Zuerst denkt man, einer Neuauflage der Volksuni beizuwohnen, die in den achtziger Jahren ihre große Zeit hatte und in den neunzigern allmählich verdämmerte. Die meisten TeilnehmerInnen sind Studierende. Viele haben an Protestaktionen gegen die neoliberale Globalisierung teilgenommen, wollen das weiterhin tun und suchen hier nach theoretischer Wegzehrung. Doch schon diese Ähnlichkeiten täuschen. Die Volksuni hatte mehreren Bewegungen, die sich bereits auf dem Höhepunkt ihrer Wirkungsmacht befanden, einen theoretischen Überbau angeboten. Nicht wenige alternative Berühmtheiten, darunter zahlreiche Professoren, hielten Lehrveranstaltungen ab, bei denen es zwar demokratisch und "systemkritisch" zuging, die aber doch Lehrveranstaltungen waren. Im Grunde wurde ein fertiger alternativer Lehrkanon weitergegeben. Die TeilnehmerInnen stellten fest, dass Lernen lustvoll sein kann. Zeitgenössische Fotos zeigen ihre glänzenden Augen. Hinter der Sommerakademie von Attac steht aber nur eine einzige Bewegung, und sie spricht zu sich selbst; Theorieangebote von außen fehlen nicht ganz, doch sind sie spärlich, und von einem Lehrkanon kann überhaupt keine Rede sein.
Die TeilnehmerInnen werden von keinem Gott noch Kaiser und nur von sehr wenigen Professoren "gerettet". Sie kommen selbsttätig in über 50 Seminargruppen zusammen, die, ganz anders als die abwechslungsreiche Volksuni, über fünf Tage jeden Vormittag um ein einziges Thema ringen. Es ist das sprichwörtliche Schiff, das sich mitten im Meer zerlegt und aus seinen einzelnen Planken neu zusammenbaut. Deshalb kann man eher an die Anfänge der Bewegung von 1968 denken.
Der Vergleich wird oft gezogen. Aber auch er trägt nicht weit. Die "68er", wie Attac gezwungen, sich selbst ohne äußere Hilfe zu belehren, wussten dann doch recht gut, auf welche Außenseiter des Wissens, von Marx über Benjamin bis Wilhelm Reich, sie zurückgreifen konnten. Für die "Attacies" gibt es solche Aha-Lektüren nicht. Dafür kennen sie aber alle Sackgassen der Nach-68er-Bewegung von der RAF bis zu den Grünen. Ist das eine Chance?
Normalerweise führt ein Neuanfang gerade nicht zu neuen Gedanken, sondern erst einmal nur zum unmittelbaren Reflex der Situation, in der man die Augen aufschlägt. Daran gemessen, war das Niveau des großen Schlusspodiums der Sommerakademie vielversprechend. Vielleicht weil auch ein Professor mit auf der Bühne saß, John Holloway von der Autonomen Universität Puebla in Mexiko? Nein, im Gegenteil. Holloway predigte in der Art des Lateinamerikaners Ernesto Laclau die radikale Trennung von Machtblock und widerständigem Volk: Zwischen "ihrer" Demokratie und "unserer" müsse man strikt unterscheiden, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Die Wurzel allen Übels sei das Repräsentationsprinzip. Auf die Frage, wie er sich denn einen demokratischen Staat vorstelle, antwortete er, ein Staat könne nicht demokratisch sein. Niemand war so unhöflich, mit der Frage nachzuhaken, wie denn auch nur die Demokratie, zu Deutsch "Herrschaft" des Volkes, demokratisch sein kann.
Einige waren von Holloway begeistert, weil er ihnen aus der Seele sprach. Wenn man eine Protestveranstaltung organisiere, sagte einer, säßen immer gleich diese potentiellen Repräsentationstypen in der ersten Reihe, die ihre Chance witterten, auf dem Rücken des Protests Parteikarriere zu machen. Das ist wirklich ein Problem. Aber was hilft es, à la Holloway darüber zu reden? Die anderen auf dem Podium widersprachen ihm. Alberto Moreira, ein brasilianischer Befreiungstheologe, stellte das Verhältnis zwischen den Bewegungen seines Landes, zum Beispiel der Landlosenbewegung, in der er sich engagiert, und der Regierung Lula so dar: Niemand habe von Lula erwartet, dass er den Sozialismus einführe. Man wolle lediglich Aktionsräume von ihm eröffnet haben. Und er solle sich deutlicher zu seiner sozialen Basis bekennen. Ihn zu verwerfen, sähen die brasilianischen Bewegungen noch keinen Grund. Als deutscher Vertreter ergänzte Thomas Seibert von Medico International, eine Gesellschaft ohne Vermittlungsprinzip, und ein solches ist die Repräsentation, würde dann wohl wieder über Familienverbände organisiert sein; dahin wolle er nicht zurück. Seine Radikalität bestand darin, den konsequenten Bruch mit Rot-Grün zu fordern. Ist das nicht genug? Außerdem warnte er die Attacies vor der Versuchung, beim Kampf gegen die Agenda 2010 den Internationalismus hintanzustellen.
Um diese Frage kreisten viele Debatten der Sommerakademie, was angesichts der Geschichte von Attac auch kein Wunder ist. 1999 in Frankreich als Bewegung für die Tobin-Steuer entstanden, galt ihr Interesse zunächst dem Kasino-Kapitalismus der internationalen Finanzmärkte. Sie gehörte zu den Gruppierungen, die im November 1999 die WTO-Tagung in Seattle zum Scheitern brachten. Die deutsche Sektion wurde 2000 gegründet. Bis heute sind ihr 12.000 Menschen beigetreten. 2001 trat Attac beim G-8-Gipfel in Genua hervor. Das war wenige Monate vor dem 11. September, der sogar viele Politiker der reichen Gesellschaften dazu zwang, die Ungerechtigkeit der Strukturen des Weltmarkts einzuräumen. Seitdem haben die Attacies eine gute Presse. Ob das so bleibt, wenn sie im Herbst Protestaktionen gegen die Agenda 2010 durchführen, wird sich zeigen. Aber das ist nicht ihr Problem, sondern sie fragen sich, ob ihre neue innerdeutsche Sozialpolitik sich mit ihren internationalistischen Prinzipien verträgt. Da gibt es mehrere Antworten. Für Werner Rätz, Mitglied des "Koordinierungskreises", ist es schon grundsätzlich ein Fortschritt, dass der Internationalismus von Attac sich nun auch lokal und das heißt sozialpolitisch buchstabiere. Im übrigen müsse man die scheinbar nationalstaatlichen Maßnahmen in den globalen Rahmen einordnen. Ja, aber was heißt das? Der Sozialabbau diene der militärischen Handlungsfähigkeit, sagt Rätz. Thomas Seibert schlägt in einem Seminar vor, für soziale Sicherung müsse weltweit gekämpft werden. Die EU-AG meint, mit der Agenda 2010 setze Schröder nur die Empfehlungen der EU-Kommission um, Brüssel also sei der Problemort. Man mag über die Antworten streiten, aber dass so überhaupt gefragt wird, macht Attac anderen politischen Gruppierungen überlegen.
Viele Altlinke begegnen dem spontanen Erkenntnisprozess mit Herablassung. Attac sei ja ganz nett, aber eine richtig grundsätzlich antikapitalistische Bewegung sei etwas anderes. Die Attacies kämen doch immer nur von Hölzchen auf Stöckchen. Wenn das mal keine Selbsttäuschung der Altlinken ist. Was wäre eigentlich eine grundsätzlich antikapitalistische Gesellschaft? Wohl eine, die sofort oder so schnell wie möglich sämtliche nach dem Profitprinzip arbeitenden Groß- und Kleinunternehmen abschafft? So etwas hatten wir ja schon mal. Da wurde bloß übersehen, dass die neue Gesellschaft, die sich auf Basis der Vernichtung und Ersetzung der alten zu gründen versucht, so neu gar nicht ist, sondern die Logik der alten gerade fortsetzt, ja zuspitzt. Denn Vernichtung und Ersatz ist das Prinzip der kapitalistischen Verschleißproduktion wie auch der kapitalistischen Kriege, ohne welches der Profit schon längst zum Erliegen gekommen wäre. Eine nichtkapitalistische Gesellschaft würde sich nicht ausgerechnet aus dem Nichts zu schaffen versuchen, sondern eher so, wie es im Kommunistischen Manifest steht: mit einer Regierung, die dem Kapitalismus erst mal beispielsweise ein anderes Steuerrecht verpasst. Und so ginge es sehr langsam weiter. Ähnlich wie bei Attac.
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