusalem, vom Himmel gesandt." Amerika sei das irdische Zion, das der Menschheit auf ihrer Pilgerreise zur Vollendung helfe, einer Vollendung, die nicht im ewigen Leben, sondern eben in der Freiheit bestehe. Als die Berliner Mauer fiel, war freilich "aus dem Neuen Jerusalem schon lange das Neue Rom geworden". Die Rede vom "heiligen Feuer der Freiheit" (George Washington) sei nämlich nicht altruistisch gemeint, sondern diene amerikanischen Interessen, wie man sie aus den Verhandlungen in NATO und Weltsicherheitsrat, IWF und Weltbank kenne. Heute gehe es um die umfassende Durchsetzung dieser Interessen. Die Bush-Regierung nutze den Krieg gegen den Terror, um "so etwas wie ein Referendum zu veranstalten, das die globale US-Vormachtstellung bestätigen soll". Wehe der Nation, die dazu nicht bereit sei! Sie müsse damit rechnen, das Los der "Schurkenstaaten" zu teilen.
Man fragt sich, ob das Recht, im Namen der Freiheit zu sprechen, den europäischen Staaten nicht ebenso zusteht wie den USA. Sie dürfen die Realität der neuen Doktrin nicht länger verdrängen. Vielmehr fordert die Vorbereitung des Angriffskrieges gegen den Irak eine entschlossene Reaktion. Denn er wäre der Schritt, die Doktrin faktisch in Kraft zu setzen. Das ist die große Differenz, die diesen Krieg vom Krieg in Afghanistan scheidet. Letzterer gehört noch in eine bekannte Reihe von US-Militärschlägen seit dem Zweiten Weltkrieg: Aus der "westlichen Hemisphäre" heraustretend, suchten sie auch Gebiete in Asien und Afrika heim. Das waren Schläge, deren Charakter aus heutiger Sicht darin bestand, dass die amerikanische Politik sie noch - oft mit Erfolg - völkerrechtlich zu legitimieren versuchte. Nachdem dieses Kleid im Kosovo-Krieg erstmals abgestreift wurde, warf man es sich im Afghanistan-Krieg doch noch einmal über. Nun ist es eine Sache, die Legitimation dieses noch andauernden Krieges zu bezweifeln. Es gibt viele gute Gründe, das zu tun. Aber heute steht mehr auf dem Spiel, weil beim bevorstehenden Irak-Krieg Legitimation gar nicht mehr angestrebt wird. Beim Kosovo-Krieg wurde noch eine Ersatz-Rechtfertigung durch die Zustimmung der anderen NATO-Mitglieder für nötig gehalten. Heute wird selbst diese Maske abgeworfen. Ein nacktes Tier, das sich das "Neue Rom" nennt, will aus dem Atlantik steigen.
Das Tier muss unter Wasser bleiben. Deshalb ist es gut, dass der Irak-Krieg zum Wahlkampfthema geworden ist. Denn viele bemerken jetzt die Gefahr und sehen auch, wie die Politiker mit ihr umgehen. Westerwelle will sie nicht wahrhaben. Wolfgang Schäuble, der Außenpolitiker in Stoibers "Kompetenzteam" stellt jetzt schon die deutsche Kriegsteilnahme in Aussicht. Die Äußerungen des Kanzlers sind erfreulicher. Es reicht aber nicht, wenn er nur wieder hören lässt, seine Solidarität mit Amerika schließe nicht die Bereitschaft zu Abenteuern ein. Den Irak-Krieg ein "Abenteuer" zu nennen, als wäre Präsident Bush nur ein Cowboy mit lockeren Colts, ist eine Verharmlosung. Aus den USA droht etwas Anderes: Imperialismus. Und wenn Schröder gar einen "deutschen Weg" gegen die Gefahr aufbietet, liegt er ganz daneben. Zunächst hatte er eine koordinierte europäische Reaktion erreichen wollen. Das war angemessen. Denn "Deutschland" tut hier gar nichts zur Sache, wo es, wie gesagt, darum geht, im Namen der Freiheit zu sprechen. Die EU muss sich äußern. Sie muss eine Form finden, das notfalls auch gegen Tony Blairs Widerstand zu tun. Wünschenswert wäre eine feierliche Erklärung, in der die europäischen Regierungschefs das Völkerrecht bekräftigen - das Recht auch Saddam Husseins, Fidel Castros und Yassir Arafats, an diesem gemessen zu werden statt an Prinzipien einer Großraumpolitik à la Carl Schmitt.
Siehe auch in dieser Ausgabe:
William Pitt: Der entscheidende Schlag wurde bereits geführt
Im Gespräch mit Gerd Weisskirchen: Sassam Hussein ist keine Friedenstaube
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