Grüne „Das haben wir schon lange gesagt.“ Stimmt. Doch erst jetzt kann die Partei wirklich Braintrust der Gesellschaft werden. Konfrontation ist aber weiterhin nötig
Wenn die Grünen am Wochenende über Angela Merkels Atomausstieg streiten, steht weit mehr zur Debatte. Die Frage, ob Merkels Gesetze in der Sache zustimmungsfähig sind, stellen sich zwar alle. Doch die einen fragen zusätzlich, wie die Grünen ihre neu gewonnene Reputation bei der Anti-Atom-Bewegung wahren können, und die anderen, auf welchem Weg man zu Deutschlands führender Partei wird. Die Frage, was denn nur aus den Grünen werden soll, nachdem die Kanzlerin ihnen ihr liebstes Thema „weggenommen“ habe, stellt niemand; sie wäre nicht intelligent. Denn der Atomausstieg steht paradigmatisch für ökologische Probleme überhaupt, die uns in Zukunft nicht weniger, sondern immer mehr beschäftigen werden. Daher wird der Sat
Satz „Das haben wir schon lange gesagt“ noch oft wiederholt werden können.Jürgen Trittin steht er ins Gesicht geschrieben. Das ist nicht klug; es kommt besser an, wenn man bescheiden auftritt. Aber der Satz ist wahr. Er wird sich zum Beispiel demnächst an kommenden Ölkrisen bewähren. Wenn „Peak Oil“ überschritten wird, Ölteuerung und Weltwirtschaftskrise zusammenfallen – ein Szenario, das seit Jahren vorausgesagt wird –, wird man sich da nicht erinnern, dass die Grünen den Umstieg in erneuerbare Energien seit noch viel längerer Zeit fordern? Diese Partei hat die Chance, sich als Braintrust der Gesellschaft dauerhaft zu etablieren. Auf lange Sicht kann es da auch nicht ausbleiben, dass sie Spitzenpolitiker von Format hervorbringt.Ein Lob Richtung MustopfDer gewaltige Auftrieb, den die Grünen durch die Atomkatastrophe in Japan erhalten haben, gibt denen Rückenwind, welche die Partei hegemonial machen wollen. Es steht zu erwarten, dass ihre Fragestellung den Sonderparteitag beherrscht. Das heißt, der vor einer Woche veröffentlichte Leitantrag wird sich durchsetzen. Er beschreibt penibel die Schwächen der Merkelschen Gesetzentwürfe, um dann aber doch zu dem Schluss zu kommen, die Grünen sollten dem öffentlichkeitswirksamen Hauptpunkt der Merkel-Politik, dem Ausstieg bis 2022, die Zustimmung nicht versagen. Tatsächlich spricht viel für diese Empfehlung. Auch wenn schon 2017 ausgestiegen werden könnte, durchsetzen lässt es sich jetzt ohnehin nicht. Die Grünen können 2017 fordern und dennoch 2022 mittragen. Ein eingeschränktes Lob für Parteien, die endlich aus dem Mustopf kommen, ist eine wahrhaft hegemoniale Geste.Der Leitantrag war von Vorstandssprecherin Claudia Roth vorgestellt worden. Wie sie einerseits für eine Politik plädiert, die Unionswähler nicht vor den Kopf stößt, tritt sie andererseits gegen eine unkontrollierte Öffnung zur Mitte auf. Tatsächlich wird der wichtigste Streit zwischen verschiedenen Befürwortern des hegemonialen Wegs ausgetragen. So hat Boris Palmer, der Tübinger Bürgermeister, kürzlich in einem Strategiepapier gefordert, für eine Politik, die mehr Menschen ansprechen soll, müsse das Parteiprogramm geändert und ein „inhaltlicher Preis“ gezahlt werden. Dagegen wendet sich Roth, wenn sie in ihrem Strategiepapier unterstreicht, dass Grüne „den grünen Weg weitergehen“ und sich „nicht anbiedern“ sollen. Eine ausführliche innerparteiliche Analyse der Wahl in Baden-Württemberg gibt ihr recht. Die Statistiken zeigen plausibel, dass es wichtig war, gegen die Union entschieden aufzutreten.So konnte nicht nur das rot-grüne Wählerreservoir mobilisiert werden; vor allem wurden viele Nichtwähler für die Politik zurückgewonnen. Und doch gelang auch die Ausstrahlung ins Unionslager hinein. Die Grünen gewannen von der schwarzgelben Koalition so viele Wechselwähler (20 Prozent) wie von der SPD (19 Prozent). Die Analyse führt das nicht zuletzt auf die Figur Kretschmanns zurück. Aber man kann grundsätzlicher antworten. Wie gewinnt man Wechselwähler einer gegnerischen Partei? Indem man ein Ende der Gegnerschaft signalisiert? Ganz und gar nicht. Als Willy Brandt Kanzler wurde, hatte er Grundpositionen der Union entschieden bekämpft: Mangel an Liberalität und fehlende Bereitschaft zur Entspannungspolitik. Gerade deshalb liefen bisherige Unionswähler zu ihm über. Über genau diese Fragen hatten sie nämlich auch nachgedacht und ließen sich nun von neuen Argumenten überzeugen. Dieser Rückblick zeigt, wie die Grünen sich verhalten müssen: Empathie und Konfrontation, gleiche Problemsicht und verschiedene Lösung gehören zusammen.Der Rückblick zeigt aber auch, dass heute eine viel dramatischere Wende möglich ist, als es die von 1969 war. Denn das Thema Ökologie ist nicht irgendeine Überschneidung von Problemsichten. Ein kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen veröffentlichter Essay legte dar, Ökologie werde zur „neuen Religion“: Wenn daran etwas sein sollte, würde es die Union im höchsten Maß betreffen. Als Teil der Familie europäischer christdemokratischer Parteien hatte sie immer zu denen gehört, die eher klassisch konservativ als christlich gesonnen waren. Der englische Politologe David Hanley zeigte schon vor Jahren das Dilemma dieser Parteien: Diejenigen, bei denen das „C“ im Namen etwas bedeutete, wurden durch die Wende zum Neoliberalismus von Auflösung bedroht oder tatsächlich ereilt; die klassisch konservativen, allen voran die deutsche, übernahmen die neue Doktrin fast ohne Bauchschmerzen. Doch so sehr sie das „C“ hintanstellten, bezeichnete es weiter eine konstitutive Parteisäule.Gründerzeit und GoldwaageTrotz aller Hinweise auf Gottes Schöpfung, die erhalten werden müsse, war Ökologie nie ein naturgegebenes Überschneidungsthema von Union und Grünen. Sich gegen die Aufnötigung des Themas zu wehren, konnte der Union aber nicht gelingen. Und einmal eingepflanzt, aktiviert es in ihr eine Bruchlinie. Gerade der Umstand, dass Ökologie nur religionsähnlich ist, führt zu unkontrollierbaren Interferenzen: Wenn christlich gesonnene Wähler sich den Grünen öffnen, bleiben sie dennoch bei ihrer eigenen Sache, die sie nun erst entdecken; ihrer Partei noch treu, befremdet sie zunehmend das Verhalten ihrer Parteiführung. Mit einem Wort, die Grünen treffen diese Partei in ihrem Selbstverständnis, was der SPD nie gelang und gar nicht gelingen konnte. Zu welchen überraschenden Entwicklungen das noch führen mag, ahnt jeder, der in den letzten Wochen die FAZ las. Da wird nicht mehr nur eine Koalitionsoption für die Grünen offen gehalten, sondern man fordert die Union unverblümt auf, das Bündnis mit der FDP schnellstmöglich zu beenden. Wenn Kretschmann ein Wort fallen lässt, wie das von der „neuen Gründerzeit“, wird es auf die Goldwaage gelegt und zum Gegenstand ausführlicher Exegese.So sind die Aussichten der Grünen gut, obwohl Rückschläge nicht ausbleiben werden. Denn so sehr sie jetzt Wähler anziehen, wird nach wie vor den „Volksparteien“ mehr Wirtschaftskompetenz zugeschrieben. Die neuen Wähler folgen den Grünen auch deshalb, weil sie immer noch glauben, die Wirtschaft sei schon aus der Krise heraus. Wenn dieser Glaube bröckelt, haben erst einmal Politiker wie Steinbrück ihre Stunde. Doch die Zeit wird kommen, wo man Wirtschaftskompetenz an der Vorsorge für „Peak Oil“ misst.
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