In Berlin ist Karneval. Nachdem die SPD ihren Bürgermeisterkandidaten Wowereit mit Jubel nominiert und auch sein Bekenntnis, er sei schwul und das sei gut so, juchzend beklatscht hatte, schwappte die Sektstimmung abends sogar in Sabine Christiansens Talkshow. Die sollte eigentlich sorgenschwer diskutieren, ob Berlin eine rot-rote Koalition "drohe"! Die ganze Republik konnte zuschauen, wie Eberhard Diepgen es schließlich aufgab, seinen Antikommunismus herunterzubeten, dem längst das Objekt abhanden gekommen ist; es war einfach zu lächerlich. Wowereit trifft die Stimmung der Stadt bestimmt besser, wenn er im Spiegel auf die Frage, ob Diepgen oder der PDS-Fraktionsvorsitzende Wolf der bessere Haushälter sei, antwortet: "Eindeutig Wolf." Es wird Neuwahlen und danach eine Koalition der SPD mit Grünen und PDS geben. Die Bürger sind bereit. Scharen alter Frontstadtkämpfer gegen die "kommunistische Gefahr" - wohl gegen furchterregende Gestalten wie Frau Sahra Wagenknecht? - werden sich außerhalb des 30-Prozent-Turms der CDU nicht zeigen.
Dieser Karneval tanzt selber karnevalistisch aus der Reihe, denn ein Aschermittwoch wird ihm nicht folgen. Zwar ist es denkbar, dass die FDP stark genug ins Abgeordnetenhaus zurückkehrt, um der SPD und den Grünen eine neue Mehrheit auch ohne CDU und PDS zu ermöglichen. Doch die SPD hat schon zu viel Farbe bekannt, als dass sie in diese Richtung noch marschieren könnte. Ihr Generalsekretär Müntefering sagt, eine Koalition mit der PDS in Berlin trage zur Vereinigung Deutschlands bei. Nachdem das einmal ausgesprochen ist, kann die Kanzler-Partei doch nicht umhin, den Beitrag auch wirklich zu leisten. Es ist ein Erfolg der PDS, dass Sozialdemokraten heute so reden, denn sie als erste hat die Koalitionsfrage als Frage der deutschen Vereinigung interpretiert: allen widersprechend, die ihr ein borniertes Interesse nur für Ostdeutschland unterstellten. Eine neue "Rote-Socken-Kampagne" muss die SPD trotzdem nicht fürchten. Es ist statt dessen wahrscheinlich, dass die Neigung, sich mit Emotionen gegen die PDS zu profilieren, selbst in der CDU noch vor dem Wahltag versiegt.
Denn sie kann nicht Stimmung machen, wo keine ist. Das weiß sie, sie ist nicht dumm. Ob auch Diepgen und Landowsky es begreifen, ist schon unwichtig geworden. Wenn ein junger Mann wie Frank Steffel, der CDU-Fraktionsvorsitzende, den frontstädtischen Unsinn noch wiederkäut, zeigt er nur, dass seine Karriere bald zu Ende sein könnte. Und auch Frau Merkel wird ihre erste Reaktion noch reuen: ein rot-rotes Bündnis "zum 40. Jahrestag des Mauerbaus" sei "einfach indiskutabel". Wie phantasielos! Welche Führungsschwäche, über die sich Parteifreunde ohnehin längst ärgern! "Indiskutabel" ist es doch bestimmt nicht, wenn nach 40 Jahren wieder ein Mauerrest fällt. Das darf ruhig am Jahrestag gefeiert werden. Eine Epoche geht da zu Ende. Deutschland vereinigt sich stärker als in der Kohl-Ära. Und das zeigt erst das Ausmaß der Wende, die Berlin jetzt durchlebt. Berlin ist Hauptstadt: von dem, was hier passiert, wird die Republik verändert.
Doch sehen wir genauer hin! Ist die Senatsbeteiligung der Hauptstadt-PDS nun etwa das Vereinigungs-Ereignis schlechthin? Die Frage muss aus zwei Gründen verneint werden. Der erste Grund ist banal. Natürlich hat es andere, wichtigere Vereinigungs-Ereignisse gegeben, so den buchstäblichen Mauerfall und den schwer erkämpften Beschluss, Berlin wieder zur Hauptstadt zu machen. Dann den Solidarpakt Ost, bei dem sich freilich Grenzen des westdeutschen Vereinigungswillens zeigten. Die PDS war da immer schon wichtig als Kritikerin. Ihre Senatsbeteiligung in der Hauptstadt wird es ihr jetzt noch leichter machen, die Aufmerksamkeit der ganzen deutschen Gesellschaft auf den Osten zu lenken. Dadurch, dass ihr Positionsgewinn mit dem Verfall des gegenstandslosen antikommunistischen Geredes einhergeht, gewinnt die Berliner Wende keine größere, aber auch keine geringere Bedeutung als die eines weiteren wichtigen Kettenglieds der Vereinigung.
Der zweite Grund ist weniger banal. Die Senatsbeteiligung der PDS wird auch deshalb nicht das Vereinigungs-Ereignis schlechthin sein, weil zwar jenes Gerede zusammenbrechen, die deutsche Spaltung aber trotzdem fortdauern dürfte. Zunächst einmal werden sich nur die Spaltungslinien verschieben. Dafür spricht die historische Logik. Was sich jetzt abzeichnet, ist cum grano salis aus der Geschichte bekannt: eine Hauptstadt Berlin, die geistig anders tickt als der deutsche Westen und Süden - quer dazu der Umstand, dass in Berlin und im Ruhrgebiet dieselben Kräfte regieren: das gab´s schon einmal in Preußendeutschland. Man unterschätze nicht die nachwirkende Gewalt solcher Strukturen. Sie reproduzieren sich historisch so lange, bis eine Generation an der Macht sie thematisieren und auflösen kann. Von der heutigen SPD und der heutigen Union ist das aber nicht zu erwarten. Vielmehr konzentrieren sie ihre Truppen auf genau die Pole, die sich schon in Preußendeutschland gegenüberstanden: die Union ist im reichen Süden stark, das SPD-Lager im Norden und armen Osten und eben in der Hauptstadt, die nun wieder - vom Süden aus gesehen - die Färbung des Fremdartigen annimmt.
Wer das beobachtet, wird sich wieder fragen, warum Deutschland überhaupt vereinigt werden musste. Was ist denn der Existenzgrund dieser Einstaatlichkeit, die manchmal wie eine freiwillige Zwangsvereinigung aussieht (man muss sie ja nicht gleich mit dem Einheitsprozess zur SED vergleichen)? Auf diese Frage haben die Akteure noch keine überzeugende Antwort gefunden. Aber nur wenn sie eine fänden, könnte die deutsche Vereinigung zu Ende geführt werden.
Und das ist erst der Hintergrund, vor dem sich die Bedeutung der Berliner Wende präzise ermessen lässt. Wenn Wowereit Regierender Bürgermeister wird, steigt ein Akteur ab: die CDU, und ein anderer steigt auf: die PDS; das ist für beide eine Chance. Sie können sich ja nur die Chance ausrechnen, später einmal die SPD zu überbieten und dies jetzt vorzubereiten. Bei der CDU wäre es die Chance, die im radikalen Neuanfang liegt. Denn bei allen Demütigungen der vergangenen Jahre, diese Partei hat ihr Tränental noch nicht erreicht. Die Berliner Niederlage könnte ihr immerhin deutlicher machen, wie isoliert und orientierungslos sie auch unter Frau Merkel geblieben ist. Viel schlimmer als ihre Verfilzung mit irgendeiner Bank ist ihre Verstrickung in den Neoliberalismus, der so gar nicht zu dem Wertkonservatismus passt, den sie zu verkörpern behauptet. Warum wagt sie keine entschiedene wertkonservative Opposition gegen Schröders bedenkenlosen Technik-Optimismus? So könnten andere und sinnvollere Fronten entstehen als die zwischen deutschem Osten, Westen und Süden. Gerade so würde die Vereinigung vorangetrieben. Die CDU muss wohl noch tiefer fallen, bevor sie den Mut fasst, diesen Weg zu gehen. Aber die Berliner Wende ist ihr eine Mahnung.
Die PDS weiß selber, was ihr nächster Beitrag zur deutschen Vereinigung sein müsste: dass sie sich als gesamtdeutsche sozialistische Partei etabliert. Sie tut gut daran, in der Hauptstadt mit der SPD zusammenzugehen. Die bevorstehende Senatsbeteiligung ist zwar nicht billig erkauft. Den Anerkennungsgewinn ihrer selbst und des Ostens bezahlt sie mit mancher neoliberalen Anpassungsleistung. Die freiwillige Tolerierung der Steuerreform, die unfreiwillige der Rentenreform, das waren sicher schon Teile eines "Pakets", in das sie sich von der Schröder-SPD schnüren lassen musste. Aber so wird politische Logik eben vollstreckt: die SPD herrscht, indem sie Konkurrenten mit Konfusionen konfrontiert; die PDS muss es schlucken. Sie muss darauf verzichten, aus der Schweriner Landesregierung auszusteigen, wenn sie der Anerkennung in der Hauptstadt - und damit in Deutschland - näher kommen will. Konfusionen muss man hinnehmen, man muss ihre Auflösung versuchen: das ist die Chance der PDS. Eine andere hat sie eben nicht. Kann sie eine sozialistische Perspektive für Deutschland aufzeigen? Bisher deutet wenig darauf hin. Es ist aber noch nichts verloren. Denn bisher haben die Voraussetzungen gefehlt, um dergleichen auch nur denkbar zu machen. Erst einmal musste es zur Berliner Wende kommen.
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