Auf halbem Wege in ein Wellengrab

DAS EUROPÄISCH-AMERIKANISCHE VERHÄLTNIS NACH DEM 11. Teil II - Mit Captain Ahab in einem Boot

SEPTEMBER

Der erste Teil (Freitag, 4. 1. 2002) erinnerte an Lenins Erklärung des Zustandekommens imperialistischer Kriege: Im Kapitalismus kann ein gestörtes ökonomisches Gleichgewicht durch "Krisen in der Industrie und Kriege in der Politik" wiederhergestellt werden. Wenn man diese Überlegung nicht für verrückt hält, gibt es keinen Grund, sie nicht auch auf das Verhältnis zwischen den USA und der EU anzuwenden. Man muss deshalb von den europäischen Regierungen zwar klare Kritik an den USA verlangen, aber auch, dass sie es nicht zu einer Eskalation von Spannungen zwischen den Kontinenten kommen lassen. Eine europäische Distanzierung vom atlantischen Militärbündnis wäre unter solchen Umständen keineswegs eine Friedenspolitik. Im günstigsten Fall wird eine Zeit kommen, in der europäische und nordamerikanische Eliten gemeinsam aus der ungerechten kapitalistischen Ordnung auszusteigen versuchen. Doch das setzt voraus - so schloss Teil I -, dass sie ihre kulturelle Differenz als Problem erkennen und sich mit ihr auseinandersetzen.

Seit dem 11. September neigen viele Beobachter dazu, die Kulturdifferenz der Kontinente in religiösen Termini zu beschreiben. Europäern fällt das christliche Gepränge im Wortschatz, ja in der Haltung des US-Präsidenten auf. Solchen Europäern ist aber oft schon die Kenntnis über das Christentum ausgegangen, so dass sie im Ernst kaum wissen können, worüber sie da eigentlich reden. Um Genaueres über die Kulturdifferenz und das Religiöse daran zu erfahren, wollen wir zunächst einen Theologen zu Rate ziehen: Jürgen Moltmann.

Er sieht christliches Gepränge nicht nur im Wortschatz, sondern in der Haltung amerikanischer Politik seit Jahrhunderten. Aber er betrachtet es als angemaßt. In Moltmanns Augen haben die USA sich selbst die Rolle des Messias zugeschrieben, die nach der christlichen Religion, auf die sie sich berufen, nur Jesus Christus zukommt. An dieser Anmaßung nehmen Republikaner wie Demokraten teil: "Präsident Woodrow Wilson versicherte, dass Amerika ›das grenzenlose Privileg habe, seine Bestimmung zu erfüllen und die Welt zu retten‹. John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson beschworen den ›messianischen Glauben‹ der Vorväter. Richard M. Nixon bestand darauf, dass ›unser Glaube mit Kreuzzugseifer erfüllt werden müsse, um die Welt zu verändern und die Schlacht um die Freiheit zu gewinnen‹. Bill Clinton rief 1993 aus: ›Unsere Hoffnungen, unsere Herzen, unsere Hände sind mit allen Menschen auf jedem Kontinent, die Demokratie und Freiheit bauen. Ihre Sache ist die Sache Amerikas.‹"

Die Mayflower

Dieser "politische Messianismus" usurpiert aber zugleich die Heilsformeln der vorchristlichen hebräischen Bibel, indem er das amerikanische Dasein in ständiger Bewegung und zwar der des Exodus sieht. Für den Ursprung der amerikanischen Gesellschaft ist diese religiöse Konnotation ja evident: die "Pilgerväter" selbst, die einst das Schiff Mayflower bestiegen, um ihren puritanischen Glauben in Nordamerika frei ausleben zu können, verglichen ihre Aktion mit dem Auszug der Israeliten aus Ägypten und zugleich mit der Himmelfahrt. Sie sind sich von daher als das neue auserwählte Volk erschienen, diagnostiziert Moltmann. Die Idee des auserwählten Volkes wurde später "zum Begriff des ›bevorzugten Volkes‹ und seiner gottgegebenen Erfolge verwandelt".

Seitdem die Amerikaner ihre politische Unabhängigkeit erkämpft hatten, sahen sie ihren Kontinent als die Region des Friedens, dem das alte Europa als Kontinent der unaufhörlichen Kriege gegenüberstand. Sie hatten damit, wie sie glaubten, eine der elementaren jüdisch-christlichen Verheißungen eingelöst. Diese Überzeugung steht hinter der Proklamation der Monroe-Doktrin, die den kriegerisch verderbten Europäern das Recht abspricht, sich in die Belange der "westlichen Hemisphäre" einzumischen. Der emphatische Begriff "des Westens" als einer höheren Welt nimmt hier seinen Ausgang. Man wundert sich zunächst, wie so viel "Friedlichkeit" mit dem internen Völkermord an den Indianern verträglich sein kann. Doch die Indianer, so Moltmann, erinnerten die Zuwanderer an die Ureinwohner Kanaans, die dem Baalskult frönten und deshalb vertrieben werden mussten, gerade damit ein Land des Friedens entstehe.

Die gleichzeitige Bezugnahme auf christliche und vorchristlich-jüdische Verheißungen ist auffällig, erklärt sich aber leicht: Hier war ein "Volk Gottes", das sich nicht mehr nur als Kirche von anderen Teilen ein und derselben Gesellschaft, sondern als Nation von den anderen Nationen unterschied - genauso wie das bis dahin nur die jüdische Nation getan hatte. Und es kam hinzu, dass die Überfahrt der Mayflower tatsächlich eher dem jüdischen Exodus als der christlichen Himmelfahrt ähnelte. Bis ein John F. Kennedy die Übersteigung "neuer Grenzen" nicht mehr im Treck nach Westen, sondern tatsächlich in den Himmel (oder jedenfalls in den Weltraum) hinein verhieß, vergingen ja noch Jahrhunderte. So musste es gerade im Ursprung der amerikanischen Gesellschaft zur Überlagerung des christlich geprägten Messianismus mit der Symbolik der jüdischen Nationalreligion kommen.

Es ist aber doch ein dem Christentum und nicht dem Judentum entlehnter Messianismus, der als solcher notwendig die Kehrseite hat, eine Endzeit heraufzubeschwören. Die christliche Endzeit ist die "letzte Stunde" der Welt, in der die Kirche aufgerufen ist, alle Völker zu missionieren, um sie auf den Anbruch des Reichs Gottes vorzubereiten. Diese eschatologische Komponente begann sich erst am Ende des 19. Jahrhunderts auszuwirken, als die USA in die imperialistische Epoche eintraten. Sie gaben Schritt für Schritt ihre Isolation auf und sahen sich berufen, der Welt das Vorbild und den Maßstab von Frieden und Freiheit zu geben. Wenn sie dann von der "Demokratie" sprachen, konnten andere, egal ob sie es begrüßten oder nicht, darin nichts Religiöses erkennen. Aber es war doch auffällig, dass die Amerikaner es im Versuch, ihren Missionsweg zu gehen, stets gleich mit "dem Bösen" zu tun hatten. Gegen "das Böse" mussten "Kreuzzüge" geführt werden. Darunter machten sie es nicht. Sie selbst waren unschuldig! John Adams schrieb 1813 an Thomas Jefferson, es würden Jahrhunderte vergehen, "bevor wir verderbt (corrupted) sein werden". "Von den ›Western‹ bis zu den ›science-fiction movies‹ wird dieses dualistische und apokalyptische Bild der Geschichte verbreitet", schreibt Moltmann.

Die religiöse Konnotation verschwand nie, auch wenn sie nicht stets so krass hervortrat wie beim US-Präsidenten Ronald Reagan, der die endzeitliche Schlacht von "Harmaggedon" heraufziehen sah. Moltmann sieht auch hier die Anleihe bei der jüdischen Tradition: Amerikanische Kreuzzüge zielen immer auf die völlige Ausschaltung des Gegners, so wie die Truppen des Pharao nicht bloß geschlagen, sondern vernichtet worden sind. Kriegsgegner können nicht hinterher zu Freunden werden, wie es in der klassischen europäischen Diplomatie der Fall gewesen war, weil sie - eben nicht nur wenn sie bin Laden, sondern auch wenn sie Milos?evic´ heißen - dem auserwählten Amerika gegenüber ein für alle Mal als Kriminelle dastehen.

Die Pequod

Soweit Moltmann. Er glaubt wie viele andere, die amerikanische Politik fasse sich selber als christlich auf, obwohl sie das Christentum in Wahrheit pervertiere. Indessen könnte man sie auch ganz anders, geradezu entgegengesetzt interpretieren, nämlich als ein ganz und gar nihilistisches Experiment. Ein Präsident Bush mag christliche Wortmarken verwenden, aber das tat auch Helmut Kohl, ohne dass deshalb jemand auf die Idee gekommen ist, den Kohlschen Neoliberalismus auf einen im Kanzleramt ansässigen christlichen Glauben zurückzuführen. Moltmann selbst bringt uns auf die Spur. Er sagt, ihm und anderen erscheine der 1851 veröffentliche Roman Moby Dick als der amerikanische Mythos schlechthin: "Der weiße Wal ist das Urbild des Bösen und Captain Ahab der tragische Held. Der messianische Traum Amerikas wird zum tragischen Mythos. Das macht die Tiefe dieser Dichtung aus." Die Welt des Romandichters Herman Melville ist jedoch eine gottlose. Ahab jagt den Wal, der ihm ein Bein abgesäbelt hat, weil der Wal einen ganz trostlosen, unausweichlichen Tod verkörpert. "Für mich", lässt Melville ihn sagen, "ist dieser weiße Wal die Mauer, dicht vor mich hingestellt. Dahinter, denk ich manchmal, ist nichts mehr. Gleichviel, genug damit. ... und ob der weiße Wal nun Werkzeug oder ob der weiße Wal der Urheber von allem ist, ich werd mit diesem Hass ihn überziehen. Sprich du mir nicht von Gotteslästerung, Mann; ich würde selbst die Sonne schlagen, wenn sie mich beleidigt."

Schrecklich ist es, dass wir Ahabs Rachedurst nach dem 11. September so leicht wiedererkennen. Erst als das Schiff schon auf See ist, ruft der Captain die Mannschaft zusammen und überrascht sie mit dem Hinweis, sie sei das Werkzeug seiner Rache: "Aye, aye, und ich werd ihn ums Kap der Guten Hoffnung hetzen und auch ums Horn herum und um Norwegens Mahlstrom und durch die Flammen der Verdammnis, eh ich die Jagd verloren gehe. Und, Männer, das ist es, wofür ihr angeheuert habt! Diesen weißen Wal zu jagen, auf beiden Ozeanen, in allen Winkeln der Welt, bis schwarzes Blut er bläst und tot im Wasser treibt." Ist das nicht der Gestus, mit dem Präsident Bush nach den Anschlägen vor die Kameras getreten ist, um zu sagen: Wir werden sie jagen bis in die letzten Schlupfwinkel... Und fand sich nicht die ganze NATO, die wahrlich Anderes im Sinn hatte, als sie einst "anheuerte", vor eine ganz ähnliche Überraschung gestellt wie Ahabs Mannschaft?

"Exodus" ist vielleicht gar nicht das passende Vokabel, um die amerikanische Erlöser-Haltung wirklich aufzuschlüsseln. Es kann sich um einen Auszug ganz nihilistischer Art handeln, der einfach darin besteht, jede jemals gegebene Schranke um jeden, aber auch jeden Preis übersteigen zu wollen. Dann wäre "Exodus" nur ein anderes Wort für ein unbedingtes menschliches Streben nach Unendlichkeit, das uns genauso gut in christlicher wie in "säkularisierter" Verwendung begegnet. Wer wollte dafür bürgen, dass es noch einen christlichen Sinn hatte, als Präsident Kennedy seine Nation vor vier Jahrzehnten dazu aufrief, "new frontiers", neue Grenzen zu überschreiten - worunter er nicht nur den Sieg über den Hunger auf der Erde, sondern auch den Weg in den Weltraum verstand? Wenn das ein "Exodus" ist, dann führt er jedenfalls nicht mehr aus einem irdischen Pendant dessen, was Ägypten für die hebräische Bibel bedeutete, heraus, da vielmehr die Erde selber das zu Verlassende geworden wäre. Und kein irdisches Pendant zu Kanaan, dem Gelobten Land, wäre das Ziel dieses "Exodus", der vielmehr ganz ziellos geworden ist. Denn von jedem Ziel, kaum erreicht, ist man schon unterwegs zu neuen Zielen.

Eben diese vollkommen nihilistische Bewegung hat Melville als Bewegung des Walfängerschiffes Pequod metaphorisch dargestellt. Zu seiner Zeit war noch der Ozean die Metapher des Alls als eines leeren Himmels, wie auch die einschlägigen Stellen bei Friedrich Nietzsche und Richard Wagner zeigen. Krasser und unverhüllter als sie schreibt der US-Bürger Melville: "Wenn diese Welt nun eine Ebene wäre, welche nimmer endet, und wir nach Osten segeln könnten, in ewig neue Fernen schweifend, um dort zu schaun, was süßer ist und seltsamer als jede Insel der Kykladen oder die Inseln König Salomos, dann läge Verheißung in der Fahrt. Doch während wir Mysterien in der Ferne jagen, die uns im Traum erscheinen, oder wie gemartert das dämonische Phantom verfolgen, das irgendwann vor jedes Menschen Herz ersteht" - werde es Moby Dick oder bin Laden genannt - "- indes wir solche Schemen um den Erdball jagen, führen sie uns durch öde Wüsteneien in die Irre oder fluten uns auf halbem Wege in ein Wellengrab."

Es ist unser eigener Nihilismus, den wir in dieser zugespitzten Form von einem Amerikaner präsentiert bekommen wie eine Rechnung. Es ist eben dieser "Säkularismus", der die von Europa ausgegangene Kultur, die auch die Kultur der USA einschließt, vom Rest der Welt unterscheidet. In den USA erhält wie alles andere so auch der Säkularismus eine reinere, erschreckendere Form. Dass die Jagd nach dem Unendlichen zur Jagd auf ein Phantom namens bin Laden werden kann und dass sie, einmal begonnen, mit einem Allmachtswahnsinn geführt wird, der notfalls in Kauf nimmt, dass alles in Scherben fällt, das mögen wir Europäer wohltätig vor uns selbst verbergen. Jedenfalls in normalen, nichttotalitären Zeiten. Es ist aber dennoch das Resultat einer Kultur, die auf beiden Seiten des Nordatlantiks dieselbe ist. Der notwendige europäische Umgang mit den USA ist von daher vorgezeichnet. Statt die amerikanische Zuspitzung zum Vorwand einer verlogenen Abgrenzung zu machen, müssen wir sie als die Spitze des Eisbergs, der wir selber sind, anerkennen.

Das heißt: Wir müssen uns mit den USA solidarisch erklären. Wir sitzen tatsächlich mit Captain Ahab in einem Boot. Da die USA ein demokratisch verfasstes Land sind, kann unsere Solidarität die Bush-Administration, die gerade in ihrem "Anti-Terror-Krieg" von der überwältigenden Mehrheit der Amerikaner unterstützt wird, nicht ausschließen. Nur wenn wir uns darauf einlassen, haben wir unsere kleine Chance: Das, was der Verbündete verblendet zuspitzt, offen zu kritisieren. Darin unsere gemeinsame Verblendung kritisch aufzulösen. Das heißt erst einmal aufklärerisch zur Sprache zu bringen.

Wer nicht einmal bereit ist, den Captain dafür zu bedauern, dass ihm tatsächlich ein Bein abgesäbelt worden ist, ist der nicht ein Kriegstreiber? Und wer es nicht verständlich findet, dass Ahab/Bush auf den Verlust mit einer ganz trostlosen, also irreligiösen, nihilistischen Wut reagiert, ist der nicht ein Lügner? Wir würden leichter erkennen, dass es unsere eigene Wut ist, wenn es uns selbst getroffen hätte und wir über so viele Waffen verfügten wie die Amerikaner.

Die Zitate aus dem Kapitel "Politischer Millenarismus: Die ›Erlöser-Nation‹" in Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995, 192-202, sowie aus dem Roman Moby Dick von Herman Melville, neu übersetzt von Matthias Jendis, München Wien 2001.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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