Karl Marx hat die Revolution gewollt, seine Theorieproduktion diente nur diesem Zweck. Er glaubte nachgewiesen zu haben, dass die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften von selbst dahin führen musste. Die Menschheit würde dann erst in ihre wahre Geschichte eintreten, glaubte er. Auch heute würden viele den Kapitalismus gern hinter sich lassen. Eine Mehrheit der Deutschen sieht ihn kritisch. Er führt immer wieder schlimmste ökonomische Krisen herbei, und schon zwei Mal haben solche Krisen Weltkriege heraufbeschworen. Die Oktoberrevolution 1917 richtete sich gegen diesen Zusammenhang. Heute allerdings muss man sich fragen, ob sie nicht noch schlimmer war als das, was sie bekämpfte. Ein Zahlenvergleich lässt es erahnen: Der gesamte Erste Weltkrieg forderte um die 17 Millionen Tote, Militärs und Zivilisten aller teilnehmenden Staaten zusammengezählt. Allein die Russische Revolution und der sich anschließende Bürgerkrieg forderten 13 Millionen Tote.
Später unter Stalin wurde sie gleichsam noch einmal wiederholt, und wieder starben Hunderttausende. Die Geheimpolizei, die den Aderlass organisierte, war schon 1917 von Lenin, dem revolutionären Führer, gegründet worden, und Stalin war sein Kampfgefährte gewesen. Diese Geheimpolizei, die in den Jahren nach 1917 noch gegen wirkliche und vermeintliche Feinde vorging, griff auf dem Höhepunkt des Stalin’schen Terrors Unschuldige von der Straße auf, um die Arbeitslager zu füllen, in denen dann wieder Tausende umkamen. Aber schon Lenin hatte nicht nur den bourgeoisen Klassenfeind, sondern ebenso auch die Arbeiterklasse gnadenlos bekämpft. Schon Ende 1917 empfahl er, „Arbeiter, die sich vor der Arbeit drücken, ins Gefängnis zu stecken“, ihnen anschließend Prostituiertenpässe zu geben und „einen von zehn auf der Stelle zu erschießen“. In der Folge wurde ein Arbeiterstreik nach dem anderen blutig erstickt. Und die Bauern erst, die übergroße Mehrheit im Lande, die nicht gefragt worden war! Warum sollten sie auf Anordnungen derer hören, die den Staat usurpiert hatten? Lenin ging schließlich einen Kompromiss mit ihnen ein, den Stalin jedoch wieder aufkündigte.
Die Logik dieser Entwicklung bestand darin, dass Lenin und seiner revolutionären Partei die Legitimation fehlte. Die verfassunggebende Versammlung, in der Bauernparteien die Mehrheit hatten, hatte er auseinanderjagen lassen. Je weniger Legitimation eine Herrschaft hat, desto mehr pure Gewalt muss sie investieren. Doch das Problem lag tiefer. Wenn die Revolutionäre darauf aus gewesen wären, sich Legitimation zu beschaffen, hätte sie aus dem Recht der alten Gesellschaft genommen werden müssen. Die war aber gerade das zu Revolutionierende. Selbst Rosa Luxemburg meinte, eine auf allgemeine Wahlen gegründete Konstituante gehöre zur bürgerlichen, nicht zur sozialistischen Revolution. Für die Legitimation der Revolutionäre waren legitimierende Institutionen erst revolutionär zu schaffen. Hatte das nicht schon 1789 für die bürgerliche Revolution gegolten? Das heißt aber, zunächst einmal, im historischen Augenblick der Revolution sind sie schlicht und einfach nicht da.
In der Konsequenz führt das zu Lenins Satz, dass die Revolutionäre nichts zurückhält als ihr eigenes Gewissen. Der Satz klingt großartig – was kann erhabener sein als ein revolutionäres Gewissen? Doch er klingt nur so. Die Ereignisse haben gezeigt, dass wenn jemand sein revolutionäres Gewissen auf nichts mehr stützt als auf sich selbst, er es eben deshalb verliert. Man begreift das auch. Ein Gewissen verinnerlicht normalerweise die Institutionen einer vorhandenen Gesellschaft. Eben diese werden aber revolutioniert. Das Problem in seinem ganzen Ausmaß konnte mehr noch in China als in Russland studiert werden. Während der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ wurde es zur Doktrin erklärt, die „vier Alten“ zu zerstören – die alten Ideen, die alte Kultur, die alten Sitten, die alten Lebensweisen! Ganz und gar alles! Bis hin zu Mozart, der nicht mehr gespielt oder angehört werden durfte. Und wieder gingen die Opfer in die Hunderttausende. Millionen wurden gefoltert oder misshandelt, eingesperrt oder umgesiedelt.
Abschaffung des Heiligen
Dass eine Revolution, wenn sie ein vorhandenes Institutionengefüge zu zerstören unternimmt, eben dadurch den Unmenschen freisetzt, kann man wissen, wenn man bereit ist, es von Arnold Gehlen zu lernen, einem politisch rechtsgerichteten Soziologen. In Gehlens Konzeption erscheint der Mensch als „Mängelwesen“, der seinem „Mangel“ eben dadurch abhilft, dass er Institutionen schafft und sich auf sie stützt. Wenn das stimmt, verliert der Mensch, der die Institutionen zerstört, sein Menschsein. Mag er sie auch zerstören, um neue zu gründen. Die neuen sind ja erst einmal noch nicht da. Eigentlich müsste Gehlens Annahme gerade Marxisten überzeugen. Zwar ist die Vorstellung vom „Mangel“ problematisch. Mehr leuchtet ein, was die Marxisten sagen, dass nämlich beim Menschen etwas hinzukommt, das andere Tiere nicht haben – der Werkzeuggebrauch. Damit aber eben, sagt Gehlen, hat dieses Tier seine erste Institution geschaffen. Für ihn ist wichtig, dass es nicht die einzige war. Viele andere Institutionen kamen hinzu. Das Werkzeug allein reicht längst nicht aus, den Menschen zum Menschen zu machen. Es kann ja zur Waffe gemacht werden, mit der man schlimmste Torturen anrichtet. Warum hat das nicht auch Marx so verallgemeinert?
Doch können sich die revolutionären Praktiker – Lenin, Mao, Pol Pot – auf ihn überhaupt berufen? Marx ist weit davon entfernt, alle Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft, in der er lebte, umstürzen zu wollen. Als er einmal in Den Haag redet, beruft er sich geradezu auf die Institutionen der Gesellschaft, die revolutioniert werden soll: „Wir wissen, dass man die Institutionen, die Sitten und die Traditionen der verschiedenen Länder berücksichtigen muss, und wir leugnen nicht, dass es Länder gibt, wie Amerika, England, und wenn mir eure Institutionen besser bekannt wären, würde ich vielleicht noch Holland hinzufügen, wo die Arbeiter auf friedlichem Weg zu ihrem Ziel gelangen können.“ Vorher hat er gesagt: „Der Arbeiter muss eines Tages die politische Gewalt ergreifen, um die neue Organisation der Arbeit aufzubauen; er muss die alte Politik, die die alten Institutionen aufrechterhält, umstürzen.“ Aber da hat er die alten Institutionen der Arbeit gemeint, nicht alle oder beliebig viele Institutionen.
Die Sache hat indes eine Kehrseite. Denn wir lesen im Kommunistischen Manifest: „Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt“, hat „alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt. Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.“ „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“
Marx’ Sympathie für die Institutionenvernichtung, die er im Kapitalismus erlebt, ist unverkennbar. Der Mensch, lesen wir heraus, belügt sich selbst, wenn er sich an seinen vorhandenen Institutionen festhält wie an einem Geländer. Wir sehen aber auch: Die totale Institutionenvernichtung ist ein Merkmal gerade der kapitalistischen Revolution. Marxistische Revolutionäre haben sich von diesem Muttermal der alten Gesellschaft nicht befreit, sondern die Vernichtungswut noch gesteigert.
Auflösung statt Beseitigung
Die Idee der Revolution ist damit nicht diskreditiert. Denn wenn der Kapitalismus nicht revolutionär beseitigt wird, wird er von selbst zerfallen. Der Autor des Buches Chaos: Das neue Zeitalter der Revolutionen, Fabian Scheidler, erwartet das und stellt sich deshalb vor, in den Nischen des Zerfalls werde sich Neues entwickeln. Er will auf die Fähigkeit, es tun zu können, schon heute orientieren und mit der Vorbereitung beginnen. Aber der Zerfall einer Gesellschaft ist gerade der Zerfall ihrer Institutionen. Was heute in der kapitalistischen Peripherie ganz ohne marxistische Revolution geschieht, in den „failed states“, zuletzt etwa im Herrschaftsgebiet der Terrororganisation IS, schlägt dann in die Metropolen zurück. Dem müssen wir doch zuvorkommen. Durch eine Neugründung der Gesellschaft, eine Revolution also. Nur muss sie anders sein als die bisherigen. Sie hat die Institutionenvernichtung nicht anzustreben, sondern auszuschließen. Nur die Beseitigung der zentralen Institutionen, das sind der kapitalistische Markt und das Patriarchat, kann sie sich zum Ziel setzen. Marx und Friedrich Engels haben den Zusammenhang beider Institutionen gesehen. Es sind historisch bestimmte Formen, die Lebensgewinnung restriktiv zu organisieren. Die Lebensmittel und das Leben selbst. „Der Mann“, schreibt Engels, „ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat.“
Wie der Markt alle anderen Institutionen einfärbt, ist nicht hinnehmbar. Im Stadium des „Marktradikalismus“ wird das immer mehr Menschen bewusst. Doch was heißt hier „Beseitigung“? Auch Marx’ Antwort auf diese Frage ist problematisch. Er wollte nicht alle vorhandenen Institutionen vernichten, diese aber schon. Dass die „Kapitallogik“ mit der Marktlogik zusammenfalle, hat er aber nie plausibel machen können. Seine Definition der Kapitallogik ist heute sehr aktuell: „Das Kapital als solches setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht ,at once‘ setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen.“ Das führt zur Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts und zu radikalen Formen der Ausbeutung von Arbeitern und Arbeiterinnen. Diese unendliche Bewegung kann sich nur durch den Markt realisieren, aber damit ist nicht gesagt, dass umgekehrt ein Markt, jeder Markt, notwendig auf die unendliche Bewegung hinausläuft. Marx hat es geglaubt. Dabei hatte er keinen anderen Beweis als den, dass Geld unendlich weitergezählt werden kann: Allein die Möglichkeit, es endlos zu vermehren, bringe die Tatsache dieser Vermehrung notwendig hervor.
Er ist damit wiederum einer Denkfigur der Gesellschaft auf den Leim gegangen, die er revolutionieren wollte. Dass die Möglichkeit mit der Tatsache zusammenfalle, hatte die Theologie Gott zugeschrieben, wie sie ihm auch Unendlichkeit zugeschrieben hatte. Die neuzeitliche bürgerliche Philosophie schrieb dann beides auch der Natur zu, „Deus sive natura“, wie es bei Spinoza heißt. Das Kapital folgte blind dieser Logik. Dass es aber keine Marktverfassung geben soll, die ihr nicht auch folgt, ist nicht plausibel. Man kann sich eine Gesellschaft, die in keiner Weise mehr kapitalistisch ist, sehr wohl aber noch über Märkte verfügt – Märkte mit anderer, besserer Verfassung, auch mit geringerer Reichweite als heute –, durchaus vorstellen. Sie haben ja auch Vorteile, die man nicht wie das Kind mit dem Bade ausschütten muss. Sogar der Markt also ist eine vorhandene Institution, die revolutionär zu beseitigen unnötig und geradezu falsch wäre. Doch man muss es genauer sagen: Er ist als Institution gar nicht vorhanden. Vorhanden ist nur die Institution „kapitalistischer Markt“. Diese ist nicht revolutionär zu beseitigen, wie Marx glaubte, sondern revolutionär aufzulösen – zu zerlegen in ihre konfus vermengten Bestandteile „Markt“ und „Kapitallogik“. Wo dann nur das Zweite auszuscheiden, das Erste aber beizubehalten ist.
Auflösung statt Beseitigung: Darum geht es überhaupt, wenn ein neues Revolutionsbild, das wir brauchen, entstehen soll.
Die Konfusion des Kapitalisten
Der kapitalistische Markt als zentrale Institution ist das Objektive, wogegen die Revolution sich richtet. Subjektiv richtet sie sich, wenn man Marx folgt, gegen das Vorhandensein zweier ökonomisch bestimmter „Klassen“ von Menschen, Proletariat und Bourgeoisie, Arbeiter- und Kapitalistenklasse. Das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft aufrechtzuerhalten, ist sinnvoll und notwendig. Doch wer hält heute noch die Arbeiterklasse für das revolutionäre Subjekt, ja auch nur für eines unter mehreren? Dennoch ist auch diese Idee nicht von der Hand zu weisen, wenn man sie nur anders fasst. Schwer vorstellbar ist nämlich eine Revolution ohne und gegen die Arbeiterklasse. Sie und die Kapitalisten haben die Schalthebel der wirklichen Macht, das ist die ökonomische, in Händen. Wahr bleibt deshalb auch, dass das Proletariat aufhören müsste, sich der Kapitalistenklasse zu unterwerfen. Aber hier beginnen erst die Probleme, die Marx nicht zufriedenstellend löst. Denn das Proletariat als Proletariat kann sich gar nicht gegen die Bourgeoisie auflehnen. Es müsste schon aufgehört haben, Arbeiterklasse zu sein, um das zu können. Lenin, der Praktiker der proletarischen Revolution, hat das gegen seinen Willen erkannt, als er argumentierte, das Proletariat habe nur gewerkschaftliche Interessen, wenn man es nicht von außen, mittels einer revolutionären Partei, über seine „wahren“ Interessen aufkläre.
Die Behauptung ist richtig, aber sie bedeutet, dass es das „wahre“ Interesse des Proletariats ist, nicht Proletariat zu sein. Kann dann noch gesagt werden, es nehme, wenn es sich zu dieser Wahrheit durchringe, den „richtigen Klassenstandpunkt“ ein? Es stellt sich dann doch vielmehr auf einen Nichtklassen-Standpunkt. Und weiter: Wenn man schon das Proletariat davon überzeugen muss, seinen Klassenstandpunkt aufzugeben, warum nicht auch die übrigen Klassen und vor allem die Bourgeoisie? Wie der Lohnarbeiter als Lohnarbeiter sich nicht gegen den Kapitalisten auflehnen kann, kann dieser, wenn er seinen Klassenstandpunkt behält, sich nicht gegen sich selbst auflehnen. Aber beide können sich von der Konfusion befreien, die ihnen als kapitalistischen Klassen eignet. Arbeiter und Arbeiterinnen können es eher, weil sie weniger zu verlieren haben, aber trotzdem. Die Konfusion des Kapitalisten besteht darin, dass er als Unternehmer nicht Kapitalist sein müsste, der Kapitallogik nicht folgen müsste. Er müsste weder ausbeuten noch ins Unendliche streben. Auch Unternehmer also, die heute Kapitalisten sind, gezwungen durch die Konkurrenz, können der revolutionären Partei oder Parteiung angehören. Sie würde aus allen Menschen bestehen, von denen die Revolution vorbereitet wird, egal welcher Klasse sie heute noch angehören. Auch wenn es auf die Arbeiterklasse besonders ankommt, ist das wahr. Man kann es übrigens auch aus der Geschichte lernen. War Engels nicht Unternehmer, war Marx nicht „Kleinbürger“, gehörte Lenins Familie nicht dem Amtsadel an?
Nicht nur also, wenn wir auf den kapitalistischen Markt, sondern auch wenn wir auf die kapitalistischen Klassen blicken, stellt es sich als Wahrheit heraus, dass die revolutionäre Aufgabe in ihrer Auflösung besteht, nicht in ihrer Vernichtung.
Feuer im leeren Kaufhaus
Man findet die Vernichtungs-Vorstellung beim reifen Marx nicht mehr, wohl aber in Marx’ Jugend. Die Aufgabe der Kritik, schreibt er da noch, sei nicht die Widerlegung, sondern die Vernichtung des Feindes. Marx will nicht Menschen vernichten, doch ob er will oder nicht, lädt seine Formulierung dazu ein. Man findet die Vorstellung dann etwa bei Antonio Gramsci, dem Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, oder in der Kunst bei Pierre Boulez, der die Musik revolutionierte. Beide argumentieren fast gleichlautend, es sei nicht die Aufgabe der Revolutionäre, das Bewahrenswerte zu bewahren, sondern dieses werde sich von selbst der Zerstörung widersetzen. Eben dadurch und nur dadurch werde es seine Eigenschaft, bewahrenswert zu sein, auch allererst erweisen. Das ist die Haltung der Institutionen-Vernichtung. So berauschte sich Boulez, als er noch jung war, an der Idee, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Leer geräumte natürlich, wie auch Andreas Baader und Gudrun Ensslin Feuer zunächst im leeren Kaufhaus gelegt hatten.
Gramsci und Boulez haben so wenig Menschen vernichten wollen wie Marx, aber Lenin und Stalin haben es getan. War es so selbstverständlich, Revolution von vornherein mit Krieg, Bürgerkrieg zu übersetzen, wie Lenin es tat? Schon Jahre vorher war das seine Idee gewesen: Die Kommunistische Partei müsse sich nach und nach zur disziplinierten Armee entwickeln, die in der Stunde der Entscheidung losschlagen könne. Der Krieg ist aber die Domäne des Mannes. Da der Bolschewik im wesentlichen Krieger war, wie der Renaissancemensch vor ihm und James Bond nach ihm, prägte „Männlichkeit“ im traditionellen Sinn die ganze Geschichte der Sowjetunion. Der Menschentypus des im Bürgerkrieg Gestählten, auch im Frieden stählern Bleibenden, war später kaum noch korrigierbar. Daher sprach der marxistische Philosoph Wolfgang Fritz Haug 2005 von der „kriegskommunistischen Überformung der Männlichkeit und damit der Geschlechterverhältnisse“. Der Historiker Gerd Koenen fragte 2017, ob die Bolschewiki wirklich als Kommunisten oder nicht eher als die biologisch kräftigsten Exemplare der Gattung Mensch, wie sie sich in der grausamen russischen Hölle zusammenfanden, agiert haben. Peter Weiss hatte 1981 verzweifelt überlegt, im dritten Band des Romans Die Ästhetik des Widerstands, ob der Mann als Träger aller bisherigen Geschichte, und so auch der kommunistische Mann, wie er sich in der Sowjetunion unter Stalin und im spanischen Bürgerkrieg gezeigt habe, nicht der geborene Mörder sei.
Vielleicht kann Hannah Arendt aus dieser Verzweiflung herausführen. Sie hat auch ein Buch On Revolution geschrieben (1963), den Genderaspekt behandelt sie aber schon vorher in The Human Condition (1958), das deutsch unter dem Titel Vita activa oder Vom tätigen Leben erschien (1960). Als Formen des Tätigseins unterscheidet sie Arbeiten, Herstellen und Handeln, wobei sie Handeln als die Fähigkeit des Anfangens fasst. Besonders interessiert sie das Handeln, das „der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient“. Was ist eine Revolution, wenn nicht eine gesellschaftliche Neugründung? Arendt, die Philosophin, weiß natürlich, dass „arché“, der wichtige altgriechische Begriff, nicht nur den Anfang oder „Ursprung“, sondern auch die Herrschaft bedeutet. Wer anfängt und vorangeht, ist der Herr. Und der Herr ist männlich. Im Kapitalismus ist es der Unternehmer, dessen „Initiative“ man rühmt. Doch Arendt macht eine andere Rechnung auf. Der Neuanfang, das ist für sie die Geburt, die ja wohl die Mutter voraussetzt. Dem Anfang, schreibt sie, „der mit unserer Geburt in die Welt kam, entsprechen wir dadurch, dass wir selbst aus eigener Initiative etwas Neues anfangen“.
Handeln, fährt sie dann fort, besteht darin, „den eigenen Faden in ein Gewebe zu schlagen, das man nicht selbst gemacht hat“. Eine traditionell weibliche Tätigkeit hat ihr die Metapher nahegelegt. Und es ist klar, wenn das Gewebe vielmehr vernichtet und durch ein anderes ersetzt würde, könnte man keinen Faden hineinschlagen. Die Person oder Gruppe, die einen Faden in ein Gewebe schlägt, kann nicht als Herr gedacht werden: Sie gehorcht weder noch befiehlt sie, sondern antwortet und fragt. Denn gefragt wird mit einem Vorwissen, das im Bild dem schon vorhandenen Gewebe entspricht. Die Antwort des Fadenschlagens ist somit nicht voraussetzungslos, dennoch aber „frei“. Arendt spricht von einem „Handeln eigener und eigenständiger Art, das zwar von einem Vergangenen provoziert, aber nicht von ihm bedingt ist“. So bekennt sich die Antwort zur Voraussetzung der Frage, auf die sie reagiert, kann aber immer zwischen mehreren Möglichkeiten auswählen und wählt vielleicht sogar die, die Frage zurückzuweisen, erkennend, dass in ihr etwas durcheinandergeht. Das ist Auflösen statt Vernichten.
Spätestens wenn Arendt diese Vorstellung zum Begriff des Verzeihens weiterdenkt, werden viele es für absurd halten, einen nützlichen Beitrag zur Revolutionstheorie darin zu sehen. Wir brauchen uns aber nur klarzumachen, dass Verzeihen das Gegenteil des Sichrächens ist, um zu erkennen, dass dem nicht so ist. Rache ist ein Revolutionsbegriff und vielleicht traditionell der einflussreichste. Gerhard Hauptmann stellt es dar in seinem Drama Die Weber. Friedrich Engels ist voll des Lobs für die Höllenfantasie der Johannes-Offenbarung, weil hier „gesunde ehrliche Rache an den Verfolgern der Christen“ gepredigt werde. Walter Benjamin behauptet, das Proletariat trete bei Marx „als die rächende Klasse auf, die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt“; sie solle, fordert er, „den Hass wie den Opferwillen“ nicht verlernen.
Verzeihen ist besser und nicht so sanft, wie viele meinen. Das wird klar, wennArendt die alten Römer als Beispiel anführt: Mit der „Schonung der Besiegten“ hätten sie das Verzeihen aufs Politische übertragen. Das setzt ja voraus, dass sie vorher gesiegt haben! Im Übrigen kann nicht alles verziehen werden. Nicht das absichtlich ausgeführte Verbrechen. Aber damit sind wir beim springenden Punkt angelangt. Ist der Kapitalismus als solcher schon ein Verbrechen? Wenn wir Marx folgen, nein. Er hat ihn für eine progressive Epoche der Menschheitsgeschichte gehalten. Nur gehört sein progressives Stadium der Vergangenheit an. Mit Arendt gesprochen: Als er anfing, war er ein Fortschritt. Doch ist es eine „Eigentümlichkeit des Handelns, dass es einen unabsehbaren und potentiell endlosen Prozess anfängt“. Daraus, „dass ein Getanes kein Ende hat“, ersieht man zwar die ungeheure Größe, Würde und Macht des Anfangens; es hat aber zur Folge, „dass der Handelnde immer schuldig wird“. Ist die Schuld einmal da, kann man sie nicht mehr rückgängig machen. Wohl aber widerrufen, eben indem man verzeiht. Das könnte ein neues Bild der Revolution sein: Besiegen und Schonen als revolutionäres Handeln, das den Kapitalisten, der gehandelt und sich verrannt hat, aber auch uns selbst, die wir ihn haben gewähren lassen, „von einer Vergangenheit, die ihn auf immer festlegen will, befreit“.
Kann es sein, dass Frauen in bisherigen Revolutionen eine zu geringe Rolle gespielt haben?
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