Ist die SPD im Aufwind? Jedenfalls verkürzt sie den Abstand zur Union, die nun ebenfalls massiv Stimmen einbüßt. Wieder einmal hat Ostdeutschland eine Pionierrolle gespielt: Wie die neuen Länder die letzte Bundestagswahl für Gerhard Schröder entschieden haben, so haben sie jetzt das Zeichen gesetzt, in Landtagswahlen neben der SPD auch die CDU abzustrafen - ein Zeichen, das zur Nachahmung in Westdeutschland reizt.
Vor diesem Hintergrund sind die Anstrengungen interessant, mit denen die SPD aus der Defensive herauszukommen versucht. Darauf, dass sie ihre neoliberale "Reform"-Politik aufgibt, deutet zwar nichts. Aber sie kann versuchen, mit neuen Personen und Ideen, sprich Ideologien zu glänzen. Ja, wenn man glaubt, es sei aussichtslos, die Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau in ein Mäntelchen des Fortschritts zu hüllen, das von neuen Hoffnungsträgern getragen wird, dann unterschätzt man den Einfallsreichtum und die Möglichkeiten eines Mannes wie Franz Müntefering, des SPD-Vorsitzenden. Das fängt mit der Personalpolitik an und hört mit ihr nicht auf. Zielstrebig hat Müntefering jüngere Spitzengenossenen an wichtige Hebel der innerparteilichen Diskussion gesetzt.
So leitet Andrea Nahles, Juso-Vorsitzende in der Lafontaine-Ära, jetzt Sprecherin der Parteilinken, seit dem Sommer eine Arbeitsgruppe zur Bürgerversicherung. Dass sie da die Erstellung eines fortschrittlichen Modells organisiert, mit dem im Wahlkampf gepunktet werden kann, darf man ihr schon zutrauen. Die eher skeptische Haltung des Kanzlers zur Bürgerversicherung ist ja nur den Wenigen bekannt, die intensiv Zeitung lesen. Hauptsache, man zeigt erst einmal soziale Kompetenz und erhebt sich wie ein Leuchtturm, in dem vielleicht die Treppen fehlen, über Angela Merkels Kopfprämienmodell.
Eine andere Arbeitsgruppe wird eine noch wichtigere Rolle spielen, weil sie echtes Neuland betreten müsste, um ihre sehr umfassende Aufgabe zu lösen. Sie soll bis 2006 Konzepte zum europäischen Sozialstaats-Modell entwickeln. Wie kann das nach dem Kahlschlag der "Agenda 2010" gelingen? Müntefering hat Sigmar Gabriel beauftragt. Der frühere Ministerpräsident und jetzige Oppositionsführer in Niedersachsen mag seinen Frust über den Kanzler, dessen Politik ihm Anfang 2003 die Wiederwahl vermasselte, inzwischen besänftigt haben. Umgekehrt können ihm Schröder und Müntefering seine damals laut geäußerte Kritik leicht verzeihen, weil sein jetziger Tatendrang sich auf Vorstellungen zubewegt, die der Linie der Regierung großen Nutzen versprechen.
Gegen Angelsachsen und Christdemokraten
Diese Vorstellungen sind das eigentlich Interessante bei der eingeleiteten Neuaufstellung der SPD. Die Gabriel nahestehende Zeitschrift Berliner Republik, ein Organ der von ihm propagierten "Neuen SPD" jüngerer GenossInnen, hat Ende 2003 als erste in Deutschland den Aufsatz Herkunft und Lebenschancen des dänischen Soziologen Gösta Esping-Andersen veröffentlicht. Der wird seit dem vorigen Jahr, als der damalige Generalsekretär Olaf Scholz ihn in die parteiinterne Diskussion einbrachte, mehr und mehr als der neue Stichwortgeber der SPD nach Antony Giddens erkennbar. Im Juli 2003 hörte der Kanzler seinen Vortrag auf der Londoner Konferenz "Modernes Regieren", Anfang 2004 durfte er schon das zentrale Referat auf einer Parteiklausur der Spitzengenossen in Weimar halten. Wenn Gabriel diesen Mann in seiner Arbeitsgruppe von neuem "entdeckt", kann er Karriere machen.
Von Giddens zu Esping-Andersen, das ist ein Paradigmenwechsel vielleicht nicht in der Sache, auf jeden Fall aber in der Ideologie. Denn für den Erstgenannten hatte die SPD sich nach 1998 erwärmt, weil er Tony Blairs Ratgeber war und weil Gerhard Schröder zunächst den Schulterschluss mit England propagierte, um seine neoliberale Politik plausibel zu machen. Seinen Wahlsieg von 2002 hat er aber nur durch außenpolitische Abgrenzung von Blair und Bush erlangen können. Deshalb ist jetzt ein solcher Stichwortgeber gefragt, mit dessen Hilfe man dieselbe neoliberale Politik als eher außerangelsächsisch verkaufen kann. Dieser regionale Akzent schwingt in der Aufgabenstellung der Gabriel-Kommission, sie solle ein "europäisches" - kontinentaleuropäisches? - Sozialstaats-Modell entwickeln, von vornherein mit. Es geht darum, die Wähler vergessen zu machen, dass ein solches Modell gar nicht neu erfunden werden müsste, hätten Schröder und seinesgleichen es nicht in seiner früheren Gestalt, die als "Rheinischer Kapitalismus" bekannt war, eilfertig über Bord geworfen.
Wenn man näher hinsieht, werden mit dem neuen Modell nicht so sehr die Angelsachsen als die deutschen Unionsparteien in Bedrängnis gebracht. Denn es präsentiert sich als Familienpolitik. "Politik vom Wickeltisch" war eine Popularisierung Esping-Andersens überschrieben, die voriges Jahr in der Zeit erschien. Das ist ein genialer Coup: den Sozialstaat, den die SPD angeblich hochhält, während sie ihn in Wahrheit abbaut, mit dem Hauptfokus traditionell konservativer Politik zu überblenden. Esping-Andersens Idee ist nämlich kurz gefasst die, dass der neue Sozialstaat sich investiv statt umverteilend verhalten soll, indem er Geld nicht erst dann zuschießt, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist - der Erwachsene keine Arbeit mehr hat -, sondern gleich nach seiner Geburt. Die heute und künftig lebenden Erwachsenen müssten angesichts der immer schneller sich verändernden Arbeitsmärkte extrem flexibel werden, um nach jedem verlorenen Job gleich anschließend den nächsten ergattern zu können. Dies setze ein Bildungsniveau voraus, dessen Grundlagen schon im Vorschulalter gelegt werden müssten. Da aber gleichzeitig die Berufstätigkeit der Mütter wünschenswert sei, müsse der Staat ihnen das Erziehen abnehmen, bildungsintensive Kindertagesstätten einrichten und auch bezahlen.
Die außer-, ja fast antiangelsächsische Note erhält das Ganze dadurch, dass Esping-Andersens Modell sich als Politik "gegen soziale Vererbung" präsentiert. Wie er unterstreicht, ist die staatlich finanzierte Kinderbetreuung in Dänemark und Schweden gang und gäbe, und eben dort werde die Klassenzugehörigkeit der Eltern viel weniger an die Kinder weitergegeben als in England und den USA. Im innerdeutschen Parteienclinch werden solche Töne nicht laut. Aber als neue sozialdemokratische Familienpolitik, die Erstaunen und Verwirrung bei der Union hervorruft, hat das Modell seine Geburtsstunde schon hinter sich.
Dänische Verhältnisse
Anfang September brachte Familienministerin Renate Schmidt ein "Tagesbetreuungsausbaugesetz" im Bundestag ein, das mehr Kinderbetreuung außerhalb der Familie in den ersten drei Lebensjahren sicherstellen soll. Das Gesetz will Frauen ermutigen, Berufstätigkeit und Kinderwunsch miteinander zu vereinbaren. Ein Gutachten, das Schmidt bei dem Wirtschaftswissenschaftler Bernd Rürup bestellte, hat sich den familiensoziologischen Teil der Analyse Esping-Andersens zueigen gemacht und klagt: Deutsche Frauen seien seltener berufstätig als skandinavische; seien sie aber berufstätig, hätten sie seltener Kinder. Dem sollen nun die zusätzlichen Betreuungseinrichtungen abhelfen. Im Gegenzug plant die Ministerin eine Kürzung des in ihren Augen nur "sozialmoralisch begründeten" Kindergelds. Die unionsregierten Länder haben das Gesetz im Bundesrat erst einmal zurückgewiesen. Doch sie sind hin- und hergerissen. Gegen die Analyse, die ihrer eigenen alles am Wohl der Wirtschaft messenden Politik entspricht, wissen sie nämlich nichts einzuwenden. Sie wollen aber, sagen sie, weniger staatliche Kinderbetreuung wie in Skandinavien und mehr Betreuung durch Tagesmütter.
Hier einmal angelangt, haben wir den Fluchtpunkt der Argumentation des dänischen Soziologen längst vergessen: dass es darum gehen soll, Erwachsenen zum flexiblen Jobwechsel zu verhelfen und ihnen dadurch die Langzeitarbeitslosigkeit zu ersparen. Das Geld, das die Langzeitarbeitslosen ab Anfang 2005 nicht mehr haben, könnte Schröder ihnen ja deshalb abgezogen haben, weil er es in neue Kindergärten stecken will! So würden sich Umrisse einer neuen Kohärenz sozialdemokratischer Politik abzeichnen.
Nur, was nützt die schönste Wechselkunst, wenn es den Job, zu dem man überwechseln will, gar nicht gibt oder nur für einen Euro pro Stunde? Eben darin, das Problem fehlender Arbeitsplätze in ein Problem mangelnder Wechselfähigkeit der Arbeitsuchenden umzuformulieren, bestand von Anfang an die Lüge der Schröderschen "Arbeitsmarktreform", die durch den neuen Rückgriff auf Esping-Andersen nur neuartig vernebelt wird. Dass der recht dünn argumentiert, sollte eigentlich jedem auffallen. Niedriglohn ist unvermeidbar, sagt er zum Beispiel, aber man soll aus ihm ausbrechen können, und der Erwerb der dazu nötigen Bildung muss im Vorschulalter beginnen. Ja, wenn Niedriglohn unvermeidbar ist, sind dann nicht auch alle unvermeidbar, die ihn beziehen? Wenn da einer ausbricht, muss ein anderer die entstandene Lücke wieder füllen. Das Ergebnis ist gleich Null, und die deutsche Regierung vergeudet Geld, wenn sie es in die Vorschulerziehung steckt, um ein solches Ergebnis zu erzielen.
Aber Esping-Andersens Argumentation wird durch eine mächtige Klammer zusammengehalten: den ständigen Verweis auf das Funktionieren der dänischen Volkswirtschaft. Dort ist die Arbeitslosigkeit niedrig und der sozialstaatliche Standard hoch. Die Frankfurter Rundschau hat kürzlich einen Bericht darüber veröffentlicht, der deutsche Leser nur neidisch machen kann. Dabei gibt es in Dänemark praktisch keinen Kündigungsschutz. Da wird die Jobwechselkunst wirklich gebraucht, die man laut Esping-Andersen schon als Kleinkind erlernen soll. Seine ideologische Eignung für die SPD erhält der Mann aber erst dadurch, dass er die Kehrseite des dänischen Systems nicht betont. Denn die will Schröder nicht übernehmen.
Wer in Dänemark arbeitslos wird, bekommt Arbeitslosengeld bis zu vier Jahren. Es beträgt bei den besonders gefährdeten Niedriglohngruppen 90 Prozent des letzten Einkommens. Und der rechtsliberale Wirtschaftsminister sagt, die Regierung werde diese Unterstützung auf keinen Fall senken. Der Gewerkschaftsverband ist zufrieden, er hat hohe Deregulierung gegen hohe soziale Sicherheit getauscht. Dieses Quidproquo wird auch von den Unternehmern anerkannt. Kurz, es ist in Dänemark wie in vielen europäischen Ländern: Für mehr Flexibilität der Arbeitnehmer gibt es Gegenleistungen. So war es, um ein anderes Beispiel zu nennen, in Frankreich zur Zeit Jospins zu einem Tausch Arbeitnehmerflexibilität gegen Arbeitszeitverkürzung gekommen. Nur in Deutschland sollen die Arbeitnehmer ihre Rechte umsonst hergeben.
Und wenn dazu Sigmar Gabriel auftritt und ihnen Gösta Esping-Andersen vorbetet, sollen sie denken, so gehe es eben überall zu.
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