Befreiung aus dem Untergang

Wächteramt Am 30. Juni 1978 wurde Rudolf Bahro in der DDR zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Ein Band mit Schriften aus dem Nachlass

Es ist in diesem Monat 30 Jahre her, dass Rudolf Bahro von einem DDR-Gericht ins Gefängnis geschickt wurde, weil er sein Buch Die Alternative im Westen veröffentlicht hatte. Wie man weiß, hielt ihn das nicht ab, Ende 1989 in die DDR zurückzukehren und für deren Erhalt einzutreten; aber welchen Denkweg er danach als Professor der Humboldt-Universität nahm, ist nicht sehr bekannt. Diese Lücke wird durch den von Guntolf Herzberg herausgegebenen Band teilweise geschlossen. Zwei transkribierte Vorlesungen sind aufgenommen, vier weitere werden in Form von Bahros "Vorlesungsnotizen" oder durch ausführliche Zitate zugänglich gemacht. Unter den sonstigen Dokumenten sticht ein bislang unveröffentlichter, 130 Seiten langer Essay hervor: Das Buch von der Befreiung aus dem Untergang der DDR; 1995 im Krankenhaus geschrieben, kann als Bahros politisches und philosophisches Testament gelten.

Dieser Essay hat die Form eines Briefes an Sahra Wagenknecht, über die vermittelt Bahro sich an die PDS wenden und sie vom "Klientelismus" abbringen will. Wie schon der Titel zeigt, wird vor allem der begrenzte Sinn einer Interessenvertretung ehemaliger DDR-Bürger hervorgehoben. Es geht Bahro darum, die DDR nach Deutschland und Deutschland in den Westen zu führen, weil es ihm unmöglich scheint, der Welt die ökologische Botschaft zuzurufen, wenn das sprechende Subjekt nicht gleichzeitig die kolonialistische Tradition und Gegenwart abwirft, die ihm von der Welt zugeschrieben wird. Wohl soll die DDR beerbt werden, aber eben nicht "klientelistisch", vielmehr kommunistisch. Bahro will die PDS davon überzeugen, dass Kommunismus und Ökologie dasselbe sind.

Zwischen Religion und Politik

Freilich sieht man an diesem Text noch mehr als an der Parteitagsrede von 1989, die hier ebenfalls abgedruckt ist, weshalb es nicht gelingen konnte. Bahros Art, zwischen "rechts" und "links", auch Religion und Politik zu changieren, überfordert den Wunschgesprächspartner hoffnungslos. Die PDS soll sich an Heidegger, an Nietzsche, an Simone Weils Buch Schwerkraft und Gnade orientieren - er hätte sich das alles sparen können, denn die Genannten haben ihn im Grunde nichts gelehrt, was er nicht vorher wusste.

Manche Gedanken sind dann wieder so revolutionär und dezidiert links, dass sie in den Selbstwiderspruch führen. So seine Sicht der Jakobiner in der Französischen Revolution: Ihre Herrschaft sei eine des Volkes gewesen, weil ihre Führungsgruppe aus lauter Individualisten bestand, die ihre Meinungsverschiedenheit öffentlich austrugen. Der Gedanke ist demjenigen des Politologen Nicos Poulantzas analog, dass die Demokratie eines Parlaments mit der Zahl der vertretenen Parteien wachse.

Bahro freilich unterstreicht sonst immer, dass er den Individualismus der Neuzeit für eine Katastrophe hält. Was ihn veranlasst, in einem an die PDS adressierten Text die Jakobiner zu loben, ist deren "Selbstlosigkeit", ihr nichtklientelistischer Politikstil. Aber das Beispiel zeigt eben auch, dass Selbstlosigkeit und Individuation kein Gegensatz sein müssen. Übrigens ist sein eigenes Projekt keineswegs auf mehrere Führer berechnet, sondern er sagt in einer Vorlesung, die Einsetzung eines "Öko-Solon" müsse erreicht werden, eines Kanzlers, der dann auch noch mit einem Ermächtigungsgesetz ausgestattet werden soll.

Maik Hosang schreibt in einem der beigegebenen Aufsätze, Bahro klammere "keine der ihm zugänglichen Erkenntnisse aus", sondern habe es sich zum Prinzip gemacht, "scheinbar unvereinbare Denkansätze kreativ zu verbinden". Aber Bahro setzt "Integration" auch als Losung und Zauberwort ein, das verdeckt, wie grundverschieden der Gestus ist, mit dem er etwa einerseits auf Heide Göttner-Abendroth und andererseits auf Marx reagiert. Mit der Erstgenannten, die von der sozialen und politischen Entrechtung der Männer träumt, lässt er sich auf eine differenzierte, abwägende Debatte ein - vom Marxismus schreibt er schlicht, an ihm "als Theoriepaket" sei "nichts zu retten".

Da ist er geradezu blind, erstaunlich genug für den Autor des Buchs Die Alternative. In immer neuen Wendungen behauptet er, Marx´ "absolut kapitalkonforme" Perspektive sei die "unendlich erweiterte Reproduktion" und der "schrankenlose technische Fortschritt" gewesen. Dabei hat Marx durch diese Züge das Kapital kritisch definiert. Marx´ eigene "Kapitalkonformität" bestand nur darin, dass er dem Kapital eine nützliche "historische Mission" zuschrieb, diejenige nämlich, die Welt zum Bau einer hinreichenden Maschinerie zu treiben. Das Kapital trieb sich selbst dahin durch sein Streben ins Unendliche, dieses sollte aber nach Marx´ Vorstellung nur bis zum Erreichen einer Schwelle geduldet und dann revolutionär durch den ganz anderen Mechanismus der Planung ersetzt werden. Wenn Bahro das nicht verstand, warum hat er es sich nicht von Ernst Bloch nahe bringen lassen? Der erörtert ausdrücklich die Paradoxien kapitalistischer Unendlichkeit, hebt aber auch hervor, dass sie der geeignete Weg war, mittelalterliche Enge aufzusprengen.

Übrigens verwickelt sich Bahro auch hier in den Selbstwiderspruch, denn zuletzt muss er seinerseits auf die Karte der Unendlichkeit setzen. Schon in den achtziger Jahren hatte er die gegenwärtigen ökologischen Probleme auf die "Conditio humana" zurückgeführt, worunter er sich eine Abgespaltenheit des Hirns von seinen körperlichen Aufgaben vorstellte. Im Nachlassband kann man ihn bei der Arbeit mit dieser Prämisse beobachten. Was in der Logik der Rettung von 1987 noch krud naturwissenschaftlich klingt, weicht einer eher philosophischen Betrachtungsweise, die darauf hinausläuft, dass das Hirn bisher überwiegend nur seine "Verstandesmächte" eingesetzt habe, statt sich von "Seele" und "Geist" leiten zu lassen. Aber auch so bleibt die Frage nahezu unbeantwortbar, wie die Überwindung einer hirnfixierten Egozentrik denkbar sein könnte.

Bahro lässt zuletzt Pascal sprechen: "Der Mensch übersteigt unendlich den Menschen" - und langt damit fast wieder bei der Kapital-Definition an. Denn vom Kapital kann wirklich gesagt werden, dass es sich selbst unendlich übersteigt, während man, was "den Menschen" angeht, wenigstens noch hoffen darf, er möge sich nicht für alle Zeit im antiökologischen Unendlichkeits-Diskurs bewegen.

Der Ökologische Rat

Bahros Ideen sind oft befremdlich, aber in dem, was für ihn nach 1990 die Hauptsache ist, führt sein Denkweg weiter. Dies ist die Frage nach der politischen Verfassung einer Gesellschaft, die im Einklang mit der Natur lebt, statt sie zu vergewaltigen. Eine "Begrenzungsordnung" wird gesucht, mit Anklang an Platon spricht Bahro auch von einem "politischen Wächteramt". Wie wir sahen, kann er ausgesprochen "rechts" werden, wenn er die Idee zu konkretisieren versucht. Sein "Öko-Solon" mit Ermächtigungsgesetz wäre nichts anderes als die Möglichkeit jenes "grünen Adolf", die er schon früher einmal apostrophiert hatte. Aber er ähnelt Nietzsche darin, dass er ohne Rücksicht auf Konsistenz experimentell denkt.

Bahros Hauptidee zur neuen Verfassung, der Ökologische Rat, lässt ganz verschiedene Schlussfolgerungen zu, und er sagt selbst, es müsse "in jeder überlieferten Kultur anders" entschieden werden, "ob der oder die Einzelne nun durch Wahl oder durch Berufung dazugehören soll", ob also die Instanz, die als Wächteramt der Begrenzungsordnung figuriert, demokratisch oder autoritär einzurichten wäre. Guntolf Herzberg kann aus einer Vorlesung zitieren, "dass demokratische Verhältnisse die einzige Chance böten, ohne Gewalt und mit Einsicht große Veränderungen akzeptabel zu machen und durchzuführen". Die Denkmöglichkeit eines demokratischen Ökologischen Rats wird von Bahro tatsächlich angedeutet.

Der auch als "Oberhaus" bezeichnete Rat soll die Instanz für das die Gesellschaft "tragende Naturverhältnis" sein und als solche mit "Richtlinienkompetenz für die Grundproportionen, für den Begrenzungsrahmen des Sozialprojekts in der Natur" ausgestattet werden. Den Begriff Richtlinienkompetenz auf eine Kammer anzuwenden, ist gewiss eine Verwirrung, aber Bahro war kein Politologe. Wesentlich ist sein Beharren darauf, dass es "ja bisher gar keinen institutionellen Rahmen für eine ökologische Wende" gibt. Das kann man nicht bestreiten: Es gibt einen Rahmen für lauwarme Ökologie - das Bundesumweltministerium -, aber für eine Wende keineswegs. Die Gewaltenteilung, sagt Bahro, müsste gar nicht außer Kraft gesetzt werden; nur eine "umwälzende Ergänzung" ist gefordert. Man kann ihm vorwerfen, dass er, statt die Idee zu konkretisieren, sich fast nur für ihre "spirituellen" Voraussetzungen interessiert hat. Aber das macht sie nicht hinfällig.

Eine umwälzende Ergänzung

Wohl ist der Einwand geläufig: Wenn Bahros "Oberhaus" nicht durch Berufung, sondern durch Wahl zustande kommt, sitzen dieselben Parteien in ihm wie im Bundestag; so gesehen scheint es eine hilflose Verdopplung zu sein. Aber dass die bekannten Parteien vertreten sind, gilt von allen Staatsapparaten. Man würde trotzdem nicht sagen, sie täten alle dasselbe.

Die Akteure eines Militärapparats zum Beispiel handeln nach einer Apparatlogik, die ihnen manchmal den Putsch nahe legt; diese Logik zieht bestimmte Parteilichkeiten an, sie wird nicht umgekehrt von den Parteilichkeiten erst konstituiert. Ebenso werden Lehrer mit CDU-Parteibuch mehr Geld für die Schule auch dann fordern, wenn die CDU im Bundestag einen rigiden Sparkurs fährt. Im Bundesrat kommt es vor, dass Länderinteressen über Parteiinteressen gestellt werden. Und so weiter. Warum nicht annehmen, dass die Verfassungsaufgabe eines Ökologischen Rats die Parteizugehörigkeit seiner Mitglieder transzendieren würde? Wenn Bundestagsbeschlüsse nicht nur mit dem Bundesrat, sondern außerdem mit ihm, dem "Wächter einer Begrenzungsordnung", abgeglichen werden müssten, wäre etwas gewonnen.

Rudolf Bahro Denker, Reformator, Homo politicus. Nachgelassene Texte, Vorlesungen, Aufsätze, Reden und Interviews. Hg. von Guntolf Herzberg, edition ost, Berlin 2007, 553 S., 19,90 EUR

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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