In der Woche nach der Wahl in Sachsen-Anhalt sind die Wahlprogramm-Entwürfe der SPD und der Unionsparteien bekannt geworden. Nun kann man schon deutlicher sehen, was in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs die strategische Lage sein wird. Der erste Blick fällt auf die Situation in der EU, die durch die zeitgleiche Wahl in Frankreich noch einmal schlaglichtartig erhellt worden ist. Von der Dominanz sozialdemokratischer Parteien in Westeuropa, die bei Gerhard Schröders Amtsantritt als Kanzler noch bestand, ist nicht mehr viel übrig geblieben.
Nach Regierungswechseln in Österreich, Italien, Dänemark, jetzt auch Portugal werden nur noch sieben EU-Staaten von Sozialdemokraten geführt. Gut möglich, dass es Ende Juni nur noch fünf sind - dann haben die Niederlande und Frankreich gewählt, wo Kok und Jospin, die bisherigen Ministerpräsidenten, nicht mehr kandidieren. Die Frage ist, ob Schröder in diesen Sog hineingezogen werden könnte. Nach bisherigen deutschen Erfahrungen erscheint seine Abwahl zwar unwahrscheinlich, da es in der Bundesrepublik noch nie vorgekommen ist, dass eine Regierungspartei weniger als dreimal hintereinander gewonnen hat. Diese Form von Stabilität ist in der starken Machtstellung des Kanzleramts begründet. Ein Kanzler wird eher noch von der eigenen Partei als von der Opposition gestürzt; diese muss auf eine Art Zeitenwende warten, um wieder zum Zug zu kommen. Aber wer weiß, ob nicht allmählich die Prozesse einer "Innenpolitik der EU" über die Prozesse im einzelnen Mitgliedsstaat die Oberhand gewinnen? Es könnte sogar sein, dass beide Prozesse sich in Deutschland wechselseitig verstärken. Denn die überraschend hohe Zahl sozialdemokratischer Wahlniederlagen in Westeuropa kann vielleicht darauf zurückgeführt werden, dass die Wähler überall von den Sozialdemokraten einen Politikwechsel erwarteten und darin enttäuscht wurden. In Deutschland haben sie zu solcher Enttäuschung besonders viel Grund, nachdem Schröder bald nach dem Wahlsieg 1998 seinen Wahlkampf-Matador Oskar Lafontaine in die Resignation getrieben hatte. Die Zeitenwende, die angekündigt wurde, ist nicht nur ausgeblieben, sie war von Schröder niemals geplant.
Lange Zeit schien er über eine glänzende Taktik der Machtsicherung zu verfügen. Sie bestand darin, der Opposition die möglichen Oppositionsthemen zu rauben - ihre Politik zu vernichten durch gleichwertigen Ersatz. Steuer, Renten- und "Zuwanderungs"-Politik sind die schlagenden Beispiele. Aber jetzt sieht es doch wieder anders aus. Es gibt einige markante Differenzen zwischen der Politik des Kanzlers und der seines Herausforderers, ja zwischen den Absichten aller im Bundestag vertretenen Parteien.
Werfen wir einen Blick auf die Lage der Oppositionsparteien. Es ist bezeichnend, dass sogar die FDP, die vor einigen Jahren fast tot schien und die sich zuletzt noch, wie man glaubte, als Partner zum Nulltarif an den Kanzler heranschmiss, plötzlich wie eine respektheischende Kraft aussieht. Jürgen Möllemanns Idee, sie zur "18-Prozent-Partei" werden zu lassen, mutet nach den 13 Prozent in Sachsen-Anhalt nicht mehr verrückt an. Der Fallschirmspringer agiert auch schon ganz im Stil einer "Volkspartei", indem er bedenkenlos schlafende Instinkte gegen Israel weckt - auch er würde gegen Okkupanten zur Waffe greifen, sagt er - und sogar einen abtrünnigen Grünen aufnimmt, der die Israelis mit den Nazis vergleicht. Zwar haben Mandatsträger des von ihm geführten Landesverbands NRW protestiert, Stimmen könnte es aber trotzdem bringen. Außerdem hat die Partei unter Westerwelles Führung ihr Profil als Steuersenkungspartei noch weiter geschärft. In den Bundestagswahlkampf zieht sie mit einem Reformkonzept - vorgestellt von Otto Solms am 10. April -, nach dem nicht nur der Spitzensteuersatz auf 35 Prozent sinken würde, sondern in dem auch die "Steuer-Vereinfachung" anschaulich wird, die seit langem durch die Debatten geistert. Es soll nämlich nur noch drei Einkommenssteuersätze geben ("Stufentarif") und keinen Unterschied in der Behandlung von gewöhnlichen Bürgern und Unternehmern. Die Gewerbesteuer soll ganz abgeschafft werden. Obwohl mit all dem nur die Neoliberalisierung radikalisiert würde, sieht es noch einmal neu aus und mag die FDP für manche zum Hoffnungsträger machen.
Die Union sagt nur, der Spitzensteuersatz soll "unter 40" fallen ebenso wie die Lohnnebenkosten und die Staatsquote. "Dreimal unter 40", so Edmund Stoiber am 21. April, auch das ist immerhin eine griffige Formel, die allerdings komisch kontrastiert mit dem Namen des Unions-"Teams 40 plus" - hier geht es um 40 Prozent Stimmen -, das mit der Ausarbeitung des Wahlprogramms beauftragt war. Stoibers Steuerpolitik wird nicht mit der Regierungslinie verwechselt werden können, da sie glaubhaft macht, dass die Union immer noch mittelstandsfreundlicher ist als Schröder und Genossen. Der Kandidat will im Fall eines Sieges die Steuerbefreiung für Veräußerungsgewinne bei Kapitalgesellschaften überprüfen und auch die Körperschaftssteuer neu justieren, da sie seit der rot-grünen Reform fast gar nicht mehr gezahlt werde. Diese Pläne werden der SPD noch heftig zu schaffen machen, weiß doch auch sie, dass Arbeitsplätze viel mehr vom Mittelstand geschaffen werden als von der Großindustrie. Finanzminister Eichel hat schon protestiert, aber wie hilflos: Eine Aufhebung der Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne komme "überhaupt nicht in Frage", sagte er, denn gewiss gebe es Einbrüche bei den Steuereinnahmen, aber "Unternehmen brauchen langfristige Planungssicherheit, um investieren zu können". Auf deutsch: Großunternehmen "brauchen" die Sicherheit, nichts zum Sozialstaat beitragen zu müssen, und Arbeitsplätze schaffen sie auch nicht - es reicht ja, wenn sie vom Standort Deutschland profitieren. Wie um zu beglaubigen, dass Stoiber es ernst meint, haben auch die Industrieverbände protestiert: Die Union dürfe nicht Nachteile für den Mittelstand durch Belastungen der großen Firmen beseitigen, sagte BDI-Präsident Rogowski. Große Firmen dürfen eben überhaupt nicht belastet werden, sondern nur selber belasten.
Die Union hat eine interessante militärpolitische Debatte hinter sich. Schäuble und Lamers, die schon mit ihrem "Kerneuropa-Papier" von 1994 Originalität bewiesen haben, sollten jetzt für das "Team 40 plus" ein neues Militärkonzept ausarbeiten. Ihre Vorschläge wurden zwar nicht gebilligt - so wenig wie vor acht Jahren die EU-Partner mitzogen, als sie von einem "Europa der zwei Geschwindigkeiten" sprachen -, aber es ist möglich, dass sie trotzdem wie damals den Weg erkennen und aussprechen, der beschritten werden wird. Nach ihrer Vorstellung soll die Bundeswehr künftig zweigeteilt sein: ein intelligentes Berufsheer für flexible Einsätze im Ausland, das nach und nach in EU-Streitkräften aufgehen soll, und einen "Heimatschutz" aus Wehrpflichtigen gegen inländisch operierende Terroristen. Diese Idee gibt der Wehrpflichtdebatte eine neue Note, da bisher niemand klar sagen konnte, wofür Wehrpflichtige eigentlich noch gebraucht werden, seitdem keine europäischen Kriege mehr zu befürchten sind. Brisant ist auch der Vorschlag, die Entscheidung über Militäreinsätze ganz allein der jeweiligen Regierung anheim zu stellen. Im "Team 40 plus" orientierte man sich lieber an einem Papier Volker Rühes, das vor allem mehr Geld für die Bundeswehr fordert, ihre Strukturen und Perspektiven aber praktisch unverändert lässt. Damit gerüstet, wird einerseits Stoiber als von Schröder kaum unterscheidbarer Staatsmann auftreten, während andererseits die Wähler denken können, dass wie gehabt die Union bereitsteht, wenn es Neues anzubahnen gilt, dem die SPD, man kennt das ja, mit Abstrichen früher oder später folgt.
Stoiber wird auch mit einem Europaprogramm ausgestattet, das sich gut eignet, ihm den Ruch des Nationalisten zu nehmen. Das Schäuble-Lamers-Papier von 1994 war ja noch als Reaktion auf einen nationalistischen Vorstoß Stoibers entstanden. Während der Bayer damals angeregt hatte, Deutschland solle sich in der EU möglichst wenig binden, damit es möglichst viel Handlungsfreiheit zwischen Ost und West gewinne, hielten Schäuble und Lamers dagegen, gerade als autonome mitteleuropäische Macht habe sich Deutschland in zwei Weltkriegen überfordert. Es braucht nicht hinzugefügt zu werden, wie gespenstisch eine solche Debatte anmutet. Aber sie hat stattgefunden. Heute wird uns mit Stoiber ein guter europäischer Onkel präsentiert: Die EU soll ein Bundesstaat werden; das Europaparlament erhält das Budgetrecht; der europäische Rat entscheidet mit Mehrheit... Diese Vorstellungen stehlen Joschka Fischer die Show. Er wird nun zerrieben zwischen dem überzeugten Europäer Stoiber und dem Männerfreund Schröder, der angekündigt hat, Fischers Außenministerium um die Zuständigkeit für EU-Fragen zu amputieren.
Die linke Oppositionspartei PDS hat ihr Wahlprogramm schon am 17. März verabschiedet. Das Programm der PDS war schon immer vom Programm der Regierungsparteien deutlich unterschieden. Die Wahl in Sachsen-Anhalt hat bewiesen, dass jedenfalls ostdeutsche Wähler ihr mindestens so viel "soziale Gerechtigkeit" zutrauen wie der SPD. Sobald dieser Eindruck auch in Westdeutschland entstünde, hätte die SPD ausgespielt. Darauf deutet noch immer wenig hin, aber es gibt manchmal verunsichernde Ereignisse: Ende März wurde Frau Lukrezia Jochimsen, pensionierte Fernseh-Chefredakteurin des Hessischen Rundfunks, für die PDS auf Platz Eins der Landesliste gewählt. Sie wird mit einiger Sicherheit dem nächsten Bundestag angehören. Erst im vergangenen Herbst wurde ihr von Ministerpräsident Roland Koch, CDU, das Hessische Verdienstkreuz verliehen. Wenn das so weiter geht, spielt die PDS auch im Westen bald in der ersten Liga. Wahlkampf-Schwerpunkt der PDS wird die Beschäftigungspolitik sein. Dazu hat ihre "Arbeitsgruppe für Alternative Wirtschaftspolitik" jetzt einen neuen Entwurf vorgelegt, in dem vorgerechnet wird, wie eine Million neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Das versuchen natürlich auch die anderen Oppositionsparteien, aber das besondere Profil der PDS-Politiker besteht darin, dass sie unter "Arbeit" nicht irgendetwas Beliebiges verstehen, sondern Dinge, die einen gesellschaftlichen Nutzen haben: Klimaschutz, Verkehr, die Öko-Agrarwende, den "öffentlich geförderten Beschäftigungssektor" und natürlich den Aufbau Ost. Der Vorstoß ist freilich gerade deshalb in der Bundestagsfraktion der PDS umstritten, weil er diese klare inhaltliche Ausrichtung hat: Das sei "zu grün", sagen manche. "Dabei war ein so gemeinter Umbau auch in PDS-Kreisen lange Zeit in vieler Munde", kommentiert das Neue Deutschland etwas flau.
Die Programme sind so verschieden, dass man nicht wirklich die Reduktion des Wahlkampfs auf sich streitende "Personen", von der jetzt so oft die Rede ist, erwarten kann. Gewiss, es gibt entsprechende Tendenzen. Als Joschka Fischer am 24. April die Wahlkampftaktik der Grünen vorstellte, sagte er, bei der Wahlentscheidung gehe es auch um ihn. Der Mann hat ein antikes Selbstbewusstsein. Schon gleich nach der Wahl in Sachsen-Anhalt hatte Guido Westerwelle getönt, die FDP werde vielleicht doch einen eigenen Kanzlerkandidaten aufstellen. Wer wäre geeigneter als er selbst? Dasselbe Ereignis veranlasste auch Gerhard Schröder erneut zu der Behauptung, die Bundestagswahl sei im wesentlichen eine Personalentscheidung um die Besetzung des Bundeskanzleramts. Doch Edmund Stoiber möchte das anders sehen, und es könnte sein, dass er recht hat. In Bundestagswahlen werden eher Parteien als Spitzenkandidaten gewählt. Da spielen deren Wahlprogramme also eine Rolle. Union und FDP liegen aber schon jetzt nach Umfragen vor SPD und Grünen.
In einer besonders komfortablen Lage befindet sich eigentlich die PDS - wenn sie es nur merkt! Sie könnte nämlich diese Wahlen offensiv mit der Forderung angehen, SPD und Grüne sollte eine Minderheitsregierung bilden, die sich auf wechselnde Mehrheiten stützt. Wann wäre ein solcher Vorschlag schon einmal so plausibel gewesen wie heute, wo jeder vernünftige Mensch sich wünschen muss, dass die PDS Gelegenheit bekommt, eine Unionsregierung zu verhindern und doch mit Stoiber zusammen "Nachteile für den Mittelstand durch Belastung der großen Firmen zu beseitigen"?
Da waren´s nur noch fünf
Geschrieben von
Michael Jäger
Redakteur (FM)
studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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