Das ist keine leere Drohung

Arbeitsplatzverlagerung Deutsche Unternehmen verhalten sich genau so, wie es nach der Kapitallogik zuerwarten ist

Ist Arbeitsplatzverlagerung ein wichtiger Faktor der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland? Von Gewerkschaftsseite wird es häufig bestritten. Auch Bernd Mansel argumentiert im Freitag 32/2005 in diese Richtung. Eine Entgegnung

Mir scheint Mansels Argumentation voller Realitätsleugnung zu sein. Dabei übersehe ich nicht, dass Mansel den Betroffenen nützlich sein will. Er sagt es schon in der Einleitung: Ein massiv stattfindender Produktions-Exodus werde behauptet, weil man in Deutschland die Löhne herunterdrücken wolle. Entweder ihr übt Lohnverzicht oder wir gehen, klinge es den Arbeitern in den Ohren. "Damit die Drohung wirkt, muss die Situation natürlich dramatisch beschrieben werden." Und so viel ist ja wahr: Möchtegern-Erpresser, die ihr Druckmittel nur vortäuschen, soll man ignorieren. Das ist offenbar Mansels Empfehlung. Aber ich kann seine Entlarvung nicht nachvollziehen. Mir scheint, den Erpressten ist besser gedient, wenn wir auf dem Weg zur Gegenstrategie mit einer illusionslosen Einschätzung beginnen.

Die Realitätsleugnung springt bei einer schrittweisen Prüfung der Manselschen Argumentation ins Auge. Zuerst sagt er, die Dramatisierung der Situation arbeite mit Einzelbeispielen, die bei den Rezipienten eine "gefühlte Verlagerungsquote" entstehen ließen. Gleich darauf muss er sich aber doch mit Statistiken auseinandersetzen. Die Quote ist nicht nur gefühlt. Die Aussage freilich, dass nach einer Umfrage von 2003 24 Prozent der Unternehmer in den folgenden drei Jahren Produktion ganz oder teilweise verlagern wollen, mag man auf ein Gefühl dieser Unternehmer zurückführen. So gewinnt Mansel Aufschub durch den Hinweis, "dass die Absicht allein noch keine aussagekräftige Größe ist". Aber schon bei der nächsten Statistik sieht man, er hätte sich den Gefühls-Vorspann sparen können. Zwischen 2000 und 2003 haben 18 Prozent der Industrieunternehmen tatsächlich verlagert, erfahren wir. Nach einer weiteren zitierten Statistik erscheint die Rückverlagerungsquote vergleichsweise gering. Also hat die Verlagerungsbewegung schon begonnen; vor diesem Hintergrund ist die erklärte Absicht, sie fortzuführen, nicht belanglos. Zumal die Unternehmer, was Mansel nicht erwähnt, von der Industrie- und Handelskammer inzwischen offiziell dazu ermutigt werden, und es ihnen durch die EU-Osterweiterung auch sehr viel leichter gemacht worden ist.

Mansels nächstes Argument: "Wie viele Arbeitsplätze betroffen oder wie hoch die damit verbundenen Investitionen sind, bleibt völlig offen." Aber wenig später sagt er: "Ein sehr großer Teil der Verlagerungen - darüber besteht Einigkeit - betrifft die arbeitsintensive Produktion." Also bleibt es nicht "völlig offen". Man kann zwar keine genaue Zahl der verlagerten Arbeitsplätze angeben, aber dass die Zahl beachtenswert sein muss, folgt aus dem, worüber "Einigkeit besteht", nämlich dass jedenfalls arbeitsintensive Produktion betroffen ist. Das scheint Mansel nun selbst einzuräumen, denn plötzlich wirft er die Frage auf, ob die stattfindende Arbeitsplatzverlagerung überhaupt ein Problem sei. Denn: "Ein Unternehmen, das nur auf die Lohnkosten achtet" und deshalb in Länder ausweicht, wo sie niedriger sind, "vermeidet aber auch - und das ist langfristig entscheidend - Rationalisierungsanstrengungen. Durch diese Ersparnis gerät das Unternehmen auf Dauer ins Hintertreffen." Schlussfolgerung: "Ein beträchtlicher Teil der Arbeitsplätze, die aus Deutschland verlagert wurden, wäre, wenn es diesen Ausweg nicht gäbe, ohnehin wegrationalisiert worden."

Nun begreifen wir, warum es Mansel wichtig war, zu behaupten, es sei auch die Höhe der Investitionen, die mit den Verlagerungen verbunden sind, "völlig offen". Wenn das stimmen würde, könnte es ja sein, dass sie zum Beispiel gegen Null tendieren. Dann dürfte man behaupten, solche nichtinvestierenden Unternehmen würden mitsamt ihren Arbeitsplätzen ohnehin verschwinden, ob mit oder ohne Verlagerung. Aber das Argument steht doch auf schwachen Füßen, denn wenn die Investitionshöhe wirklich ganz unbekannt wäre, dürfte man auch die andere Möglichkeit nicht ausschließen, dass die verlagerten Unternehmen nicht nur Lohnkosten einsparen, sondern außerdem noch fleißig investieren. Aber Mansel unterstellt einfach die bequemere Variante: "Ein beträchtlicher Teil" verlagert, ohne investitionsfleißig zu sein. Der andere braucht nicht erwähnt zu werden, befindet sich wohl in der Minderheit. Woher weiß Mansel das? Ist Deutschland nicht Exportweltmeister? Dies bewirken kleine und mittlere, das heißt arbeitsintensive Unternehmen. Sie wären nicht Exportweltmeister, wenn sie nicht investierten. Sie wären überhaupt nicht kapitalistisch, würden sie nicht Kosten sparen, auch Lohnkosten, wo immer es geht. Warum sollten sie nicht verlagern, um im Ausland nicht nur billiger zu entlohnen, sondern auch billiger zu investieren? Letzteres ermöglichen die Dumping-Steuern in osteuropäischen Staaten.

Mansels Schlussargument: "Bei Verlagerungen mit dem Ziel der Marktausweitung und Schaffung von Kooperationen sind unmittelbar keine Beschäftigungseffekte zu beobachten." Klar, denn um im Ausland zu verkaufen und zu kooperieren, wird man nicht Leute aus der heimischen Produktion abziehen. Aber steht nicht gerade die Frage, ob die Produktion selber verlagert wird, zur Debatte? Da erfahren wir in einem einzigen dürren Satz: "Ein Unternehmen, das durch Internationalisierung den Umsatz steigert und sich gleichzeitig um Innovationen bemüht, schafft Arbeitsplätze auch in Deutschland." Das stimmt aber nur, wenn die Innovations-Investitionen im Inland getätigt werden. Mansel hat vorher selbst erklärt, darüber wisse man nichts (die Höhe der Auslands-Investitionen bleibe "völlig offen")!

Das nenne ich eine Gefahr zerreden. Und nun treten wir mal einen Schritt zurück und versuchen einen etwas weniger befangenen Blick auf die Situation. Es gibt die Osterweiterung der EU. Mit ihr entsteht ein Europa, das sich als wirtschaftliche Macht gegen einen anderen Großraum, die USA, behaupten will. Es organisiert sich dafür allenthalben auf neoliberale Weise, wie zum Beispiel der geplanten EU-Verfassung abzulesen ist. Das heißt mit andern Worten, die herrschenden Kräfte wollen die Konkurrenz dadurch bestehen, dass sie den USA ähnlicher werden. In den USA ist es aber immer üblich gewesen, dass Unternehmen in die für sie günstigsten Regionen ziehen. Warum sollten sie auch nicht? Die US-amerikanische Produktionsgeschichte zeigt daher immer wieder den Aufstieg, die Blüte und den Verfall einzelner Regionen. Wenn die EU sich in eine USA wandelt, kann Deutschland eine Verfallszone werden. Das ist keine leere Drohung. Ihr begegnet man nicht durch Realitätsleugnung, auch nicht durch eine deutsche Abschottung, sondern nur so, dass die Arbeiter aller europäischen Regionen gemeinsam für eine andere EU kämpfen.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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